BT-Drucksache 14/1132

Globalisierung als Chance: Der Weg nach vorne für Europa

Vom 11. Juni 1999


Deutscher Bundestag Drucksache 14/1132
14. Wahlperiode

11. 06. 99

Antrag
der Abgeordneten Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Gisela
Frick, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Wolfgang Gerhardt,
Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Heinrich, Walter Hirche,
Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Irmer, Dr. Klaus Kinkel, Jürgen
Koppelin, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Günter Rexrodt, Gerhard Schüßler, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Marita Sehn, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter
Thomae, Jürgen Türk, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der F.D.P.

Globalisierung als Chance: Der Weg nach vorne für Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Unsere Volkswirtschaften und die globalen Wirtschaftsbeziehungen haben
einen radikalen Wandel erfahren. Neue Bedingungen und neue Realitäten
erfordern eine Neubewertung alter Vorstellungen und die Entwicklung neu-
er Konzepte.
In einem großen Teil Europas ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch, und ein
großer Teil dieser Arbeitslosigkeit ist strukturell bedingt. Um dieser Her-
ausforderung begegnen zu können, müssen die europäischen Staaten ge-
meinsam eine neue angebotsorientierte Agenda formulieren und umsetzen.
Fairneß, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität
und Verantwortung für andere: Diese Werte sind zeitlos. Wir werden sie nie
preisgeben. Um diese Werte für die heutigen Herausforderungen relevant zu
machen, bedarf es realistischer und vorausschauender Politik, die in der Lage
ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu erkennen. Modernisie-
rung der Politik bedeutet nicht, auf Meinungsumfragen zu reagieren, son-
dern es bedeutet, sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen.
Wir müssen unsere Politik in einem neuen, auf den heutigen Stand ge-
brachten wirtschaftlichen Rahmen betreiben, innerhalb dessen der Staat die
Wirtschaft nach Kräften fördert, sich aber nie als Ersatz für die Wirtschaft
betrachtet. Die Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik er-
gänzt und verbessert, nicht aber behindert werden.
Wir teilen ein gemeinsames Schicksal in der EU. Wir stehen den gleichen
Herausforderungen gegenüber: Arbeitsplätze und Wohlstand fördern, jedem
einzelnen Individuum die Möglichkeit bieten, seine eigenen Potentiale zu
entwickeln, soziale Ausgrenzung und Armut bekämpfen; materiellen Fort-
schritt, ökologische Nachhaltigkeit und unsere Verantwortung für zukünfti-
ge Generationen miteinander vereinbaren; Probleme wie Drogen und Kri-

minalität, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaften bedrohen, wirksam
bekämpfen und Europa zu einem attraktiven Modell in der Welt machen.
Wir müssen voneinander lernen und uns an der besten Praxis und Erfahrung
in anderen Ländern messen. Mit diesem Appell wollen wir die anderen Re-
gierungen Europas, die unsere Modernisierungsziele teilen, einladen, sich
an unserer Diskussion zu beteiligen.

1. Aus Erfahrung lernen
Wir müssen heute realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderun-
gen in Gesellschaft und Ökonomie entwickeln. Dies erfordert Treue zu un-
seren Werten, aber Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditio-
nellen Instrumente.
O In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit

manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt.
Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Ver-
antwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit
Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Di-
versität und herausragender Leistung. Einseitig wurde die Arbeit immer
höher mit Kosten belastet.

O Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen
Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung
der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder pri-
vate Ausgaben. Qualitätvolle soziale Dienstleistungen sind ein zentra-
les Anliegen, aber soziale Gerechtigkeit läßt sich nicht an der Höhe der
öffentlichen Ausgaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft
ist, wie effizient diese Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die
Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen.

O Die Ansicht, daß der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müs-
se, führte allzuoft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung
und Bürokratie. Wir haben Werte, die den Bürgern wichtig sind – wie
persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwor-
tung und Gemeinsinn – zu häufig zurückgestellt hinter universelles Si-
cherungsstreben.

O Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verant-
wortung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann
nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseiti-
gen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns,
zu mangelnder Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kri-
minalität und Vandalismus und einer Überlastung des Rechtssystems.

O Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft
hinsichtlich der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen wurde
über-, die Bedeutung des einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaf-
fung von Wohlstand unterschätzt. Die Schwächen der Märkte wurden
über-, ihre Stärken unterschätzt.

2. Neue Konzepte für veränderte Realitäten
O Die Politik richtet sich an den Problemen der Menschen aus, die mit dem

raschen Wandel der Gesellschaften leben und zurechtkommen müssen.
In dieser neu entstehenden Welt wollen die Menschen Politiker, die Fra-
gen ohne ideologische Vorbedingungen angehen und unter Anwendung
ihrer Werte und Prinzipien nach praktischen Lösungen für ihre Proble-

Drucksache 14/1132 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

me suchen, mit Hilfe aufrichtiger, wohl konstruierter und pragmatischer
Politik. Wähler, die in ihrem täglichen Leben Initiative und Anpas-
sungsfähigkeit im Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialen Ver-
änderungen beweisen müssen, erwarten das gleiche von ihren Regie-
rungen und ihren Politikern.

O In einer Welt immer rascherer Globalisierung und wissenschaftlicher
Veränderungen müssen wir Bedingungen schaffen, in denen bestehen-
de Unternehmen prosperieren und sich entwickeln und neue Unterneh-
men entstehen und wachsen können.

O Neue Technologien ziehen radikale Veränderungen der Arbeit sowie eine
Internationalisierung der Produktion nach sich. Einerseits führen sie
dazu, daß Fertigkeiten verlorengehen und einige Wirtschaftszweige
schrumpfen, andererseits fördern sie die Entstehung neuer Unternehmen
und Tätigkeiten. Daher besteht die wichtigste Aufgabe der Modernisie-
rung darin, in Humankapital zu investieren, um sowohl den einzelnen
als auch die Unternehmen auf die wissensgestützte Wirtschaft der Zu-
kunft vorzubereiten.

O Ein einziger Arbeitsplatz für das ganze Leben ist Vergangenheit. Wir
müssen den wachsenden Anforderungen an die Flexibilität gerecht wer-
den und gleichzeitig soziale Mindestnormen aufrechterhalten, Familien
bei der Bewältigung des Wandels helfen und Chancen für die eröffnen,
die nicht Schritt halten können.

O Wir stehen zunehmend vor der Herausforderung, umweltpolitische Ver-
antwortung gegenüber künftigen Generationen mit materiellem Fort-
schritt für die Breite der Gesellschaft zu vereinbaren.
Wir müssen Verantwortung für die Umwelt mit einem modernen, markt-
wirtschaftlichen Ansatz verbinden. Was den Umweltschutz anbelangt,
so verbrauchen die neuesten Technologien weniger Ressourcen, eröff-
nen neue Märkte und schaffen Arbeitsplätze.

O Die Höhe der Staatsausgaben hat trotz einiger Unterschiede mehr oder
weniger die Grenzen der Akzeptanz erreicht. Die notwendige Kürzung
der staatlichen Ausgaben erfordert eine radikale Modernisierung des öf-
fentlichen Sektors und eine Leistungssteigerung und Strukturreform der
öffentlichen Verwaltung.
Der öffentliche Dienst muß den Bürgern tatsächlich dienen: Wir werden
daher nicht zögern, Effizienz-, Wettbewerbs- und Leistungsdenken ein-
zuführen.

O Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich den Veränderungen in der
Lebenserwartung, der Familienstruktur und der Rolle der Frauen an-
passen. Wir müssen Wege finden, die immer drängenderen Probleme
von Kriminalität, sozialem Zerfall und Drogenmißbrauch zu bekämp-
fen.
Wir müssen uns an die Spitze stellen, wenn es darum geht, eine Gesell-
schaft mit gleichen Rechten und Chancen für Frauen und Männer zu
schaffen.

