BT-Drucksache 14/2619

Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175a Nr.4 Reichstrafgesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes

Vom 27. Januar 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2619
14. Wahlperiode 27. 01. 2000

Antrag
der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger,
Dr. Evelyn Kenzler, Heidemarie Lüth, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175a Nr. 4 Reichsstraf-
gesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und
lesbischen Opfer des NS-Regimes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Verschärfung des § 175 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) im Jahr 1935
ist in Ursprung, Zweck und Auswirkung als typisch nationalsozialistisches
Unrecht anzusehen. Sie ist nichtig. Verurteilungen nach den §§ 175 und
175a Nr. 4 RStGB waren von Anfang an Unrecht.

Neben der strafrechtlichen Verfolgung waren homosexuelle Frauen und
Männer im Nationalsozialismus weiteren Verfolgungsmaßnahmen ausge-
setzt. Dazu zählen Zwangssterilisierungen und medizinische Experimente
ebenso wie die Verschleppung in Konzentrationslager. Diese Verfolgungs-
maßnahmen sind als typisch nationalsozialistisches Unrecht anzusehen.

2. 1933 wurden die Organisationen der homosexuellen Bürgerrechtsbewegun-
gen von den Nationalsozialisten zerschlagen. Den bestehenden schwulen
Verlagen wurde die Tätigkeit unmöglich gemacht, die Publikationen der
homosexuellen Bürgerrechtsbewegung wurden als unzüchtig verboten. Das
Berliner Institut für Sexualwissenschaft des Dr. Magnus Hirschfeld wurde
von der SA gestürmt, seine Werke gemeinsam mit den Werken anderer Au-
toren verbrannt. Die Sammlung und Bibliothek des Instituts wurden zerstört.
Eine Rückerstattung der Vermögenswerte nach dem Bundesrückerstattungs-
gesetz fand in der Bundesrepublik Deutschland in keinem Fall statt. Auch in
der DDR hat es keine Erstattungen gegeben.

II. Der Deutsche Bundestag sieht die Opfer von Verurteilungen nach den
§§ 175, 175a Nr. 4 RStGB während der NS-Zeit sowie die Opfer anderer gegen
Schwule und Lesben gerichteten NS-Gewaltmaßnahmen grundsätzlich als Ver-
folgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) an. Der Deutsche
Bundestag bezeugt ihnen Achtung und Mitgefühl. Er erachtet es als notwendig,
dass die Betroffenen die für NS-Verfolgte und -Beschädigte vorgesehenen ge-
setzlichen Leistungen bekommen.

Drucksache 14/2619 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die
Folgendes sicherstellen:

1. Die §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB sind in die Liste der in der Anlage zu § 2
Abs. 3 des Gesetzes über die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsur-
teile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) genannten gesetzlichen Vorschrif-
ten aufzunehmen.

2. Die unter Nummer I.1. genannten Opfer sind als Verfolgte im Sinne des
Bundesentschädigungsgesetzes anzuerkennen. Sollten aus formalen Grün-
den Leistungen unmittelbar nach dem Bundesentschädigungsgesetz nicht
möglich sein, ist ein unbürokratisches Vorgehen vorzusehen, mit dem die
Betroffenen Leistungen in gleichem Umfang wie nach dem Bundesent-
schädigungsgesetz erhalten. Hierbei sind erleichterte Bedingungen für den
Verfolgungsnachweis vorzusehen (Annahme von Regeltatbeständen, Glaub-
haftmachungen). Die Bundesregierung soll darüber hinaus auf die Landes-
entschädigungsbehörden einwirken, dass die bisher abgelehnten Anträge
nach dem Bundesentschädigungsgesetz von Amts wegen überprüft und er-
neut beschieden werden.

3. Schwule und lesbische NS-Opfer aus den neuen Bundesländern, die als ehe-
malige DDR-Bürger aus formalen Gründen nicht dem Bundesentschädi-
gungsgesetz unterfallen, sollen in vollem Umfang Leistungen nach dem für
diesen Personenkreis erlassenen Entschädigungsrentengesetz vom 1. Mai
1992 erhalten.

4. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die unter Nummer I.1. genannten Opfer
einen Rentenschadensausgleich für verfolgungsbedingte Fehlzeiten in der
Rentenversicherung erhalten. Ihnen sollen mit ihrer Anerkennung nach § 1
des Bundesentschädigungsgesetzes bzw. dem Entschädigungsrentengesetz
grundsätzlich Leistungen zustehen, die als Rentenschadensausgleich gelten
(WGSVG). Es ist gegenüber den Rentenversicherungsträgern auf eine um-
gehende Anerkennung dieser Ersatzzeiten im Rahmen der Rentenberech-
nung hinzuwirken. Auf die Einrede der Verjährung ist hierbei zu verzichten.

