BT-Drucksache 14/3104

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Heinrich weiterer Abg un der Frak. der F.P.D. -14/678, 14/2942- chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts

Vom 5. April 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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3104

14. Wahlperiode

05. 04. 2000

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Kersten Naumann, Angela Marquardt, Eva-Maria
Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Rolf Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi
und der Fraktion der PDS

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Heinrich,
Ulrike Flach, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
– Drucksache 14/678 und 14/2942 –

Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der F.D.P. erklärt die
Bundesregierung, einen ausgewogenen Kurs zwischen nutzbaren Innovati-
onspotentialen der Bio- und Gentechnik und dem Aspekt der Risikovorsorge
im erforderlichen Umfang zu verfolgen. „Der Schutz von Mensch und Um-
welt hat oberste Priorität“, heißt es. Weltweit erreicht die Risiko-Begleitfor-
schung lt. Umweltbundesamt nur 1 %, in Deutschland nimmt sie 15 % an
der Gentechnik-Forschung ein. Bei der Mehrheit aller Freisetzungsversuche
in der Welt findet keine Risikobegleitforschung statt. Hier bestehen massive
Forschungsdefizite; eine gleichwertige Verteilung von Forschungsmitteln
über Sicherheits-, Vorsorge- und zielorientierter Forschung ist nicht gege-
ben. Auf Kosten einer nachholenden Entwicklung der grünen Gentechnik
wird die sozialwissenschaftliche Forschung unverhältnismäßig einge-
schränkt. Die „Forschung zum Einfluss von Umweltfaktoren auf Krank-
heitsentstehung und -entwicklung“ (Drsache 14/2300 S. 27/28) findet noch
seltener eine angemessene Berücksichtigung. Tatsächlich zeigt sich auch im
Vergleich zu anderen Bereichen eine überdurchschnittliche staatliche Förde-
rung zielorientierter Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung bis
hin zur wirtschaftlichen Etablierung. Dabei erfolgen Forschungs- und Inves-
titionsförderungen (z. B. Firmengründungen und Ausgliederungen aus der
Forschung) aus den Haushalten für Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und
Landwirtschaft in noch größeren Dimensionen als zu damaliger Zeit für die
Atomkraftenergiegewinnung; deren Profite werden jedoch auch hier privati-
siert. Die Aufstockung der Projektmittel um mehr als 10 % im Jahr 2000 im
Bildungs- und Forschungs-Haushalt, um mehr als 5 % im Landwirtschaft-
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Haushalt und in anderen Haushalten bei gleichzeitiger Absenkung der Aus-
gaben für Verbraucherschutzorganisationen und Verbraucheraufklärung, für
alternative Forschung in betroffenen Wirtschaftsbereichen, für Entwick-
lungsarbeit etc. zeigen die vorrangigen wirtschaftlichen Interessen der Bun-
desregierung auf.

2. Die Bundesregierung macht nicht deutlich, worin die Spezifik der Gentech-
nik liegt: Es gibt zwei schlüssige Indikatoren für das immense Potenzial der
Gentechnologie:

– das Tempo der internationalen Innovationstätigkeit und damit das im-
mense Potenzial zur Kapitalkonzentration sowie

– die Zunahme der mit biotechnologisch erzeugten Produkten erzielten
Wertschöpfung.

Die Gentechnik im Agro-Business- und Life-Sciences-Bereich führt über
Kartellbildungen und Fusionen zu einer immensen Beschleunigung der Aus-
bildung monopolkapitalistischer Strukturen. Unter dem Deckmantel der
Vorteile für den Verbraucher, für die Umwelt und zur Arbeitsplatzschaffung
heißt das Ziel: Erhöhung der Produktivität unter Verminderung der so ge-
nannten Faktorkosten inkl. der notwendigen Arbeit zur Erhöhung der
Kapitalverwertung und zur Sicherung von Märkten, Marktanteilen und Pro-
fiten. Im Gegensatz zu anderen Technologien ist für die Gentechnik spezi-
fisch, dass sie direkt, in kürzester Zeit und in alle Natur- und Lebensbereiche
eingreift. Prozesse auf der Basis gentechnisch veränderter Organismen bzw.
deren Transgene sind bei einer Manifestation in der Umwelt irreversibel und
in der Regel nicht zurückholbar. Wegen der Komplexität ökologischer Zu-
sammenhänge und der Nichtrückholbarkeit ist das Risikopotenzial bei ei-
nem Entweichen transgener Genome in die Umwelt besonders hoch.