O Armut, insbesondere unter Familien mit Kindern, bleibt ein zentrales
Problem. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von
Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

O Die Kriminalität ist ein zentrales politisches Thema: So verstehen wir
Sicherheit auf den Straßen als ein Bürgerrecht.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/1132

O Und: Eine Politik für lebenswerte Städte fördert Gemeinsinn, schafft Ar-
beit und macht die Wohnviertel sicherer.

O Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als
herausfordern. Problemlösungen müssen vernetzt werden.

O Innerhalb des öffentlichen Sektors muß es darum gehen, Bürokratie auf
allen Ebenen abzubauen, Leistungsziele zu formulieren, die Qualität öf-
fentlicher Dienste rigoros zu überwachen und schlechte Leistungen aus-
zumerzen.

O Einige Probleme lassen sich jetzt nur noch auf europäischer Ebene lö-
sen. Andere, wie die jüngsten Finanzkrisen, erfordern eine stärkere in-
ternationale Zusammenarbeit. Im Grundsatz sollte jedoch gelten, daß
Machtbefugnisse an die niedrigstmögliche Ebene delegiert werden.

Wenn die neue Politik gelingen soll, muß sie eine Aufbruchstimmung und
einen neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern.
Dies erfordert:
O kompetente und gut ausgebildete Arbeitnehmer, die willens und bereit

sind, neue Verantwortung zu übernehmen;
O ein Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert und neue Spiel-

räume öffnet;
O ein positives Klima für unternehmerische Selbständigkeit und Initiati-

ve. Kleine Unternehmen müssen leichter zu gründen sein und überle-
bensfähiger werden.

O Wir wollen eine Gesellschaft, die erfolgreiche Unternehmer ebenso po-
sitiv bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Krea-
tivität in allen Lebensbereichen zu schätzen weiß.

Staaten haben unterschiedliche Traditionen im Umgang zwischen Staat, In-
dustrie, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, aber viele teilen
die Überzeugung, daß die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz über-
wunden werden müssen.

3. Eine neue angebotsorientierte Agenda
Europa sieht sich der Aufgabe gegenüber, den Herausforderungen der Welt-
wirtschaft zu begegnen und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt ange-
sichts tatsächlicher oder subjektiv empfundener Ungewißheit zu wahren.
Eine Zunahme der Beschäftigung und der Beschäftigungschancen ist die be-
ste Garantie für eine in sich gefestigte Gesellschaft.
Es darf jedoch keine Renaissance des „deficit spending“ und massiver staat-
licher Intervention im Stile der siebziger Jahre geben. Eine solche Politik
führt heute in die falsche Richtung.
Wir wollen den Sozialstaat modernisieren, nicht abschaffen. Wir wollen neue
Wege der Solidarität und der Verantwortung für andere beschreiten, ohne
die Motive für wirtschaftliche Aktivitäten auf puren Eigennutz zu gründen.

Ein robuster und wettbewerbsfähiger marktwirtschaftlicher Rahmen
Wettbewerb auf den Produktmärkten und offener Handel sind von wesent-
licher Bedeutung für die Stimulierung von Produktivität und Wachstum. Aus
diesem Grund sind Rahmenbedingungen, unter denen ein einwandfreies
Spiel der Marktkräfte möglich ist, entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg
und eine Vorbedingung für eine erfolgreichere Beschäftigungspolitik.

Drucksache 14/1132 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

O Die EU sollte auch weiterhin als entschiedene Kraft für die Liberalisie-
rung des Welthandels eintreten.

O Die EU sollte auf den Errungenschaften des Binnenmarktes aufbauen,
um wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu stärken, die das Produkti-
vitätswachstum fördern.