5. Es sind besondere Maßnahmen zu treffen, die die kulturelle und finanzielle
Förderung der geschichtlich-politischen Aufarbeitung der nationalsozialisti-
schen Homosexuellenverfolgung und des Umgangs mit ihren Opfern zum
Gegenstand haben. Diese Maßnahmen sollen auch eine angemessene öffent-
liche Würdigung des Verfolgtenschicksals der betroffenen Frauen und Män-
ner zum Ziel haben.

6. Es ist ein Gesetzentwurf zur Errichtung einer vom Bund und den Ländern
finanzierten Stiftung vorzulegen, die die Aufarbeitung der nationalsozialisti-
schen Homosexuellenverfolgung, die Förderung der Sexualwissenschaft und
das Werben für gleiche Bürger- und Menschenrechte von Homosexuellen
zum Ziel hat. Die Stiftung soll den Namen Dr. Magnus Hirschfeld tragen.

Die Bundesregierung soll dafür Sorge tragen, dass die Mittel, die der homo-
sexuellen Bürgerrechtsbewegung durch die ausgebliebene Rückerstattung
bzw. Entschädigung für die während der NS-Zeit erfolgte Zerschlagung und
Enteignung ihrer Organisationen, Verlage, Archive und Einrichtungen vor-
enthalten wurden, der Stiftung zufließen.

Berlin, den 25. Januar 2000

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/2619

Christina Schenk
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Heidemarie Lüth
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Vor 30 Jahren wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein bis dahin bewahr-
tes Relikt der Nazizeit beseitigt: die Strafrechtsreform vom 1. September 1969
revidierte die immer noch geltende Fassung der Paragraphen 175 und 175a
StGB aus der NS-Zeit. Ein Akt der Wiedergutmachung oder der Entschädigung
war mit dieser Revision des Strafgesetzbuches nicht verbunden. Die Mehrheit
des Deutschen Bundestages verhinderte 1998 die Aufnahme des § 175 in die
Anlage zum „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“.
Die zur Generalklausel des NS-Aufhebungsgesetzes gegebene Interpretation
des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (Beschlussempfehlung 13/
10848) – sie erfasse auch „diejenigen auf Grund der Paragraphen 175, 175a
Reichsstrafgesetzbuch ergangenen Urteile gegen Homosexuelle, die auf eine
menschenrechtswidrige Verfolgung und Beseitigung von Homosexuellen ab-
zielten“ – unterstellt, es habe Urteile gegen Homosexuelle gegeben, die nicht
„unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit … zur Durch-
setzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen
Gründen ergangen sind.“

Unter dem NS-Regime kam es in Deutschland zu einer exzessiven Homo-
sexuellen-Verfolgung. 1933 zerschlugen die Nazis die Organisationen der
Bürgerrechtsbewegung der homosexuellen Frauen und Männer der Weimarer
Republik. 1935 wurde die Strafverfolgung Homosexueller vor allem durch die
Erweiterung und Neuauslegung von Straftatbeständen radikalisiert. Durch die
Neufassung des § 175 RStGB und die Einfügung des § 175a wurden Tatbe-
stände und Strafmaß massiv verschärft. Waren zuvor „nur“ bestimmte Sexual-
praktiken („beischlafähnliche Handlungen“) strafbar, erfolgte nun die vollstän-
dige Kriminalisierung von (männlicher) Homosexualität. Die erst in wenigen
Ansätzen erfolgte Erforschung der Handhabung der §§ 175, 175a RStGB durch
die Gerichte nach 1935 zeigt, dass insbesondere die Bestimmungen der Num-
mern 3 und 4 des § 175a regelmäßig zur Strafverschärfung herangezogen wur-
den (vgl. Pretzel, Andreas; Roßbach, Gabi: „… wegen der zu erwartenden ho-
hen Strafe“, Berlin: Verlag Rosa Winkel 2000, i. Dr.). Jegliche einvernehmliche
gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakte zwischen Männern waren danach
von strafrechtlicher Verfolgung bedroht.

Bei mehrmaliger Bestrafung nach § 175a Abs. 4 RStGB konnten die Betreffen-
den als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ (§ 20a RStGB) verurteilt und so
genannte Sicherungsmaßnahmen (§ 42e RStGB Sicherungsverwahrung) vom
Gericht angeordnet werden. Die „Sicherungsverwahrten“ wurden auf Veran-
lassung des Reichsjustizministers 1943 der Polizei übergeben und in Konzent-
rationslager eingeliefert. Aber bereits die erste Verurteilung nach den neuen
Verbrechenstatbeständen förderte polizeiliche Willkürmaßnahmen, da die Häft-
linge nach der Strafverbüßung der Polizei überstellt wurden, die über „Vorbeu-
gungsmaßnahmen“ (d. h. die Einlieferung in Konzentrationslager) entschied.

