BT-Drucksache 14/2153

Einsetzung einer Enquete-Kommission "Menschenrechte,Ethik und Politik für eine Medizin der Zukunft"

Vom 23. November 1999


Deutscher Bundestag

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14. Wahlperiode

23. 11. 99

Antrag

der Abgeordneten Angela Marquardt, Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Kersten
Naumann, Eva-Maria Bulling-Schröter, Carsten Hübner, Fred Gebhardt,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Menschenrechte, Ethik und Politik für eine Medizin der Zukunft“

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag setzt gemäß § 56 seiner Geschäftsordnung eine En-
quete-Kommission „Menschenrechte, Ethik und Politik für eine Medizin der
Zukunft“ ein.

Die Enquete-Kommission soll eine gründliche und tiefergehende parlamentari-
sche Diskussion über die Entwicklungen, Anwendungen und Folgen der unter
dem Begriff „Biomedizin“ zusammengefassten Techniken ermöglichen. Sie
soll nicht nur selbst deren mögliche gesellschaftliche Auswirkungen in den
Blick nehmen, sondern – unter breiter Einbeziehung der Öffentlichkeit – eine
Auseinandersetzung zu diesen Techniken anstoßen und führen helfen. Berück-
sichtigung müssen auch die ethischen Diskurse zu diesen Techniken finden,
insbesondere die Überlegungen und Folgerungen der „Bioethik“ sind dabei zu
prüfen.

Die Enquete-Kommission soll Empfehlungen erarbeiten, welche sozialen und
rechtlichen Maßnahmen ergriffen und politische Entscheidungen durch den
Deutschen Bundestag getroffen werden sollten, um eine den Menschenrechten
und ethischen Grundsätzen verpflichtete Medizin zu gewährleisten.

Der Enquete-Kommission wird empfohlen, dabei solche Problemfelder, Sach-
zusammenhänge und Themenkomplexe in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stel-
len bzw. zu berücksichtigen wie:

I.

Der Aufstieg von Genetik und Molekularbiologie zu den interpretierenden Leit-
wissenschaften auch im medizinischen Bereich hat bereits heute Auswirkun-
gen, die sich in naher Zukunft voraussichtlich dramatisch verstärken werden.
Festzustellen ist nicht nur eine unkontrollierte, immer massenhaftere Auswei-
tung genetischer und molekularbiologischer Testmöglichkeiten, sondern ein zu-
nehmender z.T. durch die Testmöglichkeiten selbst hervorgebrachter Druck,
„Optimierungen“ an menschlichen Genomen und Keimbahnen vorzunehmen.

Im Verbund mit der Reproduktionstechnologie drohen die gentechnischen
Möglichkeiten das Verständnis vom Menschen, von Gesundheit, Krankheit und
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Behinderung deutlich zu verändern. Dies wird nicht erst durch die Möglichkeit
zur Klonierung von Menschen und die Klonierung menschlichen Embryonal-
gewebes offenkundig.

Es sind nicht nur Medizinerinnen und Mediziner, die die Ausweitung der bio-
medizinschen Möglichkeiten befördern. Keineswegs beruhen diese Neuerun-
gen nur auf der Nachfrage von Menschen, die sich Heilung oder Hilfe durch sie
erhoffen.

Es ist nicht zuletzt kommerzielles Interesse der auf diesem Sektor arbeitenden
Firmen, beispielsweise Gentests auf den Markt zu drücken, deren „Informatio-
nen“ zu keinen wirklichen Therapiemöglichkeiten befähigen. Angesichts der
„Goldgräberstimmung“ im Bereich der relativ konzentrierten Chemie-,
Pharma- und Life-sciences-Industrie – bedingt auch durch die Möglichkeit der
Patentierung von Genen und Genabschnitten – herrscht eine industrielle Dyna-
mik, die weitgehend unkritisch verläuft.

Der Entwicklung der Biomedizin ist ein expansiver Drang zu attestieren: Ethi-
sche Grenzen, die zumindest in der Bundesrepublik Deutschland ehemals All-
gemeingültigkeit beanspruchen durften, wie etwa das Verbot der Keimbahn-
intervention, scheinen im Rückblick in Bezug auf die Biomedizin als Ganzes
eher technischer oder taktischer Natur gewesen zu sein. Den expansiven Drang
der Biomedizin verdeutlichen die Versuche, fremdnützige Forschung an so ge-
nannten Nicht-Einwilligungsfähigen zu erlauben.

Nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland stellt sich die Frage, wie dieser
Entwicklung begegnet werden kann. Ob das „Menschenrechtsübereinkommen
zur Biomedizin“ des Europarates sowie dessen Protokolle geeignet sind, der
Biomedizin begründete ethische und rechtliche Grenzen zu setzen, ist mehr als
fraglich. Unter Druck geraten ist in der Bundesrepublik Deutschland besonders
das Embryonenschutzgesetz: Auf der einen Seite hinsichtlich eines wirksamen
Verbotes der Klonierung von Menschen und embryonaler Zellen, auf der ande-
ren Seite wird versucht, das Verbot der Präimplantationsdiagnostik und der
Keimbahnintervention aufzuweichen.