Eine auf die Förderung nachhaltigen Wachstums ausgerichtete Steuerp o l i t i k
Wir erkennen an, daß Steuersenkungen unter den richtigen Umständen we-
sentlich dazu beitragen können, ihre übergeordneten gesellschaftlichen Zie-
le zu verwirklichen.
So stärken Körperschaftsteuersenkungen die Rentabilität und schaffen In-
vestitionsanreize. Höhere Investitionen wiederum erweitern die Wirt-
schaftstätigkeit und verstärken das Produktivpotential. Dies trägt zu einem
positiven Dominoeffekt bei, durch den Wachstum die Ressourcen vermehrt,
die für öffentliche Ausgaben für soziale Zwecke zur Verfügung stehen.
O Die Unternehmensbesteuerung sollte vereinfacht, und die Körperschaft-

steuersätze sollten gesenkt werden, wie dies das Vereinigte Königreich
getan hat.

O Um sicherzustellen, daß Arbeit sich lohnt, und um die Fairneß des Steuer-
systems zu stärken, sollten Familien und Arbeitnehmer entlastet werden.

O Investitionsneigung und Investitionskraft der Unternehmen – insbeson-
dere des Mittelstandes – sollten gestärkt werden, wie es die Reform der
Kapitaleinkünfte und der Unternehmenssteuern in Großbritannien zeigt.

O Die Steuerbelastung von harter Arbeit und Unternehmertum sollte re-
duziert werden. Die Steuerbelastung insgesamt sollte neu ausbalanciert
werden.

O Auf EU-Ebene sollte die Steuerpolitik energische Maßnahmen zur
Bekämpfung des unlauteren We t t b ewerbs und der Steuerflucht unterstüt-
zen. Dies erfordert bessere Zusammenarbeit, nicht Uniformität. Wir we r-
den keine Maßnahmen unterstützen, die zu einer höheren Steuerlast führen
und die We t t b ewe r b s f ä h i g keit und Arbeitsplätze in der EU gefährden.

Angebots- und Nachfragepolitik gehören zusammen und sind keine Alter-
nativen
Wir erkennen an, daß eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und kom-
plementäre Rolle zu spielen hat.
In der heutigen Welt haben die meisten wirtschaftspolitischen Entschei-
dungen Auswirkungen sowohl auf Angebot als auch auf Nachfrage.
O Erfolgreiche Programme, die von der Sozialhilfe in die Beschäftigung

führen, steigern das Einkommen der zuvor Beschäftigungslosen und ver-
bessern das den Arbeitgebern zur Verfügung stehende Arbeitskräftean-
gebot.

O Moderne Wirtschaftspolitik strebt an, die Nettoeinkommen der Be-
schäftigten zu erhöhen und zugleich die Kosten der Arbeit für die
Arbeitgeber zu senken. Deshalb hat die Senkung der gesetzlichen Lohn-
nebenkosten durch strukturelle Reformen der sozialen Sicherungssy-
steme und eine zukunftsorientierte, beschäftigungsfreundliche Steuer-
und Abgabenstruktur besondere Bedeutung.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/1132

Ziel ist es, den Scheinwiderspruch von Angebots- und Nachfragepolitik zu-
gunsten eines fruchtbaren Miteinanders von mikroökonomischer Flexibi-
lität und makroökonomischer Stabilität zu überwinden.
Um in der heutigen Welt ein größeres Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu
erreichen, müssen Volkswirtschaften anpassungsfähig sein: Flexible Märk-
te sind ein Ziel.
Makroökonomische Politik verfolgt noch immer einen wesentlichen Zweck:
Sie will den Rahmen für stabiles Wachstum schaffen und extreme Kon-
junkturschwankungen vermeiden. Wir müssen aber erkennen, daß die Schaf-
fung der richtigen makroökonomischen Bedingungen nicht ausreicht, um
Wachstum zu stimulieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Veränderungen der Zinssätze oder der Steuerpolitik führen nicht zu ver-
stärkter Investitionstätigkeit und zu mehr Beschäftigung, wenn nicht gleich-
zeitig die Angebotsseite der Wirtschaft anpassungsfähig genug ist, um zu
reagieren. Um die europäische Wirtschaft dynamischer zu gestalten, müs-
sen wir sie auch flexibler machen.
O Unternehmen müssen genügend Spielraum haben, um sich die verbes-