Drucksache 14/2619 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

1936 wurde eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der
Abtreibung“ eingerichtet. In den Jahren 1935 bis 1945 verurteilte die NS-Justiz
über 50 000 Menschen wegen homosexueller Handlungen. Es ist davon auszu-
gehen, dass 10 000 bis 15 000 schwule Männer in Konzentrationslager ver-
schleppt wurden (Kokula, Ilse: Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des
Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, in: Deutscher
Bundestag [Hrsg.]: Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialis-
tisches Unrecht, Bonn 1987, S. 325). Nur eine Minderheit überlebte den Terror
in den Lagern.

Hinsichtlich der abweichenden Verfolgungssituation lesbischer Frauen sei auf
die Feststellungen von Claudia Schoppmann verwiesen: „Die Nichtkriminali-
sierung weiblicher Homosexualität verhinderte, dass lesbische Frauen auf ähn-
liche Weise und vergleichbar (strafrechtlich) intensiv verfolgt wurden wie ho-
mosexuelle Männer. Sie teilten jedoch u.a. die Erfahrung der Zerstörung von
Einrichtungen der homosexuellen Subkultur, ihrer Klubs und Vereine, das Ver-
bot von Zeitschriften, die Schließung bzw. Überwachung ihrer Lokale und wa-
ren ebenfalls von Razzien bedroht. Dies hatte u.a. die Vereinzelung lesbischer
Frauen zur Folge … Nur wenige Fälle sind nachweisbar, in denen Frauen …
wegen ihrer Homosexualität … verfolgt wurden. … Möglicherweise waren
lesbische Frauen eher von der unspezifischen „Asozialen“-Verfolgung bedroht.
… Als „asozial“ galten vor allem diejenigen, die sich dem totalen Leistungs-
anspruch des NS-Staates zu entziehen suchten. Dabei spielten das Arbeitsver-
mögen, generatives Verhalten und soziale Bedürftigkeit eine wesentliche Rolle,
wovon insbesondere Nichtsesshafte, Arbeitslose, Prostituierte, aber auch Ho-
mosexuelle sowie Sinti und Roma betroffen waren. … Die Prostituierte galt
als Prototyp weiblicher „Asozialität“, und darüber hinaus wurde von den Nazis
ein besonderer Zusammenhang zwischen lesbischen Frauen und Prostituierten
behauptet. Jedoch kann nicht geschätzt werden, wie oft sich unter den als „Aso-
ziale“ Verhafteten auch lesbische Frauen befanden oder wie oft lesbische
Frauen wegen angeblicher Prostitution verhaftet wurden (Schoppmann, Clau-
dia: Zur Situation lesbischer Frauen in der NS-Zeit; in Günter Grau [Hrsg.]:
Homosexualität in der NS-Zeit, Frankfurt/M. 1993, S. 35–42, hier S. 40f.). An-
dere Quellen berichten über Frauen in der Wehrmacht, die als Lesben wegen
Wehrkraftzersetzung vor ein Kriegsgericht gestellt, aus der Wehrmacht ausge-
stoßen und in KZ’s verbracht wurden (vgl. Kokula, Ilse: Lesbisch leben von
Weimar bis zur Nachkriegszeit, in: Eldorado – Homosexuelle Frauen und Män-
ner in Berlin 1850 bis 1950, Ausstellungskatalog, Fröhlich & Kaufmann, Ber-
lin 1984, S. 160).

Hieran wie auch im Umgang mit den verschärften §§ 175 und 175a RStGB
wird deutlich, dass die Kategorisierungen der Verfolger sich nicht als Kriterien
für eine Entschädigung und Wiedergutmachung eignen. Heutige Maxime kann
nur sein, dass niemand zu Recht in ein KZ gebracht wurde.

