BT-Drucksache 14/1542

Aufbau Ost muß weitergehen

Vom 7. September 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1542
14. Wahlperiode 07. 09. 99

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Türk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg
van Essen, Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Walter Hirche,
Ulrich Irmer, Jürgen Koppelin, Dirk Niebel, Dr. Günter Rexrodt, Dr. Irmgard Schwaetzer
und der Fraktion der F.D.P.

Aufbau Ost muss weitergehen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die neue rot-grüne Bundesregierung befindet sich in einer Krise. SPD und Grü-
ne wissen schon nach elf Monaten Regieren nicht mehr, was sie eigentlich wol-
len. Zur Überwindung ihrer politischen Orientierungslosigkeit wird darum in
beiden Regierungsparteien der Ruf nach einer Grundsatzdebatte laut. Die sich
anhäufenden Probleme drängen nach einer Lösung, denn die von ihnen betrof-
fenen Menschen können nicht warten.

Besonders prekär ist die Situation für die neuen Länder. Der Aufbau Ost ist in
großen Teilen zum Erliegen gekommen. Der dafür eingesetzte Staatsminister im
Kanzleramt Rolf Schwanitz hat keine Kompetenzen und führt ein Schattenda-
sein. Wichtige Reformen zur Stärkung der ostdeutschen Wirtschaft besitzen nur
Ankündigungscharakter. Bedeutende Infrastrukturmaßnahmen in den neuen
Ländern, wie beispielsweise die ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt, werden aus
Spargründen eingestellt, die Subvention der westdeutschen Steinkohle dagegen
auf hohem Niveau beibehalten.

Das Ziel, durch den Aufbau einer leistungsstarken Wirtschaft die Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland zu erreichen, rückt in weite
Ferne. Ein Indiz dafür ist, dass die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland eher grö-
ßer als kleiner geworden ist und eine doppelt so hohe Rate wie in Westdeutsch-
land erreicht. Zudem liegen die Löhne und Gehälter in den neuen Bundeslän-
dern bei 60 bis 85 Prozent des westdeutschen Niveaus, die Preise und Mieten
jedoch auf gleicher Höhe oder darüber.

Die Orientierungslosigkeit der Bundesregierung wirft den Aufbau Ost um Jahre
zurück. Damit größerer Schaden noch abgewendet werden kann, müssen die Re-
formen jetzt angepackt werden, damit der Aufbau Ost weitergehen kann.

Deshalb fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf:

1. die Gesetze zu den „630-DM-Jobs“ und zur „Scheinselbständigkeit“ mit
ihren fatalen Wirkungen, insbesondere auf die Arbeitsplatzsituation in
Ostdeutschland, unverzüglich auszusetzen;

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2. die Einkommensteuerreform, von der speziell die schlechter verdienenden
Ostdeutschen profitieren, vorzuziehen und die Gewerbeertragssteuer abzu-
schaffen. Das sollte noch in dieser Legislaturperiode geschehen. Bei der Ein-
kommensteuerreform sollte der von der F.D.P. vorgeschlagene Drei-Stufen-
Tarif zum Tragen kommen:

Steuersatz Null für die Einkommensstufe bis ca. 13 000 DM,
15 % für die Einkommensstufe von über 13 000 bis 20 000 DM,
25 % für die Einkommensstufe von über 20 000 bis 60 000 DM,
35 % für die Einkommensstufe über 60 000 DM.

Diese Einkommensstufen gelten für Ledige. Für Verheiratete gelten jeweils
die doppelten Beträge für die Einkommensstufen.

Die Gewerbeertragssteuer ist abzuschaffen, weil sie eine hohe Sondersteuer
auf Unternehmen ist, die Arbeitsplätze schaffen und erhalten sollen. Sie be-
lastet insbesondere die kapitalschwachen kleinen und mittleren Betriebe des
Ostens, die wenig oder keine internationalen Gestaltungsspielräume bei der
Steuer haben;

3. ihren bisherigen Investitionsschwerpunkt für die Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Bundesländern beizuhalten und die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit
zügig und in bisher geplantem Maße zu realisieren. Eingeleitete und geplante
Infrastrukturmaßnahmen sind unabdingbare Voraussetzung für das wirt-
schaftliche Wachstum in den neuen Ländern. Nicht Investitionen dürfen ge-
kürzt, sondern Dauersubventionen müssen gestrichen werden;

4. die versprochene Vereinfachung der Antragswege bei Förderprogrammen für
Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand endlich umzusetzen, um Inves-
titionen in Gang zu setzen und zu beschleunigen. Dabei sollte der Schwer-
punkt der Förderung auf Investititionszulagen gelegt werden;

5. die bewusste Zahlungsverschleppung (schlechte Zahlungsmoral) als billige
Kreditbeschaffung, die für die kapitalschwachen ostdeutschen Betriebe exis-
tenzbedrohende Folgen hat, u. a. durch eine Erhöhung der gesetzlichen Ver-
zugszinsen auf Höhe der Kontokorrentzinsen zu bekämpfen;