serten Wirtschaftsbedingungen zunutze zu machen und neue Chancen
zu ergreifen: Sie dürfen nicht durch Regulierungen und Paragraphen er-
stickt werden.

O Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen allesamt flexibel sein:
Wir dürfen nicht Rigidität in einem Teil des Wirtschaftssystems mit Of-
fenheit und Dynamik in einem anderen verbinden.

Anpassungsfähigkeit und Flexibilität stehen in der wissensgestützten
Dienstleistungsgesellschaft in Zukunft immer höher im Kurs
Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen
Produktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft.
Wir müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftliche Umbruch mit
sich bringt. Sie bietet Europa die Gelegenheit, zu den Vereinigten Staaten
aufzuschließen. Sie eröffnet Millionen Menschen die Chance, neue Ar-
beitsplätze zu finden, neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Berufe zu ergrei-
fen, neue Unternehmen zu gründen und zu erweitern – kurzum, ihre Hoff-
nung auf eine bessere Zukunft zu verwirklichen.
Wir müssen aber auch anerkennen, daß sich die Gru n d voraussetzungen für
w i rtschaftlichen Erfolg ve r ä n d e rt haben. Dienstleistungen kann man nicht
auf Lager halten: Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht – zu un-
terschiedlichen Tageszeiten, auch außerhalb der heute als üblich geltenden
Arbeitszeit. Das rasche Vordringen des Informationszeitalters, insbesondere
das enorme Potential des elektronischen Handels, verspricht, die Art, wie wir
einkaufen, lernen, miteinander kommunizieren und uns entspannen, radikal
zu ve r ä n d e rn. Rigidität und Überr eg u l i e rung sind ein Bremsklotz für die wis-
s e n s o r i e n t i e rte Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sie ersticken das In-
n ovationspotential, das zur Schaffung neuen Wachstums und neuer Arbeits-
plätze erforderlich ist. Wir brauchen nicht we n i g e r, sondern mehr Flex i b i l i t ä t .

Ein aktiver Staat in einer neuverstandenen Rolle hat einen zentralen Beitrag
zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten
Flexible Märkte müssen mit einer neu definierten Rolle für einen aktiven
Staat kombiniert werden. Erste Priorität muß die Investition in menschliches
und soziales Kapital sein.

Drucksache 14/1132 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Wenn auf Dauer ein hoher Beschäftigungsstand erreicht werden soll, müs-
sen Arbeitnehmer auf sich verändernde Anforderungen reagieren. Unsere
Volkswirtschaften leiden an einer erheblichen Diskrepanz zwischen offenen
Stellen, die nicht besetzt werden können (z. B. im Bereich Informations- und
Kommunikationstechnologie), und (dem Mangel an) angemessen qualifi-
zierten Bewerbern.
Dies bedeutet, daß Bildung keine „einmalige“ Chance sein darf: Zugang und
Nutzung zu Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die
wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar. Die Regierungen
sind deshalb dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der es den
einzelnen ermöglicht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten
auszuschöpfen. Dies muß heute höchste Priorität haben.
O Die Ausbildungsqualität auf allen Ebenen der schulischen Bildung und

für jede Art von Begabung muß gesteigert werden: Wo Probleme bei Le-
sen, Schreiben und Rechnen bestehen, müssen diese behoben werden,
da wir ansonsten Menschen zu einem Leben mit niedrigem Einkommen,
Unsicherheit und Arbeitslosigkeit verurteilen.

