BT-Drucksache 14/3061

Stellung eines SGB IX in einem einheitlichen Behindertenrecht (II)

Vom 27. März 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

27. 03. 2000

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Klaus Grehn, Dr. Heidi Knake-Werner,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Stellung eines SGB IX in einem einheitlichen Behindertenrecht (II)

Die Parteien der Regierungskoalition hatten mit der Koalitionsvereinbarung
angekündigt, in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Behindertenrecht zu
schaffen. Dazu wurden Gespräche mit Behinderten- und Wohlfahrtsverbänden
sowie Leistungsträgern und -erbringern auf verschiedenen Ebenen durchge-
führt. Seit Herbst 1999 liegt die überarbeitete Fassung eines Eckpunktepapiers
für ein Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Recht der Rehabilitation“ vor,
das von der Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik erarbeitet und vom
Bundeskabinett bestätigt wurde und die Grundlage für einen im Frühsommer
vorzulegenden Referentenentwurf der Bundesregierung darstellen soll.

Das Anliegen der Bundesregierung, das bestehende unübersichtliche Rehabili-
tationsrecht in einem SGB IX zu ordnen und besser aufeinander abzustimmen,
wird von den o. g. Verbänden nahezu einhellig begrüßt. Mit dem genanten Vor-
haben der Bundesregierung verbindet der überwiegende Teil der in Verbänden
und Selbsthilfegruppen zusammengeschlossenen Menschen mit Behinderun-
gen jedoch auch eine spürbare Verbesserung ihrer gesetzlichen Rechte und der
damit verbundenen Leistungen. (Beispielhaft sei hier nur auf die Stellung-
nahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Gesamtverband e.V. vom 17. Ja-
nuar 2000 verwiesen.)

Bisher bleibt aber offen, ob mit dem von der Bundesregierung konzipierten
SGB IX das Benachteiligungsverbot in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgeset-
zes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ rechtlich
verbindlich genug auszugestalten und die soziale Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen nachhaltig zu fördern ist. Diese Frage bleibt auch deshalb of-
fen, weil die Bundesregierung in der Beantwortung unserer Kleinen Anfrage
(Antwort: Drucksache 14/2308) ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behin-
derungen ausdrücklich als „nicht notwendig“ bezeichnet. In Verbänden und
Selbsthilfegruppen wird die Sorge laut, dass mit der Verabschiedung eines
SGB IX sogar effektiv Leistungsverschlechterungen verbunden sein könnten.

Verschiedene Behindertenorganisationen, Menschen mit Behinderungen, ihre
Angehörigen sowie Vertreterinnen bzw. Vertreter von Behinderteneinrichtun-
gen wenden sich ebenfalls in persönlichen Gesprächen, in Briefen und Peti-
tionen mit Fragen an uns, die Inhalte, Wirkungskraft, Zeitrahmen und finan-
zielle Auswirkungen der Ausgestaltung eines einheitlichen Behindertenrechts
betreffen.
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Die von uns in diesem Zusammenhang in der Kleinen Anfrage „Stellung eines
SGB IX in einem einheitlichen Behindertenrecht“ (Drucksache 14/2723) vom
16. Februar 2000 aufgeworfenen Fragen 2 (Schnittstellen zwischen SGB IX
und anderen Gesetzen /Verordnungen), 3 (Verständnis der Begriffe „Behinde-
rung“ und „Rehabilitation“), 4 (Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem
BSHG und Befreiung vom Nachranggrundsatz), 5 (Erhalt, Ausbau leistungs-
rechtlicher Regelungen), 6 (persönliches Budget), 9 (Regelung des Hinzuver-
dienstes bei Erwerbstätigkeit) wurden in der Antwort der Bundesregierung
(Drucksache 14/2880) vom 9. März 2000 nicht konkret, sondern lediglich sum-
marisch unter Verweis auf den am 23. Februar 2000 im Ausschuss für Arbeit
und Soziales verabschiedeten interfraktionellen Entschließungsantrag „Die
Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische
und gesellschaftliche Aufgabe“ (Drucksache 14/2237, Beschlussempfehlung:
Drucksache 14/2913 vom 9. März 2000), auf das o. g. Eckpunktepapier und auf
Antworten der Bundesregierung auf einschlägige parlamentarische Anfragen
beantwortet.

