Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.12.2023, Az. VI ZR 77/23

6. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 9378

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Gegenstand

Schadensersatzanspruch einer Autofahrerin nach Verkehrsunfall im Zusammenhang mit Kollision mit Müllcontainer


Leitsatz

1. Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen.

2. Lässt sich beim Vorbeifahren an einem Müllabfuhrfahrzeug ein ausreichender Seitenabstand, durch den die Gefährdung eines plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten zu 2 wird das Urteil des 14. Zivilsenats des [X.] vom 15. Februar 2023 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde.

2

Die Zeugin M., Mitarbeiterin der Klägerin, fuhr mit deren Fahrzeug aus der Gegenrichtung kommend an einem Müllabfuhrfahrzeug des Beklagten zu 2 vorbei, das mit laufendem Motor, laufender Trommel/Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie Warnblinkanlage in der [X.] stand. Dabei kam es zu einer Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit einem Müllcontainer, den der vormalige Beklagte zu 1, Angestellter des Beklagten zu 2, hinter dem Müllabfuhrfahrzeug quer über die [X.] schob.

3

Mit der Klage hat die Klägerin Erstattung der Fahrzeugreparaturkosten nebst vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Zinsen verlangt.

4

Das [X.] hat der Klage gegen den Beklagten zu 2 unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 : 50 teilweise stattgegeben.

5

Auf die Berufung der Klägerin hat das [X.] das Urteil des [X.]s teilweise abgeändert und den Beklagten zu 2 unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 75 : 25 zu weiterem Schadensersatz verurteilt.

6

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte zu 2 die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

I.

7

Das Berufungsgericht hat die Haftungsquote von 75 (Beklagter zu 2) zu 25 (Klägerin) damit begründet, dass der Zeugin M. entgegen der Ansicht des [X.] kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen sei. Die Klägerin müsse sich deshalb lediglich die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs anrechnen lassen.

8

Der Leerungsvorgang von Mülltonnen und hier das Fortschaffen des entleerten [X.]s vom Müllabfuhrfahrzeug gehöre zum Betrieb des [X.] im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG. Der Beklagte zu 1 habe schuldhaft gegen § 1 Abs. 2 [X.] verstoßen, weil er den [X.] quer über die [X.] geschoben habe, ohne auf das nach den Feststellungen des Sachverständigen erkennbare Fahrzeug der Klägerin zu achten. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 [X.] für Müllabfuhrfahrzeuge befreie nicht vom allgemeinen [X.] [X.]. Der Zeugin M. sei kein Verkehrsverstoß anzulasten. Die Beweislast liege insoweit beim Beklagten zu 2. Zwar sei [X.] gegenüber besondere Vorsicht geboten. Die Annahme anderer Obergerichte, dass an [X.] stets oder zumindest in der Regel mit Schrittgeschwindigkeit und mit einem Sicherheitsabstand von 2 Metern vorbeizufahren sei, ließe sich aber auf § 1 Abs. 2 [X.] und § 3 Abs. 1 [X.] nicht stützen. Maßgeblich seien die Umstände des Einzelfalls. Im Hinblick darauf, dass das Müllabfuhrfahrzeug erkennbar im Einsatz und eine Vorbeifahrt nur mit geringem Seitenabstand (50 cm) möglich gewesen sei, sei die Zeugin verpflichtet gewesen, die gefahrene Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren. Dies habe sie getan, indem sie statt der am Unfallort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h nur 13 km/h gefahren sei. Eine höhere Geschwindigkeit stehe nicht fest. Die Geschwindigkeit von 13 km/h sei hier ausreichend gering, zumal der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt sei, dass der Unfall bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von unter 14 km/h räumlich vermeidbar gewesen wäre. Dafür, dass die Klägerin nicht zu schnell gefahren sei, spreche auch der Umstand, dass es für den Beklagten zu 1 auf der Hand gelegen habe, dass ein etwaig vorbeifahrender Verkehrsteilnehmer ihn und den [X.] zunächst nicht sehen könne. Hätte der Beklagte zu 1 zunächst geschaut oder etwa die Tonne gezogen statt sie zu schieben, hätte er die Zeugin womöglich rechtzeitig gesehen. Auch dies sei bei der Frage zu bedenken, ob der Zeugin ein Verstoß gegen §§ 1, 3 [X.] vorzuwerfen sei. Bei aller gebotenen Vorsicht bei der Vorbeifahrt an einem im Einsatz befindlichen Müllabfuhrfahrzeug müsse nicht mit jedwedem Fehlverhalten der Müllwerker gerechnet werden. Es sei nicht erwiesen, dass die Zeugin den Beklagten zu 1 bereits bei Herannahen gesehen habe oder dass sie damit habe rechnen müssen, dass ohne Weiteres plötzlich ein [X.] hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervorgeschoben würde, was ein Absehen vom Passieren oder zumindest die Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit geboten hätte.