O Wir wollen, daß jeder Jugendliche die Chance erhält, sich über eine qua-
lifizierte Berufsausbildung den Weg in die Arbeitswelt zu bahnen. Wir
müssen sicherstellen, daß Bildungschancen und eine ausreichende Zahl
von Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt und die Bedürfnisse der
lokalen Arbeitsmärkte gedeckt werden.

O Wir müssen die nachschulische Ausbildung reformieren und ihre Qua-
lität heben und gleichzeitig Bildungs- und Ausbildungsprogramme mo-
dernisieren, um Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit im späteren
Leben zu fördern. Dem Staat kommt die besondere Aufgabe zu, Anrei-
ze zur Bildung von Sparkapital zu setzen, um die Kosten des lebenslan-
gen Lernens bestreiten zu können. Auch soll ein breiterer Bildungszu-
gang durch die Förderung des Fernunterrichts geschaffen werden.

O Wir sollten sicherstellen, daß die Ausbildung eine wesentliche Rolle in
unseren aktiven Arbeitsmarktpolitiken für Arbeitslose und die von Ar-
beitslosigkeit betroffenen Haushalte spielt.

Eine moderne und effiziente öffentliche Infrastruktur einschließlich einer
starken Wissenschaftsbasis ist ein wesentliches Merkmal einer dynamischen
arbeitsplätzeschaffenden Wirtschaft. Es ist wichtig sicherzustellen, daß sich
die öffentlichen Ausgaben in ihrer Zusammensetzung auf diejenigen Tätig-
keiten konzentrieren, die dem Wachstum und der Förderung des notwendi-
gen Strukturwandels am besten dienen.

Moderne Politik muß Anwalt des Mittelstands sein
Der Aufbau eines prosperierenden Mittelstands muß eine wichtige Priorität
sein. Hier liegt das größte Potential für neues Wachstum und neue Arbeits-
plätze in der wissensgestützten Gesellschaft der Zukunft.
O Menschen unterschiedlichster Herkunft wollen sich selbständig machen:

seit langem etablierte und neue Unternehmer, Anwälte, Computer-
experten, Ärzte, Handwerker, Unternehmensberater, Kulturschaffende
und Sportler. Ihnen muß man den Spielraum lassen, wirtschaftliche In-
itiative zu entwickeln und neue Geschäftsideen zu kreieren. Sie müssen
zur Risikobereitschaft ermutigt werden. Gleichzeitig muß man ihre Be-
lastungen verringern. Ihre Märkte und ihr Ehrgeiz dürfen nicht durch
Grenzen behindert werden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/1132

O Europas Kapitalmärkte sollten geöffnet werden, damit Unternehmen und
Unternehmer leichten Zugang zu Finanzierungsquellen erhalten. Wir
wollen gemeinsam daran arbeiten sicherzustellen, daß High-Tech-Fir-
men im Wachstum denselben Zugang zu den Kapitalmärkten erhalten
wie ihre Konkurrenten.

O Wir sollten es dem einzelnen leicht machen, Unternehmen zu gründen,
und neuen Firmengründungen sollten wir Wege bahnen, indem wir
Kleinunternehmen von administrativen Belastungen befreien und ihren
Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten erweitern. Wir sollten es Klein-
unternehmen im besonderen erleichtern, neues Personal einzustellen:
Dies bedeutet, die Regulierungslast zu verringern und die Lohnneben-
kosten zu senken.

O Die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sollten ge-
stärkt werden, um mehr unternehmerische Nebeneffekte („spin offs“)
aus der Forschung und die Förderung der Konzentration („clusters“) neu-
er High-Tech-Industrien zu gewährleisten.