Wir fragen daher die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Schnittstellen für die Harmonisierung und Schaffung eines
einheitlichen Behindertenrechts sieht die Bundesregierung zwischen dem ge-
planten SGB IX und anderen, Menschen mit Behinderungen betreffenden
Gesetzen, wie z. B. Schwerbehindertengesetz (SchwbG), Bundessozialhilfe-
gesetz (BSHG), Beamtenversicherungsordnung (BVO), Beamtenversiche-
rungsgesetz (BeamtVG), Reichsversicherungsordnung (RVO), Heimgesetz,
Betreuungsgesetz, Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG), RehaAnglG,
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und den anderen SGB?

In welcher Weise soll dabei die bisher vorhandene Ungleichbehandlung ver-
schiedener Gruppen von Menschen mit Behinderungen, die sich lediglich
auf die jeweilige Behinderungsspezifik oder die Art der Entstehung der Be-
hinderung gründet, beseitigt und durch die Anwendung des Finalitätsprin-
zips ersetzt werden?

2. In welcher Weise soll nach Ansicht der Bundesregierung gewährleistet
werden, dass die Begriffe „Behinderung“ und „Rehabilitation“ in einem
SGB IX so verwendet werden, dass die bisherige „defektorientierte Sicht-
weise“ von Menschen mit Behinderung aufgegeben und im Sinne des
grundgesetzlichen Benachteiligungsverbots der behinderte Mensch zum ak-
tiv handelnden Subjekt mit eigenen Ansprüchen wird?

3. Auf welche Weise will die Bundesregierung die Eingliederungshilfe aus
dem BSHG herauslösen und vom Nachranggrundsatz befreien, ohne gegen
die Rechtssystematik der Grundsätze der Sozialhilfe zu verstoßen?

a) Welche konkreten Standpunkte der Sozialhilfeträger und der kommu-
nalen Spitzenverbände sind der Bundesregierung in diesem Zusammen-
hang bekannt und wie berücksichtigt sie diese bei der Erarbeitung eines
SGB IX?

b) Wie bewertet die Bundesregierung die Anregung, als ersten Schritt die
lebenslange Heranziehung von Eltern zum Lebensunterhalt ihrer behin-
derten Kinder abzuschaffen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung die Anregung, eventuelle Erbschaften
behinderter Menschen nicht mehr heranzuziehen (beispielsweise, um den
Platz in der Werkstatt für Behinderte zu bezahlen) bzw. den entsprechen-
den Freibetrag auf mindestens 60 000 DM anzuheben?
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4. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zum Erhalt und zum Ausbau
leistungsrechtlicher Regelungen für Menschen mit Behinderung, damit
deren soziale Teilhabe ohne Benachteiligungen und in menschenwürdiger
Form gesichert werden kann, wenn sie im und mit dem SGB IX keine
(weiteren) Nachteilsausgleiche regeln will?

5. Welche konkreten Erkenntnisse, Fragen und Inhalte für eine persönliche
Budgetierung prüft die Bundesregierung und welche favorisiert sie in die-
sem Zusammenhang?

a) Wie berücksichtigt sie dabei den Grundsatz „ambulant vor stationär“?

b) Wie soll die individuelle Bedarfsdeckung in den unterschiedlichen
Lebensbereichen geregelt werden?

c) Welche Regelungen sind vorgesehen, um das individuelle Wunsch- und
Wahlrecht weitestgehend uneingeschränkt zu gewährleisten und finan-
ziell abzusichern?

d) Welche kritischen Punkte, die nicht in eine bundesweite Regelung zu
übernehmen sind, sieht die Bundesregierung bei dem in Rheinland-Pfalz
praktizierten Modell des „persönlichen Budgets“?

6. Welche Regelungen sollen nach Ansicht der Bundesregierung im SGB IX
oder in anderen Gesetzen, Verordnungen etc. getroffen werden, um durch
Aufhebung von Begrenzungen für den Hinzuverdienst Menschen mit Behin-
derungen zusätzliche Möglichkeiten einzuräumen, durch eigene Erwerbs-
tätigkeit ein selbstbestimmtes Leben finanziell abzusichern?

Berlin, den 27. März 2000

Dr. Ilja Seifert
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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