9

Auf Beklagtenseite könne zwar zuzubilligen sein, dass Müllwerker im Einsatz die Sorgfaltspflichten nicht im gleichen Maße einhalten könnten wie andere Verkehrsteilnehmer, da sie anderenfalls ihre Tätigkeit erheblich langsamer verrichten würden. Allerdings stelle sich hier das Verschulden deshalb als erheblich dar, weil der Beklagte zu 1 einen großen, schweren [X.] hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervorgeschoben habe, ohne auf den Verkehr zu achten. Dies sei von vornherein erheblich gefahrenträchtig gewesen. Hinzu komme eine erhöhte Betriebsgefahr aufgrund der Größe des Beklagtenfahrzeugs, die sich in Form von Sichtbeschränkungen auch ausgewirkt habe. Hinsichtlich des [X.] sei von einer leicht erhöhten Betriebsgefahr auszugehen, die das Gericht mit 25 % ansetze.

II.

Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung insoweit nicht stand, als das Berufungsgericht einen in die Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG einzustellenden Verstoß der Zeugin M. gegen § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 [X.] verneint hat.

1. Der Klägerin steht gegen den Beklagten zu 2 als Halter des [X.] ein Anspruch aus § 7 StVG zu. Dieser steht selbständig neben einem etwaigen Anspruch gegen den Beklagten zu 2 als öffentlich-rechtliche Körperschaft aus Art. 34 [X.], § 839 BGB. Auf eine subsidiäre Haftung gemäß § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich der Beklagte zu 2 im Rahmen seiner Halterhaftung aus § 7 StVG nicht berufen ([X.], Urteile vom 27. Juni 1968 - [X.], [X.]Z 50, 271, 273 f., juris Rn. 8, 10; vom 27. Januar 1977 - [X.], [X.]Z 68, 217, 221, juris Rn. 21, 31 (Rn. 31 in [X.]Z nicht abgedruckt); vom 13. Dezember 1990 - [X.], [X.]Z 113, 164, 165, juris Rn. 5).

a) [X.] ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der Pkw der Klägerin "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs" im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG beschädigt worden ist.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist ein Schaden bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, d.h. wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist. Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit grundsätzlich maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. nur Senatsurteil vom 18. Juli 2023 - [X.], [X.], 2062 Rn. 12 mwN).

Bei Kraftfahrzeugen mit Arbeitsfunktionen ist es erforderlich, dass ein Zusammenhang mit der Bestimmung des Kraftfahrzeuges als eine der Fortbewegung und dem Transport dienende Maschine (vgl. § 1 Abs. 2 StVG) besteht. Eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG entfällt daher jedenfalls dann, wenn die [X.] keine Rolle mehr spielt und das Fahrzeug nur noch als Arbeitsmaschine eingesetzt wird oder bei Schäden, in denen sich eine Gefahr aus einem gegenüber der Betriebsgefahr eigenständigen [X.] verwirklicht hat. Wann haftungsrechtlich nur noch die Funktion als Arbeitsmaschine infrage steht, lässt sich nur im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände entscheiden. Dabei ist es unter Schutzzweckgesichtspunkten von Bedeutung, ob der Arbeitseinsatz auf oder in örtlicher Nähe zu [X.]nverkehrsflächen stattfindet (vgl. Senatsurteil vom 18. Juli 2023 - [X.], [X.], 2062 Rn. 13 f. mwN).

