BT-Drucksache 14/2723

Stellung eines SGB IX in einem einheitlichen Behindertenrecht

Vom 16. Februar 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

16. 02. 2000

Kleine Anfrage

der Abgeordneten der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Klaus Grehn,
Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Stellung eines SGB IX in einem einheitlichen Behindertenrecht

Die Parteien der Regierungskoalition hatten mit der Koalitionsvereinbarung
angekündigt, in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Behindertenrecht zu
schaffen. Dazu wurden Gespräche mit Behinderten- und Wohlfahrtsverbänden
sowie Leistungsträgern und -erbringern auf verschiedenen Ebenen durchge-
führt. Seit Herbst 1999 liegt die überarbeitete Fassung eines Eckpunktepapiers
für ein Sozialgesetzbuch IX Recht der Rehabilitation vor, das von der Koaliti-
onsarbeitsgruppe Behindertenpolitik erarbeitet und vom Bundeskabinett bestä-
tigt wurde und die Grundlage für einen im Frühsommer vorzulegenden Refe-
rentenentwurf der Bundesregierung darstellen soll.

Das Anliegen der Bundesregierung, das bestehende unübersichtliche Rehabili-
tationsrecht in einem Sozialgesetzbuch IX zu ordnen und besser aufeinander
abzustimmen, wird von den o. g. Verbänden nahezu einhellig begrüßt. Mit dem
genannten Vorhaben der Bundesregierung verbindet der überwiegende Teil der
in Verbänden und Selbsthilfegruppen zusammengeschlossenen Menschen mit
Behinderungen jedoch auch eine spürbare Verbesserung ihrer gesetzlichen
Rechte und der damit verbundenen Leistungen. (Beispielhaft sei hier nur auf
die Stellungnahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Gesamtverband e.V.
vom 17. Januar 2000 verwiesen.)

Bisher bleibt aber offen, ob mit dem von der Bundesregierung konzipierten
SGB IX das Benachteiligungsverbot in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grund-
gesetzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“
rechtlich verbindlich genug auszugestalten und die soziale Teilhabe von Men-
schen mit Behinderungen nachhaltig zu fördern ist. Diese Frage bleibt auch
deshalb offen, weil die Bundesregierung in der Beantwortung unserer Kleinen
Anfrage (Antwort: Drucksache 14/2308) ein Leistungsgesetz für Menschen mit
Behinderungen ausdrücklich als „nicht notwendig“ bezeichnet. Zwar zirkulie-
ren erste Vorentwürfe für ein Gleichstellungsgesetz (bzw. Antidiskriminie-
rungsgesetz), es liegt jedoch noch immer kein diskutierbarer, offizieller Ent-
wurf der Bundesregierung vor. In Verbänden und Selbsthilfegruppen wird die
Sorge laut, dass mit der Verabschiedung eines SGB IX sogar effektiv Leis-
tungsverschlechterungen verbunden sein könnten.

Verschiedene Behindertenorganisationen, Menschen mit Behinderungen, ihre
Angehörigen sowie Vertreterinnen bzw. Vertreter von Behinderteneinrichtun-
gen wenden sich ebenfalls in persönlichen Gesprächen, in Briefen und Petitio-
nen mit Fragen an uns, die Inhalte, Wirkungskraft, Zeitrahmen und finanzielle
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Auswirkungen der Ausgestaltung eines einheitlichen Behindertenrechts betref-
fen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung Auffassungen verschiedener Behinder-
tenverbände, dass mit dem SGB IX zwar ein erster wichtiger Schritt zur
Durchsetzung des im Grundgesetz festgeschriebenen Benachteiligungsver-
bots gegangen werden kann, seine umfassende Durchsetzung im Sinne eines
einheitlichen Behindertenrechts aber dringend der Ergänzung durch ein
Gleichstellungsgesetz bedarf?

a) Welche Schritte wurden von der Bundesregierung eingeleitet, um in Ver-
bindung mit der Arbeit an einem SGB IX ergänzend bzw. parallel ein
Gleichstellungsgesetz zu erarbeiten und vorzulegen?

b) Wie ist der Stand der Arbeiten an einem solchen Gleichstellungsgesetz
einzuschätzen und wann ist mit der Vorlage eines Entwurfs zu rechnen?

2. Welche konkreten Schnittstellen für die Harmonisierung und Schaffung
eines einheitlichen Behindertenrechts sieht die Bundesregierung zwischen
dem geplanten SGB IX und anderen, Menschen mit Behinderungen betref-
fenden Gesetzen, wie z. B. Schwerbehindertengesetz (SchwbG), Bundes-
sozialhilfegesetz (BSHG); Beamtenversicherungsordnung (BVO), Beam-
tenversicherungsgesetz (BeamtVG), Reichsversicherungsordnung (RVO),
Heimgesetz; Betreuungsgesetz, Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG);
Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (Reha-
AnglG), Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und den anderen Sozial-
gesetzbüchern?

In welcher Weise soll dabei die bisher vorhandene Ungleichbehandlung ver-
schiedener Gruppen von Menschen mit Behinderungen, die sich lediglich
auf die jeweilige Behinderungsspezifik oder die Art der Entstehung der
Behinderung gründet, beseitigt und durch die Anwendung des Finalitäts-
prinzips ersetzt werden?

