BT-Drucksache 14/3299

Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets

Vom 10. Mai 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/3299
14. Wahlperiode 10. 05. 2000

Antrag
der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg
van Essen, Paul K. Friedhoff, Rainer Funke, Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus
Haupt, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Heinrich, Walter Hirche, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Jürgen W. Möllemann, Dirk Niebel, Günther
Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, Marita Sehn, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Jürgen Türk und der Fraktion der F.D.P.

Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Budgets zeichnen sich durch einen gravierenden Webfehler aus. Sind sie zu
hoch bemessen, gehen davon Anreize zu einer über das notwendige Maß hin-
ausgehenden Inanspruchnahme aus. Sind sie zu niedrig bemessen, führt das zu
Rationierung, zu einer deutlichen Verschlechterung der Versorgung und der
Qualität und zu Verlagerungen in andere Sektoren, was für das Gesamtsystem
insgesamt mit erheblich höheren Kosten verbunden sein kann. Das gilt auch für
die Arznei- und Heilmittelbudgets. Sie gefährden zunehmend die medizinische
Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutsch-
land. Sie sind verantwortlich dafür, dass Patientinnen und Patienten in den
Arztpraxen nicht mehr alle Arzneimittel und alle Heilmittel, die sie benötigen,
verordnet bekommen. Insbesondere zum Ende des Kalenderjahres reichen die
zur Verfügung gestellten Mittel in weiten Regionen nicht aus, um die Bevölke-
rung adäquat zu versorgen. Es wird in Kauf genommen, dass die Patienten statt
mit innovativen, aber teuren Arzneimitteln mit veralteten Produkten versorgt
werden, die weniger wirksam oder mit größeren Nebenwirkungen verbunden
sind. Im Gegensatz zu einer mit Ausnahmen für sozial Schwache versehenen
Selbstbeteiligung führt diese Praxis dazu, dass Patienten Arzneimittel zu hun-
dert Prozent selbst bezahlen müssen.

Massage-, Krankengymnastik-, Logopädie- und Ergotherapiepraxen werden in
den Ruin getrieben, obwohl der Bedarf unabweisbar ist. Patienten werden ins
Krankenhaus überweisen, weil keine Mittel für eine Verordnung teurer Arznei-
mittel oder Heilbehandlungen zur Verfügung stehen. Schlaganfallpatienten
werden mit hohem finanziellen Aufwand in Stroke-Units versorgt, nur um zu
erleben, dass die im Anschluss daran benötigte Logopädie nicht mehr bezahlt
werden kann.

Drucksache 14/3299 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Es ist unzumutbar, dass die Ärzte mit ihrem eigenen Einkommen dafür in Haft
genommen werden, wenn sie versuchen, ihren Patienten umfassend zu helfen.
Noch weniger akzeptabel ist die Verhängung einer Kollektivstrafe für die Ärz-
teschaft in ihrer Gesamtheit in einer Region. Ein Radiologe, der keine Arznei-
mittel und Heilmittel verordnet, wird dabei voll in Regress genommen. Ein sol-
ches Vorgehen ist auch verfassungsrechtlich bedenklich. Erschwerend kommt
hinzu, dass den Ärzten in den Regionen eine Steuerung des Verordnungsverhal-
tens auferlegt wird, ohne dass die hierfür erforderliche Grundvoraussetzung ei-
ner zeitnahen Übermittlung der Daten des regionalen Verordnungsverhaltens
erfüllt ist.

Besonders perfide ist die Argumentation, die Ärzte dürften den Patienten keine
Leistungen vorenthalten, obwohl ihnen genau das durch das Budget abverlangt
wird. Sie werden vom Gesetzgeber zum Mangelverwalter auf dem Rücken ih-
rer Patienten gemacht, ohne dass auffallen soll, wer dafür verantwortlich ist.
Viel zu lange hat die Politik auf diesen Mechanismus gesetzt.

Die Versuche der alten Koalition, die Arznei- und Heilmittelbudgets zwingend
durch praxistypische Richtgrößen abzulösen, sind an der SPD und Bündnis 90/
Die Grünen im Bundesrat gescheitert. Selbst die der Selbstverwaltung einge-
räumte Möglichkeit zur Ablösung der Budgets durch Richtgrößen, die ohne den
Bundesrat durchsetzbar war, ist nach der Wahl sofort wieder zurückgenommen
und durch zwingende gesetzlich vorgegebene Budgets ersetzt worden.

In den neuen Bundesländern kommt erschwerend hinzu, dass keine Bereit-
schaft vorhanden war, die Ausgangsbasis an die realen Gegebenheiten anzupas-
sen. Auch der unterschiedlichen Morbidität sowie den Unterschieden in der
Versorgungsstruktur ist nicht Rechnung getragen worden. Unbewiesene gebets-
mühlenartig vorgetragene Aussagen über erhebliche Einsparpotentiale bei der
Verordnung angeblich nicht notwendiger oder sogar unwirksamer Arzneimittel
helfen nicht weiter. Selbst wenn es hier noch Spielräume geben sollte, reichen
diese bei weitem nicht aus, um die erhöhten Ausgaben aufgrund von Produkt-
innovationen, aufgrund steigenden Bedarfs wegen der zunehmenden Zahl älte-
rer Menschen und aufgrund der Verlagerung stationärer zu medikamentöser
Behandlung zu kompensieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Arznei- und
Heilmittelbudgets im Interesse der Patientinnen und Patienten abzuschaffen
und durch getrennte Richtgrößen für Arzneimittel und für Heilmittel zu erset-
zen. Diese Richtgrößen müssen den Praxisbesonderheiten Rechnung tragen.
Sie müssen dem einzelnen Arzt die Möglichkeit geben, ohne Sanktionen auch
darüber hinaus Arzneimittel und Heilmittel zu verordnen, wenn das medizi-
nisch geboten ist. Veränderungen in der Zahl und der Morbiditätsstruktur der
Versicherten sind bei der Ermittlung der Richtgrößen ebenso zu berücksichti-
gen, wie sich wandelnde Therapiekonzepte, bei denen Arzneimittelbehandlun-
gen oder Heilmittelbehandlungen stationäre Aufenthalte ersetzen oder verkür-
zen oder sich Veränderungen aufgrund innovativer Produkte ergeben. Auf diese
Weise soll verhindert werden, dass die zurzeit noch schleichende Rationierung
in eine galoppierende Rationierung übergeht.

Berlin, 9. Mai 2000

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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