In wenigen Bereichen staatlichen Handelns hat sich die Bundesrepublik
Deutschland so schwer getan, nationalsozialistische Traditionen zu überwinden
wie in der staatlichen Unterdrückungspolitik gegenüber Schwulen. Verurteilte
nach dem Nazi-Paragraphen erhielten bislang keine Entschädigung. Bisher
wird auf der 1986 im Entschädigungsbericht geäußerten Rechtsposition be-
harrt: „Die Bestrafung homosexueller Betätigung in einem nach den strafrecht-
lichen Vorschriften durchgeführten Verfahren ist weder NS-Unrecht noch
rechtsstaatswidrig. … Deshalb können Strafen, die in einem nach den gesetz-
lichen Vorschriften durchgeführten Strafverfahren verhängt und im regulären
Strafvollzug vollstreckt wurden, nicht als Freiheitsentziehung entschädigt wer-
den.“ (Drucksache 10/6287, S. 40)

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/2619

Dabei ist heute durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte in Straßburg anerkannt, dass eine strafrechtliche Verfolgung
einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen men-
schenrechtswidrig ist (EGMR, NJW 1984, 541 [Fall Dudgeon gegen Vereinig-
tes Königreich]; EuGRZ 1992, 477 [Fall Norris gegen Irland]; ÖJZ 1993, 821
[Fall Modinos gegen Zypern]). Die Bundesregierung muss dieser europäischen
Rechtsentwicklung zur Anerkennung des Rechts auf sexuelle Selbstbestim-
mung Rechnung tragen.

Selbst die lesbischen und schwulen NS-Opfer, die Zwangssterilisationen oder
KZ-Haft ausgesetzt waren, sind bisher nicht als Verfolgte im Sinne des § 1 des
Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. In Missachtung historischer
Tatsachen lautete die herrschende Rechtsposition: „Homosexuelle“ seien zwar
„häufig als politische Gegner behandelt und in ein Konzentrationslager einge-
liefert (worden). … In Wirklichkeit beruhten die gegen sie ergriffenen Maß-
nahmen jedoch auf Gründen der Sicherheit, der Ordnung oder ähnlichen Grün-
den, die mit einer echten politischen Gegnerschaft nichts zu tun hatten“ (vgl.
Giessler, Hans, in: Bundesminister der Finanzen; Schwarz Walter [Hrsg.]: Die
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik
Deutschland, Bd. 4, München 1981, S. 13f.).

Die neuere historische Forschung geht dagegen davon aus, dass der nationalso-
zialistischen Homosexuellenverfolgung rassistische und sexistische Motive zu-
grunde lagen (vgl. z. B. Stümke, Hans-Georg; Homosexuelle in Deutschland;
Eine politische Geschichte, München, 1989; Jellonek, Burkhard: Homosexuelle
unter dem Hakenkreuz, Paderborn 1990; Plant, Richard: Rosa Winkel, Der
Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen, Frankfurt/Main 1991; Grau, Günter:
Homosexualität in der NS-Zeit, Frankfurt/Main 1993).

Die Verschleppung Homosexueller in ein KZ wurde bisher zwar als Staatsun-
recht, nicht aber als „typisches NS-Unrecht“ eingestuft. Schwule KZ-Häftlinge
konnten zwar theoretisch Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen
Kriegsfolgengesetz (AKG) von 1957 geltend machen. Dieses sah aber gegen-
über dem BEG erheblich geringere Leistungen vor. Außerdem hat das AKG für
Schwule kaum praktische Bedeutung erlangt. Angesichts des damaligen Verfol-
gungseifers gegenüber schwulen Männern – allein in den ersten 15 Jahren der
Bundesrepublik Deutschland wurden über 100 000 Ermittlungsverfahren we-
gen § 175 StGB eingeleitet – fürchteten ehemalige KZ-Opfer mit einiger Be-
rechtigung neue Strafverfolgung und damit erneuten Verlust ihrer bürgerlichen
Existenz, wenn sie Ansprüche geltend und damit ihre Homosexualität behörd-
lich bekannt gemacht hätten. Gerade in den Jahren 1958/59, in denen AKG-An-
träge gestellt werden konnten, erreichte die Zahl der in der Bundesrepublik
Deutschland nach § 175 StGB Verurteilten mit 3 500 ihren Höchststand (Ge-
samtzahl der Verurteilungen: 1933 bis 1940: 37 490; 1950 bis 1969: 59 316).

So haben nur 14 schwule NS-Opfer fristgerecht bis zum 31. Dezember 1959
Anträge nach dem AKG gestellt. Neun weitere Anträge gingen nach Fristende
ein. Angesichts vieler Tausender schwuler Männer (und einer nicht mehr be-
stimmbaren Zahl von lesbischen Frauen), die in den Konzentrationslagern litten
oder von anderen NS-Unrechtsmaßnahmen betroffen waren, ist dies eine be-
schämende Zahl. Der 1987 eingerichtete AKG-Bundeshärtefonds für NS-Ver-
folgte hat an der Misere wenig geändert, weil er völlig unzureichend ist. Durch
die Anlehnung des Härtefonds an das AKG wurde die diskriminierende Tradi-
tion der Aufspaltung der Opfer weiter zementiert. Aufgrund der restriktiven
Zugangsvoraussetzungen konnten bislang nur vier Homosexuelle laufende
Leistungen aus dem AKG-Härtefonds erhalten. Eine Einmalleistung bis zu
5 000 DM nach den AKG-Härterichtlinien wurde lediglich 16 homosexuellen

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Opfern gewährt. Eine Entschädigung, die diesen Namen verdient, hat gegen-
über homosexuellen NS-Verfolgten praktisch nicht stattgefunden.