3. In welcher Weise soll nach Ansicht der Bundesregierung gewährleistet
werden, dass die Begriffe „Behinderung“ und „Rehabilitation“ in einem
SGB IX so verwendet werden, dass die bisherige so genannte „defektorien-
tierte Sichtweise“ von Menschen mit Behinderung aufgegeben und im Sinne
des grundgesetzlichen Benachteiligungsverbots der behinderte Mensch zum
aktiv handelnden Subjekt mit eigenen Ansprüchen wird?

4. Auf welche Weise will die Bundesregierung die Eingliederungshilfe aus
dem BSHG herauslösen und vom Nachranggrundsatz befreien, ohne gegen
die Rechtssystematik der Grundsätze der Sozialhilfe zu verstoßen?

a) Welche konkreten Standpunkte der Sozialhilfeträger und der Kommu-
nalen Spitzenverbände sind der Bundesregierung in diesem Zusammen-
hang bekannt und wie berücksichtigt sie diese bei der Erarbeitung eines
SGB IX?

b) Wie bewertet die Bundesregierung die Anregung, als ersten Schritt die
lebenslange Heranziehung von Eltern zum Lebensunterhalt ihrer behin-
derten Kinder abzuschaffen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung die Anregung, eventuelle Erbschaften
behinderter Menschen nicht mehr heranzuziehen (beispielsweise, um den
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Platz in der Werkstatt für Behinderte zu bezahlen) bzw. den entsprechen-
den Freibetrag auf mindestens 60 000 DM anzuheben?

5. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zum Erhalt und zum Ausbau
leistungsrechtlicher Regelungen für Menschen mit Behinderung, damit
deren soziale Teilhabe ohne Benachteiligungen und in menschenwürdiger
Form gesichert werden kann, wenn sie im und mit dem SGB IX keine (wei-
teren) Nachteilsausgleiche regeln will?

6. Welche konkreten Erkenntnisse, Fragen und Inhalte für eine persönliche
Budgetierung prüft die Bundesregierung und welche favorisiert sie in die-
sem Zusammenhang?

a) Wie berücksichtigt sie dabei den Grundsatz „ambulant vor stationär“?

b) Wie soll die individuelle Bedarfsdeckung in den unterschiedlichen
Lebensbereichen geregelt werden?

c) Welche Regelungen sind vorgesehen, um das individuelle Wunsch- und
Wahlrecht weitestgehend uneingeschränkt zu gewährleisten und finanzi-
ell abzusichern?

d) Welche kritischen Punkte, die nicht in eine bundesweite Regelung zu
übernehmen sind, sieht die Bundesregierung bei dem in Rheinland-Pfalz
praktizierten Modell des „persönlichen Budgets“?

7. Welche zusätzlichen Belastungen ergeben sich nach Erkenntnis der Bundes-
regierung für Menschen mit Behinderung aus dem Haushaltssanierungs-
gesetz und der ersten und zweiten Stufe der ökologischen Steuerreform und
wie will sie diese Belastungen kompensieren?

a) Welche Vorstellungen verfolgt die Bundesregierung, um in einem SGB
IX oder in einem anderen Gesetz Vorkehrungen zu treffen, damit durch
eine Kompensationsklausel zusätzliche Belastungen, die auf Grund ande-
rer gesetzlicher Bestimmungen zu einer besonderen Benachteiligung von
Menschen mit Behinderung führen können, ausgeschlossen werden?

b) Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung in diesem Zusam-
menhang, um die Steuer-Pauschbeträge für Behinderte entsprechend den
§§ 33 b, Abs.1 ff. EstG, die seit 1975, d. h. seit 25 Jahren, nicht erhöht wur-
den, anzupassen?

8. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Reaktionen
von Behindertenverbänden und Gewerkschaften auf das vom Bundesminis-
terium für Arbeit und Sozialordnung erarbeitete Arbeitspapier zur Verbesse-
rung der Beschäftigungssituation Schwerbehinderter vom 22. Dezember
1999 für die Vorlage eines SGB IX sowie für eine Novellierung des Schwer-
behindertengesetzes?

a) Welche Begründung führt die Bundesregierung dafür an, dass die in dem
o. g. Arbeitspapier vorgesehene Absenkung der Beschäftigungsquote eine
einstellungsfördernde Wirkung gegenüber Schwerbehinderten entfalten
soll?

b) Mit welchen Instrumenten beabsichtigt die Bundesregierung zu gewähr-
leisten, dass der in dem o. g. Arbeitspapier beabsichtigte Abbau der
Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter um 50 000 in den nächsten zwei bis
drei Jahren zur Schaffung einer gleich hohen Zahl von dauerhaften Ar-
beitsverhältnissen führt?
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9. Welche Regelungen sollen nach Ansicht der Bundesregierung im SGB IX
oder in anderen Gesetzen, Verordnungen etc. getroffen werden, um durch
Aufhebung von Begrenzungen für den Hinzuverdienst Menschen mit Behin-
derungen zusätzliche Möglichkeiten einzuräumen, durch eigene Erwerbs-
tätigkeit ein selbstbestimmtes Leben finanziell abzusichern?

Berlin, den 16. Februar 2000

Dr. Ilja Seifert,
Dr. Klaus Grehn,
Dr. Heidi Knake-Werner,
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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