Eine Verbindung mit dem "Betrieb" des [X.]. § 7 Abs. 1 StVG hat der Senat beim stehenden Fahrzeug auch dann bejaht, wenn das Kraftfahrzeug in innerem Zusammenhang mit seiner Funktion als Verkehrs- und Transportmittel - gegebenenfalls mit Hilfe einer speziellen Entladevorrichtung - entladen wird. Der Halter haftet auch in diesen Fällen für die Gefahr, die das Kraftfahrzeug beim Entladen in dem in Anspruch genommenen Verkehrsraum für andere Verkehrsteilnehmer darstellt. Hierhin fällt nicht nur die Gefahr durch das entladende Kraftfahrzeug als solches, sondern auch diejenige, die von den Entladevorrichtungen und dem Ladegut ausgeht (Senatsurteil vom 8. Dezember 2015 - [X.], [X.]Z 208, 140 Rn. 14 mwN für das Entladen von Heizöl aus einem Tanklastwagen).

bb) Nach diesen Grundsätzen ist der Pkw der Klägerin bei dem Betrieb des [X.] des Beklagten zu 2 beschädigt worden. Dieses ist zwar auch ein Kraftfahrzeug mit Arbeitsfunktion, der Unfall steht aber in einem haftungsrechtlich relevanten Zusammenhang mit der Bestimmung des [X.] als eine dem Transport von Müll dienende Maschine. Zur Erfüllung der Transportfunktion sind Mülltonnen zum Müllabfuhrfahrzeug zu bringen, dort zu entleeren und wieder zurückzustellen. Die Gefahr, die in diesem Zusammenhang von einer gerade entleerten Mülltonne auf der [X.] für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist damit dem Betrieb des [X.] zuzurechnen.

b) Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG ist nicht frei von Rechtsfehlern.

Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 Abs. 2 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (st. Rspr., vgl. nur Senatsurteil vom 17. Januar 2023 - [X.], NJW 2023, 1361 Rn. 29 mwN).

aa) Rechtlich nicht zu beanstanden sind allerdings die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht das unfallursächliche und schuldhafte Verhalten des Beklagten zu 1 in die Abwägung eingestellt hat. Da das Entleeren und Zurückbringen des [X.]s zum Betrieb des [X.] gehört (s. oben a), begründet ein unfallursächlicher Verstoß des Beklagten zu 1 gegen die [X.] bei dieser Tätigkeit eine Erhöhung der Betriebsgefahr, die im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigen ist. Wie vom Berufungsgericht zutreffend gesehen, befreit die beschränkte Privilegierung von Fahrzeugen der Müllabfuhr durch die Einräumung von Sonderrechten in § 35 Abs. 6 Satz 1 [X.] nicht von der Einhaltung der übrigen Vorschriften der [X.] ([X.], [X.], 671 Rn. 16; [X.] in [X.]/[X.], jurisPK-[X.]nverkehrsrecht, 2. Aufl., § 35 [X.], Stand 24.10.2023, Rn. 124). Dem Beklagten zu 1 ist ein schuldhafter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 [X.] vorzuwerfen, weil er nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hinter dem Müllabfuhrfahrzeug des Beklagten zu 2 einen großen, schweren [X.] quer über die [X.] schob, ohne auf den Verkehr und das Fahrzeug der Klägerin zu achten, welches für ihn - hätte er den [X.] nicht vor sich hergeschoben - erkennbar gewesen wäre. [X.] nicht zu beanstanden ist in diesem Zusammenhang auch die Beurteilung des Berufungsgerichts, es habe für den Beklagten zu 1 auf der Hand gelegen, dass er und der [X.] hinter dem großen Müllabfuhrfahrzeug für vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer zunächst nicht zu sehen waren, und es sei in dieser Situation besonders gefahrenträchtig gewesen, den [X.] zu schieben statt ihn zu ziehen. Denn so konnte der Beklagte zu 1 das herannahende Fahrzeug erst spät wahrnehmen.

Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht eine Erhöhung der Betriebsgefahr schließlich mit der Größe des [X.] und der dadurch bedingten Sichtbeschränkung begründet, die sich auf den Unfall ausgewirkt hat.

bb) Hingegen tragen die getroffenen Feststellungen nicht die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Zeugin M. sei kein (die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin erhöhender) Verstoß gegen die [X.]nverkehrsordnung vorzuwerfen.