Gesunde öffentliche Finanzen sollten zum Gegenstand des Stolzes werden
„Deficit Spending“ kann nicht genutzt werden, um strukturelle Schwächen
in der Ökonomie zu beseitigen, die schnelleres Wachstum und höhere Be-
schäftigung verhindern. Wir dürfen deshalb exzessive Staatsverschuldung
nicht tolerieren. Wachsende Verschuldung stellt eine unfaire Belastung kom-
mender Generationen dar. Sie kann unwillkommene Verteilungseffekte ha-
ben. Und schließlich ist Geld, das zum Schuldendienst eingesetzt werden
muß, nicht mehr für andere Prioritäten verfügbar, einschließlich höherer In-
vestitionen in Bildung, Ausbildung und Infrastruktur.

4. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik
Der Staat muß die Beschäftigung aktiv fördern und nicht nur passiver Ver-
sorger der Opfer wirtschaftlichen Versagens sein.
Menschen, die nie gearbeitet haben oder schon lange arbeitslos sind, ver-
lieren die Fertigkeiten, die sie brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt konkur-
rieren zu können. Langzeitarbeitslosigkeit beeinträchtigt die persönlichen
Lebenschancen auch in anderer Weise und macht die uneingeschränkte ge-
sellschaftliche Teilhabe schwieriger.
Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behin-
dert, muß reformiert werden. Wir wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen
in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.
Für unsere Gesellschaften besteht der Imperativ der sozialen Gerechtigkeit
aus mehr als der Verteilung von Geld. Unser Ziel ist eine Ausweitung der
Chancengleichheit, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter oder Behin-
derung – um sozialen Ausschluß zu bekämpfen und die Gleichheit zwischen
Mann und Frau sicherzustellen.
Die Menschen verlangen zu Recht nach hochwertigen Dienstleistungen und
Solidarität für alle, die Hilfe brauchen – aber auch nach Fairneß gegenüber
denen, die das bezahlen. Alle sozialpolitischen Instrumente müssen Lebens-
chancen verbessern, Selbsthilfe anregen, Eigenverantwortung fördern.
Mit diesem Ziel wird in Deutschland das Gesundheitssystem ebenso wie das
System der Alterssicherung umfassend modernisiert, indem beide auf die
Veränderungen in der Lebenserwartung und die sich verändernden Er-
werbsbiographien eingestellt werden, ohne den Grundsatz der Solidarität

Drucksache 14/1132 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

dabei preiszugeben. Derselbe Gedanke stand im Hintergrund bei der Ein-
führung der „Stakeholder Pensions“ und der Reform der Erwerbsunfähig-
keitszahlungen in Großbritannien.
Zeiten der Arbeitslosigkeit müssen in einer Wirtschaft, in der es den le-
benslangen Arbeitsplatz nicht mehr gibt, eine Chance für Qualifizierung und
persönliche Weiterbildung sein. Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind
besser als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeits-
losigkeit in Beschäftigung.
Eine neue Politik mit dem Ziel, arbeitslosen Menschen Arbeitsplätze und
Ausbildung anzubieten, ist eine Priorität – wir erwarten aber auch, daß je-
der die ihm gebotenen Chancen annimmt.
Es reicht aber nicht, die Menschen mit den Fähigkeiten und Kenntnissen
auszurüsten, die sie brauchen, um erwerbstätig zu werden. Das System der
Steuern und Sozialleistungen muß sicherstellen, daß es im Interesse der Men-
schen liegt zu arbeiten. Ein gestrafftes und modernisiertes Steuer- und So-
zialleistungssystem ist eine wesentliche Komponente der aktiven, angebots-
orientierten Arbeitsmarktpolitik. Wir müssen
O dafür sorgen, daß sich Arbeit für den einzelnen und die Familie lohnt.