Die DDR war zwar schon 1950 zur Weimarer Fassung des § 175 zurückge-
kehrt, schloss Homosexuelle aber ebenfalls von Entschädigungsleistungen aus.
Schwule Nazi-Opfer gehörten nicht zu dem Personenkreis, dem Ehrenpensio-
nen zuerkannt wurden. Nach der Vereinigung gingen die Betroffenen erneut
leer aus. Bei der Überleitung der DDR-Ehrenpensionen im Entschädigungsren-
tengesetz wurden sie und andere „vergessene“ Opfer weiterhin ausgegrenzt, da
hierfür wiederum der enge Verfolgtenbegriff des Bundesentschädigungsgeset-
zes zugrunde gelegt wurde.

Nicht nur einzelne homosexuelle Frauen und Männer standen im Visier des NS-
Staates. Unverzüglich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde
auch die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung der Weimarer Republik zer-
schlagen. Das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ löste sich im Sommer
1933 selbst auf, der „Bund für Menschenrecht“ wurde formell am 5. Januar
1936 liquidiert. Die informelle „Gemeinschaft der Eigenen“ von Adolf Brand
zerfiel nach der Vernichtung der verlegerischen Existenz ihres Gründers. Ge-
schäftsstellen und Verlagshäuser wurden geschlossen, die Presse der Homose-
xuellen verboten. Ebenfalls schließen mussten Versammlungslokale und andere
Treffpunkte von Lesben und Schwulen. Die Selbstorganisation homosexueller
Männer und Frauen wurde damit so nachhaltig vernichtet, dass der damalige
Stand erst in den späten siebziger (Bundesrepublik Deutschland) bzw. achtziger
Jahren (DDR) annähernd wieder erreicht werden konnte.

Besondere Bedeutung bei der Vernichtung der Infrastruktur der homosexuellen
Selbstorganisation kam der Zerstörung des Berliner Instituts für Sexualwissen-
schaft von Dr. Magnus Hirschfeld zu. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut von
SA- und NS-Studenten als Auftakt der Bücherverbrennung gestürmt und ge-
plündert. Das 1919 von Dr. Magnus Hirschfeld gegründete Institut hatte sich
neben der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Sexualität immer
auch für gesellschaftliche Sexualreformen und für die Rechte der Homosexuel-
len eingesetzt. Das Vermögen der Trägerin, der Dr. Magnus-Hirschfeld-Stif-
tung, wurde vom preußischen Staat eingezogen. Nach dem Krieg gab es hierzu
ein Wiedergutmachungsverfahren, das sich lediglich auf die Institutsgebäude
und -grundstücke bezog und 1995 mit einem Vergleich endete, der dem Stif-
tungszweck von Dr. Magnus Hirschfeld völlig zuwiderlief (vgl. dazu Dose,
Ralf: Bericht für die „Washington Conference on Holocaust Era Assets“ 1998;
zugänglich über http://www.in-berlin.de/user/hirschfeld). Die Arbeit des Insti-
tuts konnte nicht fortgesetzt werden.

Für die Zerstörung der Infrastruktur der homosexuellen Bürgerbewegung, die
Vernichtung der identitätsstiftenden Selbstorganisationen und Intitutionen ist
eine Wiedergutmachung in der Form erforderlich, dass die historische Aufar-
beitung der Verfolgung, die homosexuelle Selbstorganisation sowie gesell-
schaftliche Initiativen zum Abbau von Diskriminierung und Vorurteilen, von
Sexismus und Rassismus öffentlich gefördert werden. Dies soll durch die bean-
tragte Stiftung gewährleistet werden.

40 Jahre lang wurde die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialis-
mus in West- wie Ostdeutschland fast totgeschwiegen. Erst Bundespräsident
Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede zum 8. Mai 1985 auch der homose-
xuellen Opfer des NS-Terrors angemessen gedacht. Die bis heute nicht erfolgte
Entschuldigung, Entschädigung und Wiedergutmachung ist umgehend nachzu-
holen.

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