(1) Wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend gesehen hat, ist von Verkehrsteilnehmern, die an im Einsatz befindlichen [X.] vorbeifahren, gemäß § 1 [X.] besondere Vorsicht und Rücksichtnahme zu fordern, um Müllwerker nicht zu gefährden. Zwar kann nach dem im [X.]nverkehr geltenden [X.] ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet. Das gilt aber nur, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt (vgl. Senatsurteil vom 4. April 2023 - [X.], NJW 2023, 2108 Rn. 11 mwN). Zu den Ausnahmen vom [X.] zählen nicht nur solche Verkehrswidrigkeiten, die der Verkehrsteilnehmer rechtzeitig wahrnimmt oder hätte wahrnehmen können, sondern auch solche, die möglicherweise noch nicht erkennbar sind, mit denen ein gewissenhafter Fahrer aber pflichtgemäß rechnen muss (vgl. Senatsurteile vom 15. Mai 1973 - [X.], [X.], 765, 766, juris Rn. 13; vom 4. Oktober 1966 - [X.], [X.], 1157, juris Rn. 11; [X.], Beschluss vom 27. Mai 1959 - 4 StR 49/59, [X.]St 13, 169, 173, juris Rn. 12).

(2) Das Hauptaugenmerk der mit dem Holen, Entleeren und Zurückbringen von [X.]n befassten Müllwerker ist auf ihre Arbeit gerichtet, die sie überwiegend auf der [X.] und effizient, das heißt in möglichst kurzer Zeit und auf möglichst kurzen Wegen, zu erledigen haben. Wer an einem Müllabfuhrfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist, darf daher nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Müllwerker vertrauen. Er muss typischerweise damit rechnen, dass Müllwerker plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortreten und unachtsam einige Schritte weiter in den Verkehrsraum seitlich des [X.] tun, bevor sie sich über den Verkehr vergewissern. Auf diese typischerweise mit dem Einsatz von [X.] verbundenen Gefahren hat der vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer sein Fahrverhalten einzurichten. Lässt sich ein ausreichender Seitenabstand zum Müllabfuhrfahrzeug, durch den die Gefährdung eines plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 [X.] so weit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann (vgl. [X.], NJW-RR 1988, 866, 867 und [X.], [X.], 671 Rn. 24 mwN: in der Regel Schrittgeschwindigkeit; ebenso [X.], [X.] 2002, 422, 423, juris Rn. 20; [X.] in [X.], [X.], 28. Aufl., § 35 [X.] Rn. 713; für die Vorbeifahrt an einem Linienbus schon vor Schaffung des heutigen § 20 [X.] vgl. auch: Senatsurteil vom 21. Februar 1967 - [X.], [X.], 582, juris Rn. 15; [X.], Urteil vom 10. April 1968 - 4 StR 62/68, NJW 1968, 1532 f., juris Rn. 5; Beschluss vom 27. Mai 1959 - 4 StR 49/59, [X.]St 13, 169, 175, juris Rn. 15 f.).

Der Senat verkennt dabei nicht, dass der Verordnungsgeber anders als etwa für die Vorbeifahrt an öffentlichen Verkehrsmitteln und Schulbussen in § 20 [X.] oder für das Verhalten gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen in § 3 Abs. 2a [X.] keine speziellen Regelungen für die Vorbeifahrt an [X.] getroffen hat. Die diesbezüglichen Anforderungen ergeben sich aber aus § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 [X.] und den oben angeführten Einschränkungen des [X.]es. Es ist die typischerweise zu erwartende besondere Gefährdung von Personen (hier: Müllwerkern), die es rechtfertigt, besondere Vorsicht in der genannten Art und Weise zu verlangen.