3. Die Bundesregierung verspricht sich großen Nutzen für die Industrie und
Landwirtschaft, für das öffentliche Gesundheitswesen, für die Verminde-
rung von Umweltverschmutzungen sowie für die weltweite Bekämpfung
von Hunger, Armut und die Vermeidung, Heilung und Linderung schwerer
Erkrankungen. Diesem potenziellen Nutzen werden die Risiken nicht bzw.
nur verallgemeinert gegenübergestellt. So verursacht zum Beispiel einseitig
wirtschaftlich motivierte Pflanzen- und Tierzüchtung eine weitere Sorten-
verarmung. Niemand kann ausschließen, dass gentechnisch veränderte Or-
ganismen in bestimmten Anwendungsbereichen nicht doch zu bisher unbe-
kannten Schäden für Umwelt und Mensch führen. Funktionen und
Wirkungsweisen von Genen sind durch Multikausalität, Nicht-Linearität
und Wechselwirkungen paralleler Prozesse gekennzeichnet, deren Komple-
xität und Zusammenspiel nicht annähernd ausreichend untersucht worden
sind. Die Abschätzung von Nutzen und Risiken ist – wie sich auch bei ande-
ren Risikotechnologien zeigte – mit erheblichen Prognoseunsicherheiten
verbunden.

4. Mit den Argumenten der Lösung gesellschaftlicher Probleme, wie dem
Welthungerproblem und der Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze
(„Linderung des Problems der Arbeitslosigkeit“, Frage 3), die bereits von
der FAO, dem Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundesta-
ges und anderen seriösen wissenschaftlichen Einrichtungen widerlegt sind,
setzt die Bundesregierung auf eine wirtschaftsorientierte Erleichterung und
auf eine breite Erzielung von Akzeptanz. Nicht die ökologische Sicherheit
für die Umwelt, die gesundheitliche Vorsorge für die Verbraucher und eine
wirtschaftliche Gewähr für die Landwirtschaft und Life-Science-Unterneh-
men auf lange Sicht stehen tatsächlich im Vordergrund, sondern in erster Li-
nie soll der Anschluss deutscher Technologien und Konzerne im Wettlauf
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mit der Zeit an den Weltmarkt gesichert werden, um bei Separierung und
Erstdokumentation von Erfolgen in den vorderen Reihen zu agieren und den
Vorsprung der USA wieder einzuholen. In Deutschland betrug der Zuwachs
von (kleineren und mittleren) Bio-Unternehmen 1998 28 %, im europäi-
schen Durchschnitt nur 14 %. Über die hohe Zahl von Insolvenzen in diesen
Bereichen werden keine Angaben gemacht. Auch nicht darüber, dass wirt-
schaftliche Erfolge bei den Pharma- und Agro-Business-Riesen zu wirt-
schaftlichen Risiken bei den Landwirten führen bzw. langfristig in kontra-
produktives Wirtschaften umschlagen können.

5. Die Revision der Richtlinie 90/220/EWG über die absichtliche Freisetzung
genetisch veränderter Organismen in die Umwelt wird maßgeblich durch die
deutsche Rats- und Kommissionsmitgliedschaft befördert. Ein Großteil von
Änderungsvorschlägen des Europäischen Parlaments ist in erster Lesung
nicht in den Gemeinsamen Standpunkt des Rates übernommen worden.
Diese betreffen insbesondere Sicherheitsfragen, Haftungsrechte und Haft-
pflichtversicherungen für etwaige Gesundheits- und Umweltschäden, Sank-
tionen gegen die unbeabsichtigte Freisetzung gentechnisch veränderter Or-
ganismen, Untersuchungen zu sozioökonomischen Kosten und Vorteilen,
das konsequente Verbot der Nutzung und Anwendung antibiotikaresistenter
Gene, Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der Kommission, dass Gen-
übertragungen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt
verhindert werden, sowie wichtige Regelungen zu Handelsfragen mit Dritt-
staaten u. a. Auch die Bundesregierung unterstützt nicht diese Erweiterung
von Sicherheits- und Umwelthaftungsfragen, will aber gleichzeitig das
Nachzulassungs-Monitoring ansteuern. Des Weiteren beabsichtigt die Bun-
desregierung, „die im geänderten EG-Recht vorgesehenen Verfahrenser-
leichterungen grundsätzlich im deutschen Gentechnikrecht nachzuvollzie-
hen.“ (Frage 9 und 10)