Der größte Teil des Einkommens muß in den Taschen derer verbleiben,
die dafür gearbeitet haben;

O Arbeitgeber durch den gezielten Einsatz von Subventionen für gering-
fügige Beschäftigung und die Verringerung der Steuer- und Sozialab-
gabenlast auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ermutigen, „Ein-
stiegsjobs“ in den Arbeitsmarkt anzubieten;

O gezielte Programme für Langzeitarbeitslose und andere Benachteiligte
auflegen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich unter Beachtung des
Grundsatzes, daß Rechte gleichzeitig auch Pflichten bedingen, wieder
in den Arbeitsmarkt zu integrieren;

O alle Leistungsempfänger, darunter auch Menschen im arbeitsfähigen Al-
ter, die Erwerbsunfähigkeitsleistungen beziehen, auf ihre Fähigkeit über-
prüfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die staatlichen Stellen
so reformieren, daß sie Arbeitsfähige dabei unterstützen, eine geeigne-
te Beschäftigung zu finden;

O Unternehmergeist und Geschäftsgründungen als gangbaren Weg aus der
Arbeitslosigkeit unterstützen. Solche Entscheidungen bringen erhebli-
che Risiken für diejenigen mit sich, die einen solchen Schritt wagen. Wir
müssen diese Menschen unterstützen, indem wir diese Risiken kalku-
lierbar machen.

Die neue angebotsorientierte Agenda wird den Strukturwandel beschleuni-
gen. Sie wird es aber auch leichter machen, mit ihm zu leben und ihn zu ge-
stalten.
Anpassung an den Wandel ist nie einfach, und der Wandel scheint sich
schneller zu vollziehen als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund der Auswirkun-
gen neuer Technologien. Der Wandel vernichtet unweigerlich Arbeitsplät-
ze, aber er schafft auch neue.
Zwischen dem Verlust von Arbeitsplätzen in einem Sektor und der Schaf-
fung von neuen Arbeitsplätzen anderswo können jedoch zeitliche Lücken
entstehen. Was immer der langfristige Nutzen für Volkswirtschaften und Le-
bensstandard sein mag, in einigen Wirtschaftszweigen und bei einigen Grup-
pen werden sich die Kosten vor dem Nutzen einstellen. Daher müssen wir
unsere Bemühungen darauf konzentrieren, Probleme des Übergangs abzu-
federn. Die unerwünschten Auswirkungen des Wandels werden um so stär-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 9 – Drucksache 14/1132

ker ausfallen, je länger man sich diesem Wandel widersetzt, aber es wäre
Wunschdenken, sie leugnen zu wollen.
Je reibungsloser der Arbeitsmarkt und die Produktmärkte funktionieren,
desto leichter wird die Anpassung gelingen. Beschäftigungshindernisse in
Sektoren mit relativ niedriger Produktivität müssen verringert werden, wenn
Arbeitnehmer, die von den mit jedem Strukturwandel einhergehenden Pro-
duktivitätszuwächsen verdrängt wurden, anderswo Arbeit finden sollen. Der
Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qua-
lifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen.

5. „Politisches Benchmarking“ in Europa
Die Herausforderung besteht in der Formulierung und Umsetzung einer neu-
en Politik in Europa. Wir reden nicht einem einheitlichen europäischen Mo-
dell das Wort, geschweige denn der Umwandlung der EU in einen „Super-
staat“. Wir sind für Europa und für Reformen in Europa.
Die Menschen unterstützen weitere Integrationsschritte, wenn damit ein
wirklicher „Mehrwert“ einhergeht und sie klar begründet werden können,
wie der Kampf gegen Kriminalität und Umweltzerstörung sowie die Förde-
rung gemeinsamer Ziele in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Aber gleich-
zeitig bedarf Europa dringend der Reformen – effizientere und transparen-
tere Institutionen, eine Reform veralteter Politiken und die energische
Bekämpfung von Verschwendung und Betrug.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
nach dem oben dargelegten Konzept zu verfahren und die notwendigen Re-
formen in Deutschland umzusetzen.

Bonn, den 11. Juni 1999

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Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Jürgen Koppelin

Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
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