(3) Den dargelegten Anforderungen genügte die vom Berufungsgericht festgestellte Fahrweise der Zeugin M. nicht. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kam es zur Kollision des Fahrzeugs der Klägerin mit dem [X.] im hinteren Bereich des erkennbar im Einsatz befindlichen [X.], also gerade dort, wo Müllwerker Mülltonnen entleeren und wieder fortschaffen. Der seitliche Abstand zwischen dem Fahrzeug der Klägerin und dem Müllabfuhrfahrzeug betrug allenfalls rund 50 cm. In dieser Situation war die festgestellte Ausgangsgeschwindigkeit von mindestens 13 km/h zu hoch, als dass die Zeugin M. das Fahrzeug notfalls - das heißt insbesondere vor einem plötzlich hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerker - sofort zum Stehen hätte bringen können. Daran ändert die Feststellung des Berufungsgerichts nichts, dass der Unfall für die Zeugin bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von unter 14 km/h räumlich vermeidbar gewesen wäre. Aus dem insoweit vom Berufungsgericht konkret in Bezug genommenen Sachverständigengutachten ergibt sich lediglich, dass bei dieser Geschwindigkeit die Kollision ausgehend von einem Gefahrerkennungspunkt ca. fünf Meter vor dem späteren Kollisionsort bei der genannten Bremsausgangsgeschwindigkeit räumlich vermeidbar gewesen wäre. Die Zeugin hatte aber so angepasst zu fahren, dass sie auch bei Erkennen einer Gefahr in weniger als fünf Metern Entfernung das Fahrzeug rechtzeitig hätte zum Stehen bringen können. Abgesehen davon käme ein schuldhafter Verstoß gegen § 1 [X.] auch in Betracht, wenn die Zeugin M. bei einer Geschwindigkeit von unter 14 km/h, obwohl ihr das möglich gewesen wäre, nicht rechtzeitig reagiert hätte.

(4) An dem Vorliegen eines [X.] seitens der Zeugin M. ändert entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts der Umstand nichts, dass auch dem Beklagten zu 1 ein Verkehrsverstoß vorzuwerfen ist. Der Verstoß der Zeugin M. wird gerade dadurch begründet, dass sie mit einem verkehrswidrigen Verhalten von Müllwerkern zu rechnen und ihre Geschwindigkeit darauf einzustellen hatte. Zwar trifft es zu, dass der Beklagte zu 1 dadurch, dass er den [X.] schob statt ihn zu ziehen, die Gefährlichkeit der Situation insoweit erhöhte, als er herannahende Fahrzeuge erst später wahrnehmen konnte. Grundsätzlich richtig ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, dass es der [X.] nicht gebietet, mit jedwedem Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu rechnen. Mit einem plötzlich hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerker, der einen [X.] jedenfalls hinter sich herzieht, war aber auch im Streitfall zu rechnen. Bereits diese Typik hätte die Zeugin M. veranlassen müssen, ihre Geschwindigkeit so weit zu drosseln, dass sie ihr Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen konnte. Der unfallursächliche und schuldhafte Verstoß gegen dieses Gebot wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es im konkreten Fall nicht der Müllwerker, sondern der von diesem geschobene [X.] war, der vor das Fahrzeug der Klägerin geriet. Auch davor soll § 1 [X.] schützen. Zudem kann sich auf den [X.] grundsätzlich nicht berufen, wer sich selbst über die Verkehrsregeln hinwegsetzt (vgl. Senatsurteile vom 4. April 2023 - [X.], NJW 2023, 2108 Rn. 11; vom 25. März 2003 - [X.], NJW 2003, 1929, 1931, juris Rn. 17; [X.], Urteil vom 10. April 1968 - 4 StR 62/68, NJW 1968, 1532, 1533, juris Rn. 10). Vor diesem Hintergrund schließt die Schwere des Verstoßes des Beklagten zu 1 gegen § 1 Abs. 2 [X.] das Vorliegen des [X.] der Zeugin M. an sich nicht aus, sondern ist nur ein im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG zu berücksichtigender Gesichtspunkt.

III.

Die Sache ist nicht im Sinne von § 563 Abs. 3 ZPO zur Endentscheidung reif, da die Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG - nunmehr unter Zugrundelegung eines [X.] nicht nur des Beklagten zu 1, sondern auch der Zeugin M. - der tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts unterliegt.

[X.]     

      

[X.]     

      

Müller

      

Linder     

      

Katzenstein     

      

Meta

VI ZR 77/23

12.12.2023

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Celle, 15. Februar 2023, Az: 14 U 111/22, Urteil

§ 7 StVG, § 17 Abs 2 StVG, § 1 Abs 2 StVO, § 3 Abs 1 S 2 StVO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.12.2023, Az. VI ZR 77/23 (REWIS RS 2023, 9378)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9378

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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