6. Der Forderung nach mehr Sicherheit mit Blick auf Langzeitrisiken soll über
Nachzulassungs-Monitoring nach dem Inverkehrbringen, d. h. nach der Zu-
lassung der gentechnisch veränderten Organismen für die konventionelle
Nutzung in der Landwirtschaft und in Lebensmitteln nachgekommen wer-
den. Es bleibt ein Geheimnis der Bundesregierung, wie mit der so genannten
Beschränkung auf maximal 10 Jahre für das Inverkehrbringen (kommerzi-
elle Nutzung und konventionelle Freisetzung) von gentechnisch veränderten
Organismen das Sicherheitsniveau für Mensch und Umwelt „deutlich“ an-
gehoben werden kann. Damit werden Verbraucher gegen ihren Willen vor
vollendete Tatsachen gestellt, obwohl Sicherheitsrisiken nicht abgeklärt
sind. Auch die Argumentation zur Kennzeichnung, um damit der Entschei-
dungsfreiheit der Verbraucher Rechnung zu tragen, ist eine Beruhigungs-
pille zur Gewöhnung der Verbraucher und zur Erhöhung ihrer Akzeptanz, da
die Wirtschafts- und Verfahrensweise als solche nicht zu kennzeichnen ist
(vollzogen jedoch beispielsweise beim ökologischen Landbau).

7. Bei den Änderungsdiskussionen und Debatten zu den Richtlinien und Ge-
setzgebung zur Handhabung und Freisetzung von gentechnisch veränderten
Organismen steht immer wieder die Forderung nach mehr Sicherheit, ins-
besondere auf unerkannt bleibende Langzeitwirkungen, nach mehr Transpa-
renz und nach mehr Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Die rechtli-
chen Rahmenbedingungen zur Sicherstellung eines hohen Niveaus zum
Schutze der Verbraucher werden, wie die Diskussionen in EU-Gremien zur
Freisetzungs- und Kennzeichnungsrichtlinie und um das SPS-Abkommen
im Rahmen der WTO zeigen, zwar in den allgemeinen Teil gestellt aber
durch weiterführende Regelungen unterlaufen bzw. ausgehebelt. Das Vor-
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sorgeprinzip wird zunehmend Zielobjekt wirtschaftlicher Angriffe und ver-
baler Auslegungen.

8. An keiner Stelle geht die Bundesregierung darauf ein, welche kritischen
Entwicklungen sich in den letzten Jahren und Monaten in der Welt hinsicht-
lich konkreter wirtschaftlicher, ökologischer und sozioökonomischer Risi-
ken im Bereich der Landwirtschaft vollziehen, so z. B. in Brasilien (staatli-
che Förderung zur Zerstörung von Gen-Soja-Feldern und gesetzliches
Verbot des Anbaus), aber auch in den USA (Kartellklage von Bauern gegen
Monsanto; Klage von 26 Verbraucher- und Umweltorganisationen gegen die
oberste amerikanische Lebensmittelzulassungsbehörde; freiwillige Reduk-
tionen des kostspieligeren und risikoreicheren Gen-Pflanzen-Anbaus durch
Bauern um bis zu 20 %; Erlass von Anbaubeschränkungen – so genannte
gentechfreie Refugien – durch die amerikanische Umweltbehörde EPA zur
Verhinderung der schnellen Resistenzentwicklungen bei Schadinsekten um
20 % (Bt-Mais) bis 50 % (Bt-Baumwolle); Importverbote in vielen Ländern
bzw. einen Handel nur unter Kennzeichnung der Fracht und der Lebensmit-
tel etc.) und in anderen Ländern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. sich dem Moratorium anderer westeuropäischer Staaten hinsichtlich der
Freisetzung gentechnisch manipulierter Organismen anzuschließen und die
gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Gentechnik keine
konventionelle Anwendung in der Landwirtschaft erfährt.

