BT-Drucksache 14/2246

Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politische Union vertiefen

Vom 1. Dezember 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/2246
14. Wahlperiode 01. 12. 99

Antrag
der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun (Augsburg),
Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Klaus Haupt, Walter Hirche, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer,
Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Ina Lenke, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Dr. Günter Rexrodt, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, Gerhard Schüßler, Dr. Max Stadler, Jürgen Türk
und der Fraktion der F.D.P.

Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politische Union
vertiefen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Ost-West-
Konflikts hat die Europäische Union durch den Vertrag von Maastricht und des-
sen Weiterentwicklung zum Vertrag von Amsterdam große Fortschritte beim
Zusammenschluss Europas erzielt. Die Vollendung des Binnenmarktes und der
Eintritt in die Währungsunion hat den erwarteten Anstoß zur Vertiefung auch in
anderen Bereichen gegeben: Mit der Einsetzung des Hohen Beauftragten für
die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erhält die Europäische Union
nach außen Gesicht und Stimme, in die gemeinsame Justiz- und Innenpolitik ist
zumindest Bewegung gekommen.

In den vergangenen zehn Jahren wurden wichtige Entscheidungen zur Wieder-
vereinigung Europas, d.h. zur Integration der mittel- und osteuropäischen Re-
formstaaten in die Europäische Union getroffen. Der Europäische Rat legte
1993 in Kopenhagen Kriterien fest, deren Erfüllung die Voraussetzung einer
EU-Mitgliedschaft ist. Es folgten Assoziationsverträge zwischen der EU und
den beitrittswilligen Reformstaaten, schließlich wurde im März 1998 der offizi-
elle Erweiterungsprozess eröffnet. Seit November 1998 wird mit fünf mittel-
und osteuropäischen Staaten sowie Zypern konkret verhandelt. Zu den wirklich
problematischen Kapiteln ist man jedoch noch nicht vorgedrungen. In der euro-
päischen Öffentlichkeit gewinnt inzwischen der Eindruck mangelnder Dyna-
mik des Erweiterungsprozesses die Oberhand. In den mittel- und osteuropäi-
schen Reformstaaten nimmt die Zustimmung zum Beitritt zur Europäischen
Union ab.

Drucksache 14/2246 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Diese Tendenz wird durch die hartnäckige Weigerung der EU verstärkt, den
Kandidaten durch ein konkretes Zieldatum (2002), ab dem mit der Aufnahme
der ersten Staaten begonnen werden soll, eine realistische Perspektive zu ge-
ben. Die Bundesregierung hat es versäumt, während ihrer EU-Präsidentschaft
im ersten Halbjahr 1999 entsprechende Impulse zu geben. Durch die ungenü-
genden Reformfortschritte im Rahmen der Agenda 2000 hat sich der Eindruck
verstärkt, dass es der EU mehr auf ein „Weiter so“ als auf die baldige Integra-
tion der mittel- und osteuropäischen Staaten ankommt. Der Deutsche Bundes-
tag betont erneut, dass Deutschland nach wie vor aus politischen und wirt-
schaftlichen Gründen ein herausragendes Interesse an einer möglichst schnellen
Osterweiterung hat.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung dazu auf, beim bevorste-
henden Europäischen Rat in Helsinki auf Folgendes hinzuwirken:

1. Das Treffen des Europäischen Rates in Helsinki muss dazu genutzt werden,
dem Erweiterungsprozess die dringend benötigte Dynamik zu verleihen. Er
muss ein deutliches Zeichen für die Bereitschaft der 15 EU-Mitgliedstaaten
setzen, ab 2002 mit der Aufnahme der am weitesten fortgeschrittenen Staa-
ten zu beginnen. Dieses Zieldatum ist dazu geeignet, auf EU und Beitritts-
kandidaten den notwendigen Druck auszuüben, den längst nicht abgeschlos-
senen Reformprozess fortzusetzen und, wenn möglich, zu beschleunigen.
Außerdem erhalten die Menschen in den Umbruchländern, die viele Opfer
hinnehmen und große Anstrengungen machen, ein Licht am Ende des Tun-
nels. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, in der Er-
weiterungsfrage endlich eine deutsch-französische Einigung herbeizuführen
und anschließend eine gemeinsame Initiative im Kreise der 15 zu ergreifen.

2. Der Deutsche Bundestag begrüßt den Vorschlag der EU-Kommission, auch
mit Lettland, Litauen, der Slowakischen Republik, Rumänien und Bulga-
rien, mit denen derzeit noch nicht verhandelt wird, Beitrittsverhandlungen
aufzunehmen. Mit diesem Schritt, der in Helsinki formell zu beschließen ist,
wird die von Anfang an zweifelhafte Differenzierung aufgehoben und zu-
gleich verdeutlicht, dass Beitritte nur nach individueller Beitrittsfähigkeit,
nicht jedoch aufgrund von Gruppenzwängen zu erfolgen haben.