II.

Die biomedizinischen Möglichkeiten können die körperliche Integrität, die
Rechte und Würde jedes Menschen gefährden. Es betrifft nicht nur Menschen
in Situationen, die auf ein Gesundheitswesen angewiesen sind. In grundsätz-
licher Form stellen die biomedizinischen Möglichkeiten das Verhältnis von in-
dividueller Selbstbestimmung und Gesellschaft, Wahlfreiheit und Zwang in
Frage. Dies beginnt beispielhaft bei dem Problem des Wissens oder Nichtwis-
sens von genetischen Testergebnissen.

In spezifischer Weise betroffen von den Entwicklungen der Biomedizin sind
auf der einen Seite Frauen, da im Rahmen von künstlicher Befruchtung, mögli-
cher Präimplantationsdiagnostik und pränataler Diagnostik oder Therapie, ihre
körperliche Integrität und Selbstbestimmung besonders gefährdet erscheint. Sie
sind es auch, die die Entscheidung bezüglich pränataler Tests und dem weiteren
Austragen oder dem Abbruch der Schwangerschaft letztlich treffen müssen.
Letztendlich müssen sie den Konflikt mit den gesellschaftlichen Erwartungen
austragen.

Auf der anderen Seite drohen Entwicklungen der Biomedizin und der mit ihr in
besonderem Maße verbundenen Entscheidungen über die Bereitstellung und
Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen zu einer Gefahr für geistig und kör-
perlich Behinderte, chronisch Kranke, Komapatientinnen und Komapatienten
und Menschen mit Demenz zu werden. Die Gefahr, negativ betroffen zu sein,
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ist unterschiedlich groß. Sie ist nicht in jedem Fall offenkundig, wie sie dies
etwa im Fall der Ausweitung der pränatalen Diagnostik hinsichtlich behinderter
Menschen ist. Sicher ist auch, dass die Rationierungsdiskussion im Gesund-
heitswesen nicht allein biomedizinschen Entwicklungen zuzuschreiben ist.
Dennoch kann etwa die Ausweitung genetischer Tests und genetischer „Thera-
pien“ ein Gesundheitswesen befördern, das Ausgrenzung und die Pflicht zur
„genetischen Selbstvorsorge“ als Grundlagen anerkennt.

III.

Die Sorge vieler Menschen, von Entwicklungen der Biomedizin bedroht zu
sein, rührt auch aus dem Eindruck, die ethische Reflexion dieser Entwick-
lungen werde entweder den mit Eigeninteressen beteiligten Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftlern selbst überlassen, oder Ethikerinnen und Ethikern,
die diese Entwicklungen legitimatorisch verfolgen oder gar vorantreiben. Die
Frage ist zumeist nicht, ob im Namen von Ethik über biomedizinische Entwick-
lungen öffentlich gesprochen wird, sondern wer dies an welchem Ort in wessen
Interesse tut. Dabei zeichnen sich diejenigen Gremien, die im Bereich der Bio-
medizin ethisch zu begründende Entscheidungen treffen sollen, meist durch
fehlende demokratische Legitimation, mangelnde Transparenz und einseitige
Spezialistinnen- und Spezialisten-Zusammensetzung aus.

Im Zuge der Fortentwicklung der biomedizinischen Techniken ist ein „Bio-
ethik-Diskurs“ modern geworden, dem es an Grundsätzen mangelt, die eine
kritische Distanz zu diesen Techniken gewährleisten. Diese mangelnde Distanz
ist nicht nur bei utilitaristisch argumentierenden, angelsächsischen Autoren
festzustellen.

Angesichts dessen besteht die Notwendigkeit, eine möglichst breite öffentliche
Diskussion darüber zu führen, wie die Bindung der Biomedizin an die grund-
gesetzlich geschützte Würde jedes einzelnen Menschen, einen hippokratischen
Medizin-Ethos und die Menschenrechte gewährleistet werden kann. Es geht
auch darum, welche Anforderungen zu stellen sind, um körperliche Integrität
und Selbstbestimmung aller Menschen zu sichern.

Unverzichtbar ist hierfür, politische Prozesse und ihre Grundlagen mit in die
ethische Reflexion einzubeziehen. Eine allein auf Fallargumentationen beru-
hende oder die politischen Strukturen ausblendende ethische Überlegung ge-
nügt nicht.

Wichtiger Maßstab für die ethische und politische Reflexion ist ein solidari-
sches und gerechtes System der Gesundheitsfürsorge.

IV.

Vor dem Hintergrund der weitreichenden Auswirkungen der Biomedizin und
einem gesellschaftlichen und parlamentarischen Beratungsbedarf bietet sich
mit der Enquete-Kommission eine Möglichkeit der gründlichen Diskussion, die
die Entscheidungsfindung im Bereich der Biomedizin demokratisieren kann.
Sie kann zur Information von Öffentlichkeit und Parlament beitragen und not-
wendige parlamentarische Entscheidungen vorbereiten.