2. nur die Risikoforschung öffentlich zu fördern, d. h. die Mittel bezüglich Ur-
sache-Wirkungsbeziehungen und zum komplexen Zusammenwirken von
Genen und Umwelt, zum Gentransfer zwischen verschiedenen Organismen
(Mikroorganismen, Pflanze, Tier, Mensch) und zur Wirkungsweise auf öko-
logische Gleichgewichte einzustellen. Diese Forschungen sind so zu verket-
ten, dass gesicherte Beweisketten (z. B. Einbeziehung in den Gesamtmecha-
nismus von Allergien, Einflüsse auf das Immunsystem, Schwellenwerte für
toxische Wirkungen, insbesondere im Zusammenhang mit Functional-Food
etc.) nachvollzogen werden können. Des Weiteren sind Risiken nicht nur auf
dem naturwissenschaftlichen Gebiet, sondern auch unter Einbeziehung geis-
teswissenschaftlicher (sozioökonomischer, entwicklungspolitischer, ethi-
scher etc.) Untersuchungen zu fördern.

3. die von der Bundesregierung eingesetzten Mittel zur Aufklärung dahinge-
hend zu nutzen, dass eine allseitige Aufklärung und Bildung bezüglich der
Gentechnik und nicht nur zur einseitigen Erhöhung der Verbraucherakzep-
tanz erfolgt. Auch Aufklärungsbroschüren und das „Gläserne Labor“ insbe-
sondere für Schülergruppen sind zur Ausbildung eines kritischen Bewusst-
seins in der Öffentlichkeit einzusetzen. Den Verbrauchern und -innen ist
durch umfassende Information und ein ausreichendes alternatives Angebot
die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Entscheidung über die Vor-
und Nachteile der Gentechnik einzuräumen. Die gekürzten Mittel für Ver-
braucherschutzverbände und Verbraucherorganisationen sind zu diesem
Zweck wieder anzuheben.

4. die Regelungen des Patent- und Urheberrechts dahingehend zu korrigieren,
dass Patentierungen von Genen und Lebewesen nicht erteilt werden können.
Eine Patentierung genomischen Materials, genomischer Informationen oder
von lebensfähigen Systemen würde ausschließen, dass eine breitere wissen-
schaftliche Öffentlichkeit an den Ergebnissen biotechnologischer/moleku-
larbiologischer Arbeiten teilhaben könnte.
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5. den in Artikel 20a GG – Grundgesetz – verankerte Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen und in § 1 GenTG – Gentechnikgesetz – festgehaltene
Verbraucherschutz zur Ausgangshaltung für das Vorsorgeprinzip zu ma-
chen. Das Vorsorgeprinzip ist entgegen den Versuchen der wirtschaftlichen
und politischen Protagonisten vor verbalen und rechtlichen Auslegungen zu
schützen und konsequent präventiv auf jeglichen wissenschaftlich begrün-
deten Anfangsverdacht anzuwenden.

6. das GenTG dahingehend zu ändern, dass transgenen Organismen mit einem
Antibiotikaresistenzgen prinzipiell keine Zulassung zur Freisetzung erteilt
werden kann. Gleiches ist auf die Verwendung von gentechnisch hergestell-
ten oder veränderten Leistungsförderern wie Antibiotika und Hormonen zu
beziehen.

7. zum Schutz der weltweiten Artenvielfalt ist seitens der Bundesregierung da-
für Sorge zu tragen, dass der Monopolisierung der Sortenvielfalt Einhalt ge-
boten wird, um auch späteren Generationen die Nutzung der genetischen
Vielfalt unserer Kulturpflanzen zu erhalten. Vereinzelte Genbanken in den
Industrieländern können das für die Vielfalt der Kulturen in der Welt nicht
leisten.

8. sich im Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass die berechtigte Forderung
des Europäischen Parlaments zur Einführung eines EU-weiten Umwelthaf-
tungsrechts und zur Aufnahme der Umwelthaftung und Haftung für jegli-
chen Gesundheitsschaden in die Freisetzungsrichtlinie 90/220/EWG auf-
bzw. übernommen wird.

Berlin, den 30. März 2000

Kersten Naumann
Angela Marquardt
Eva-Maria Bulling-Schröter
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Ilja Seifert
Rolf Kutzmutz
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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