3. Der Deutsche Bundestag befürwortet eine ehrliche und realistische Europa-
perspektive der Türkei, die Türkei muss auf dem europäischen Gleis blei-
ben. Die Europäische Union und ganz besonders Deutschland mit rund 2,1
Millionen türkischer Mitbürger hat ein starkes Interesse daran, die europäi-
sche Perspektive für die Türkei offen zu halten. In ihrer jetzigen Verfassung
ist die Türkei jedoch vor allem aufgrund der Lage der Menschenrechte, der
ungelösten Kurdenfrage, wirtschaftlicher Anpassungsprobleme sowie des
noch immer unbefriedigenden Verhältnisses zum EU-Mitglied Griechenland
nicht beitrittsfähig. Die Türkei muss deshalb vor allem von sich aus mehr als
bisher tun, um die Beitrittshindernisse abzubauen.

Es ist befürchten, dass die Aufwertung der Türkei zum offiziellen EU-Bei-
trittskandidaten in Ankara neue Enttäuschungen hervorrufen kann. Entschei-
dend ist, dass der Türkei vorher mit Nachdruck verdeutlicht wird, dass ge-
rade auch der Kandidatenstatus vor allem eigene Anstrengungen erfordert
und nicht automatisch mit Beitritt gleichzusetzen ist. Es handelt sich ledig-
lich um einen ersten Schritt auf einem langen Weg. Die Europäische Union
wird sich mit und nach der Osterweiterung, der Reform ihrer Institutionen
und weiterer Vertiefung ändern. Sie wird ohnehin im Hinblick auf weitere
Beitrittswünsche über sektorale Mitwirkungsmöglichkeiten und damit über
neue Verknüpfungsvarianten zu entscheiden haben. All dies liegt im Inter-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/2246

esse nicht nur der bisherigen Mitglieder. Es ist auch eine faire Chance für
die, die hinzukommen wollen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, der Türkei sub-
stantiell und konkret dabei zu helfen, demokratische Defizite abzubauen.
Dazu muss die vom Europäischen Rat in Cardiff im Juni 1998 festgelegte
Europäische Strategie für die Türkei weiterentwickelt werden. Genauso
wichtig ist aber auch, dass die Europäische Union endlich ihre eigenen Ver-
pflichtungen aus dem Finanzprotokoll zur Zollunion erfüllt und die immer
noch blockierten Finanzmittel für die Türkei freigibt. Die Bundesregierung
muss gemeinsam mit den Partnern auch die griechische Regierung zur Auf-
gabe ihrer bisherigen Blockadehaltung bewegen.

4. Die EU hat ihrerseits selbst noch erhebliche Anstrengungen zu unterneh-
men, um erweiterungsfähig zu werden. Nach der im März 1999 beschlosse-
nen, unzureichenden Reform des EU-Finanzierungssystems und der wich-
tigsten Gemeinschaftspolitiken steht jetzt die Anpassung der Institutionen an
die erweiterte Union auf dem Programm. Ohne eine Reform der Entschei-
dungsprozesse im Rat und einer Beschränkung der Größe der EU-Kommis-
sion droht im Falle der Erweiterung die Entscheidungs- und Handlungsunfä-
higkeit der Europäischen Union.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, darauf hinzuwir-
ken, dass die zur Lösung der institutionellen Fragen einzuberufende Regie-
rungskonferenz sich strikt an den Erfordernissen des Beitrittsprozesses ori-
entiert. Dieser darf in keinem Fall verzögert werden. Die Regierungskonfe-
renz muss bis Ende 2000 abgeschlossen sein. Aus diesem Grunde fordert der
Deutsche Bundestag die Bundesregierung dazu auf, zunächst mit Nachdruck
das Mandat für die Regierungskonferenz auf die Fragen:

 Größe und Zusammensetzung der EU-Kommission,
 Stimmgewichtung im Rat,
 Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen
zu konzentrieren. Die von der EU-Kommission eingesetzten „Weisen“ (von
Weizsäcker, Dehaene, Simon) haben in ihrem Bericht wertvolle Vorschläge
zur grundlegenden Überarbeitung des gesamten Vertragswerkes gemacht.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, möglichst viele
davon in die langfristige Reformperspektive einzubeziehen. Der Deutsche
Bundestag sieht die vom Europäischen Rat in Köln in Auftrag gegebene
Ausarbeitung einer Grundrechtecharta als ersten Schritt zur Weiterentwick-
lung der europäischen Verträge hin zu einer europäischen Verfassung.

5. Der Deutsche Bundestag begrüßt den Fortschritt, den es seit Amtsantritt von
Generalsekretär Solana im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik gegeben hat. Wichtigstes Symbol für den Fortschritt ist die ge-
meinsame Sitzung der Außen- und Verteidigungsminister am 15. November
1999. Die Krise auf dem Balkan, besonders aber die Zuspitzung in der Ko-
sovo-Krise hat gezeigt, dass die Europäische Union noch einen langen Weg
bis zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsidentität vor sich hat.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, diese europäische
Identität im Einklang und in Übereinstimmung mit den USA und der NATO,
nicht aber gegen sie zu entwickeln. Eine europäische Verteidigungsidentität
ist nicht zum Nulltarif zu haben. Sie setzt höhere, vor allem investive, Ver-
teidigungsausgaben voraus. Die Kosovo-Krise hat auch die Defizite der Eu-
ropäer in den Bereichen Transport, Logistik, etc. krass aufgedeckt.

Drucksache 14/2246 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Der Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eignet sich be-
sonders für gemeinsame deutsch-französisch-britische Initiativen. Der Deut-
sche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, endlich entsprechende An-
stöße zu geben.

Berlin, den 1. Dezember 1999

Dr. Helmut Haussmann
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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