6. um die unter mangelnder Liquidität leidenden Unternehmen zu stärken, ist
die Umsatzgrenze, ab der Unternehmen die Mehrwertsteuer schon bei Rech-
nungserstellung abführen müssen, von heute 1 Mio. DM für die Betriebe in
den neuen Ländern auf mindestens 5 Mio. DM Jahresumsatz zu erhöhen. Die
Mehrwertsteuer soll von Betrieben unter dieser Umsatzgrenze erst abgeführt
werden müssen, wenn das Entgelt tatsächlich vereinnahmt ist;

7. durch Investivlohnmodelle müssen, insbesondere in Ostdeutschland, die
Möglichkeiten breiter Vermögensbildung noch stärker als bisher verbessert
und erweitert werden. Für Bürgerinnen und Bürger, die in der früheren DDR
geringere Chancen für eine private Vermögensbildung hatten, muss als Nach-
teilsausgleich ein Bonus vorgesehen werden;

8. das Sonderwohngeldrecht Ost muss durch ein höheres gesamtdeutsches
Wohngeld ersetzt werden. Zusätzlich müssen die vorhandenen Förderinstru-
mente effizienter eingesetzt werden, um den Strukturwandel der ostdeut-
schen Wohnungswirtschaft zu unterstützen, den Leerstand abzubauen und
soziale Brennpunkte zu verhindern. Wir brauchen außerdem mehr Bürger,
die in den eigenen vier Wänden wohnen;

9. für Arbeitsverhältnisse mit geringer Produktivität, bei denen der Lohn nicht
zu einem ausreichenden Einkommen der Arbeitnehmer und ihren Familien
reicht, verbesserte Mischformen zwischen Arbeitsentgelt und staatlichen

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Transferleistungen („Kombi-Einkommen“, „Negativsteuer“) zum Einsatz
kommen zu lassen.

Über eine geringere Anrechnung des Arbeitsentgeltes auf die Arbeitslosen-
hilfe bzw. die Sozialhilfe als bisher soll ein zusätzlicher Anreiz zur Aufnah-
me regulärer Arbeit geschaffen werden. Durch Zusammenfassung und Har-
monisierung staatlicher Unterstützungsleistungen kann gleichzeitig ein
Einstieg in das von der F.D.P. vorgeschlagene „Bürgergeldsystem“ erreicht
werden. Für ein Gebiet mit extrem hoher Arbeitslosigkeit wie den Osten
Deutschlands sind solche Maßnahmen besonders wichtig;

10. mehr Dynamik in den Investitionsprozess zu bringen und die Förderung von
FuE zu stärken.

Die Innovationsförderung der neuen Bundesländer ist unzureichend. Das
zeigt sich schon daran, dass nur 5 % der betrieblichen FuE heute in Ost-
deutschland stattfindet. Die Zahl der Patentanmeldungen bleibt deutlich
hinter Westdeutschland zurück (in den neuen Ländern 4 Patente/10 000 Ein-
wohner; in Westdeutschland 13 Patente/10 000 Einwohner). Das führt dazu,
dass die Innovationsdynamik in den neuen Ländern zu gering ist und damit
die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft schwächt;

11. Markterschließung und Absatz auch weiterhin in geeigneter Form zu för-
dern, weil sie die entscheidenden Grundlagen für die Existenz von Unter-
nehmen sind;

12. den strukturschwachen Regionen, zu denen u. a. die Gebiete an der EU-
Außengrenze zählen, eine Entwicklungschance zu geben durch besondere
Maßnahmen, zu denen auch eine Grenzlandförderung gehört;

13. im Rahmen einer erneuten Vermögensauseinandersetzung sicherzustellen,
dass die für die Landwirtschaft nicht verfügbaren und nicht verwendbaren
Wirtschaftsgüter aus der Bilanz herausgenommen werden. Um endlich eine
Gleichbehandlung der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe gegenüber an-
deren ostdeutschen Wirtschaftszweigen sicherzustellen, hat nicht nur eine
Zwischenkontrolle zu erfolgen, sondern muss eine Korrektur falscher Bi-
lanzwerte vorgenommen werden;

14. zweckgebunden wieder die kommunale Investitionspauschale aufzulegen,
um den ostdeutschen Kommunen und dem Bauhandwerk wirksam zu hel-
fen. Dabei ist sicherzustellen, dass die vom Bund zur Verfügung gestellten
Mittel direkt die Kommunen erreichen und nicht vorher von Ländern und
Kreisen „abgeschöpft“ werden. Von der F.D.P. 1993 schon einmal initiiert,
wurde seinerzeit notwendige und investitionsintensive Infrastruktur ge-
schaffen.

Berlin, den 7. September 1999

Jürgen Türk Walter Hirche
Rainer Brüderle Ulrich Irmer
Ernst Burgbacher Jürgen Koppelin
Jörg van Essen Dirk Niebel
Ulrike Flach Dr. Günter Rexrodt
Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Irmgard Schwaetzer
Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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