Ziel der Enquete-Kommission sollte sein, neben den Positionen von Interessen-
gruppen, die an den Entwicklungen der Biomedizin unmittelbar beteiligt sind,
auch anderen Standpunkten und Interessen Gehör zu verschaffen. Eine breite
Beteiligung von Bürgerinitiativen und Selbsthilfeorganisationen – nicht nur
von Spezialistinnen und Spezialisten – ist deshalb unverzichtbar. Die Enquete-
Kommission kann so auch dazu beitragen, die unterschiedlichen Aspekte und
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Herangehensweisen zum Themenfeld „Biomedizin“ öffentlich und bewusst zu
machen.

Es wird empfohlen, den beim Bundesministerium für Gesundheit kürzlich be-
rufenen Ethikbeirat entsprechend der Geschäftsordnung und seiner spezifischen
Aufgaben für die Arbeit der Enquete-Kommission zu nutzen.

Die Enquete-Kommission wird durch ihre Diskussionen die Dynamik der Wei-
terentwicklung biomedizinischer Techniken zunächst kaum verlangsamen. Ein-
zelne parlamentarische Entscheidungen werden jedoch zunächst zurückgestellt
mit dem Vorteil, eine grundlegende Auseinandersetzung führen zu können, die
von vielen Menschen als dringend notwendig angesehen wird. Diese Auseinan-
dersetzung über grundrechtliche, medizinethische, soziale und politische Fra-
gen weist deutlich über aktuelle Regelungsfragen hinaus.

V.

Die Enquete-Kommission soll Informationen über den heutigen Stand und
mögliche zukünftige Entwicklungen der Biomedizin einholen und bereitstellen.
Sie soll deutlich machen, woher diese Entwicklungen ihre Dynamik erlangen
und welche Interessen diesen Prozess tragen und vorantreiben. Sie soll die öf-
fentliche Diskussion fördern und die sich aus den Entwicklungen ergebenden
Probleme und die dahinter stehenden ethischen und politischen Grundfragen
deutlich machen. Sie soll dabei eine allgemein verständliche Form und Sprache
wählen, um so einen möglichst großen Beitrag zur Aufklärung der Öffentlich-
keit zu leisten.

Die Enquete-Kommission soll Empfehlungen erarbeiten, welche rechtlichen,
politischen, sozialen und institutionellen Maßnahmen national ergriffen werden
sollten, um eine den Grundrechten und ethischen Grundsätzen verpflichtete
Medizin besonders im Hinblick auf die Entwicklung biomedizinischer Techni-
ken sicher zu stellen.

Sie soll darüber hinaus Empfehlungen aussprechen, wie dieser Anspruch auf
europäischer und internationaler Ebene eingelöst werden kann. Insbesondere
soll sie prüfen, ob das „Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin“ des
Europarates sowie seine Zusatzprotokolle diesem Anspruch genügen und
hierzu ein Votum abgeben.

Die Enquete-Kommission soll folgende Themenkomplexe interdisziplinär be-
handeln:



Pränatale Diagnostik und humangenetische Beratung,



Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, In-vitro-Fertilisation und
Erfahrungen mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz,



Klonierung menschlicher Zellverbände,



Gentherapien und Keimbahnintervention,



Gendiagnostik und Datenschutz,



Organtransplantation, Transplantation von fetalem Gewebe, Xenotransplan-
tation und Erfahrungen mit dem deutschen Transplantationsgesetz,



Forschung an „nicht-einwilligungsfähigen“ Menschen,



Forschung mit Zustimmung der Betroffenen bei Strafgefangenen, anderen
Abhängigen, insbesondere Menschen in sozialer Notlage,



Sterbehilfe und Behandlungsbegrenzung bei schwerbehinderten Neugebore-
nen und unheilbar kranken Menschen,
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Verteilung der Mittel in Medizin, Gesundheitswesen und Forschung im Hin-
blick auf die weitere Entwicklung einer Medizin der Zukunft.

VI.

1. Die Enquete-Kommission sollte im Einvernehmen der Fraktionen maximal
bis zu 15 Mitglieder des Deutschen Bundestages und eine entsprechende
Zahl nicht dem Deutschen Bundestag oder der Bundesregierung angehören-
der Sachverständiger haben.

2. Die Fraktion der SPD könnte demzufolge bis zu sieben Mitglieder und sie-
ben Sachverständige, die Fraktion der CDU/CSU bis zu fünf Mitglieder und
fünf Sachverständige, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Frak-
tion der F.D.P. und die Fraktion der PDS je ein Mitglied und eine/n Sachver-
ständige/n benennen.

3. Für jedes Mitglied des Deutschen Bundestages kann ein stellvertretendes
Mitglied benannt werden.

4. Die Enquete-Kommission soll dem Deutschen Bundestag ihren Abschluss-
bericht mit den Empfehlungen bis Frühjahr 2002 vorlegen.

Berlin, den 23. November 1999

Angela Marquardt
Dr. Ilja Seifert
Dr. Ruth Fuchs
Kersten Naumann
Eva-Maria Bulling-Schröter
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Fred Gebhardt
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