Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.12.2012, Az. 4 C 12/11

4. Senat | REWIS RS 2012, 62

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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

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Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für ein großflächiges Gartencenter in der Nachbarschaft eines sog. Störfallbetriebs.

2

Die Klägerin erwarb Grundstücke im unbeplanten Innenbereich in [X.] mit einer Gesamtfläche von über 3 ha, die in der Nachbarschaft des Betriebs der Beigeladenen (eines Störfallbetriebs, der unter die [X.]/[X.] - kurz: "[X.]" - fällt) liegen und die derzeit u.a. für eine Schrott- und Metallrecyclinganlage genutzt werden. Sie will dort ein Gartencenter mit Freiverkaufsflächen (Verkaufsfläche 9 368 qm, davon 1 340 qm Freifläche) errichten. Der Kaufvertrag soll jedoch erst wirksam werden, wenn für dieses Vorhaben ein bestandskräftiger Bauvorbescheid oder eine bestandskräftige Baugenehmigung vorliegt. Die Beklagte erteilte der Verkäuferin - der Klägerin im Verfahren BVerwG 4 C 11.11 - hierfür einen Bauvorbescheid. Die Beigeladene erhob dagegen Widerspruch, über den das [X.] bisher nicht abschließend entschieden hat. Die daraufhin erhobene Untätigkeitsklage ist Gegenstand des parallel anhängigen Verfahrens BVerwG 4 C 11.11. In der Folgezeit beantragte die Klägerin auch selbst eine Baugenehmigung für das streitgegenständliche Vorhaben. Über den Antrag hat die Beklagte nicht entschieden.

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Auf die Untätigkeitsklage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Beigeladenen zurückgewiesen. Die erteilte Baugenehmigung - so die Begründung des Berufungsurteils - sei rechtmäßig. Das Bauvorhaben sei bauplanungsrechtlich zulässig und verstoße auch nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Eine Verletzung der gegenüber dem Störfallbetrieb gebotenen Rücksichtnahme scheide deswegen aus, weil sich innerhalb der gutachtlich ermittelten "Achtungsgrenzen" bereits verschiedene gewerbliche Nutzungen befänden, darunter auch Baumärkte, die ebenfalls Freiverkaufsflächen aufwiesen und nur unwesentlich weiter als das geplante Gartencenter vom Betriebsgelände der Beigeladenen entfernt lägen. Auch bei etwaiger Nichteinhaltung eines erforderlichen Sicherheitsabstands sei deshalb nicht erkennbar, dass es durch das Heranrücken einer weiteren schutzwürdigen Bebauung zu einer Verschärfung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen für die Beigeladene kommen könne. Eine Verpflichtung der Klägerin zur Einhaltung eines Abstands gegenüber dem Störfallbetrieb ergebe sich auch nicht aus § 50 BImSchG. Selbst wenn man § 50 BImSchG im Rahmen von § 34 BauGB für anwendbar halten wollte, scheitere eine Anwendung im vorliegenden Fall daran, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nicht um eine raumbedeutsame Maßnahme im Sinne der Vorschrift handle. Das Vorhaben verstoße auch nicht gegen die gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB zu wahrenden Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse, die auf die Abwehr städtebaulicher Missstände beschränkt seien. Eine unmittelbare Anwendung des Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] bzw. eine richtlinienkonforme Auslegung des § 50 BImSchG komme nicht in Betracht. Ein zwingendes Gebot der Abstandswahrung, das auch bei der Zulassung von Einzelvorhaben zu beachten sei, sei der Richtlinie nicht zu entnehmen. Selbst wenn man annehme, dass der [X.] Gesetzgeber Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] nicht vollständig umgesetzt habe, fehle es an der für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie erforderlichen inhaltlichen Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit.

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Der Senat hat die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen im parallel anhängigen Klageverfahren (jetzt: BVerwG 4 C 11.11) zum Anlass genommen, die Verfahren vor dem [X.] auszusetzen und den Gerichtshof der [X.] ([X.]) in [X.] im Wege der Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) um Klärung mehrerer Fragen zu bitten (Beschluss vom 3. Dezember 2009 - BVerwG 4 C 5.09 - juris). Der Senat war der Auffassung, dass die Revisionen auf der Grundlage des nationalen Rechts zurückzuweisen wären, hatte es allerdings für zweifelhaft gehalten, ob die Zulassung des Vorhabens unter den hier gegebenen bzw. unterstellten Umständen mit Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] vereinbar ist (Beschluss vom 3. Dezember 2009 a.a.[X.] Rn. 11 ff. und 22 ff.).

5

Mit Urteil vom 15. September 2011 - [X.]. [X.]/10 - ([X.] 2011 Nr. [X.] = [X.] 2011, 763) hat der [X.] über die Vorlagefragen entschieden.

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Die erste Vorlagefrage hat er wie folgt beantwortet:

Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] ist dahin auszulegen, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt, auch von einer Behörde wie der für die Erteilung von Baugenehmigungen zuständigen Stadt [X.] zu beachten ist, und zwar auch dann, wenn sie in Ausübung dieser Zuständigkeit eine gebundene Entscheidung zu erlassen hat.

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Auf die zweite und dritte Frage hat der [X.] geantwortet:

Die in Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] vorgesehene Verpflichtung, langfristig dem Erfordernis Rechnung zu tragen, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt, schreibt den zuständigen nationalen Behörden nicht vor, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Ansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes zu verbieten. Dagegen steht diese Verpflichtung nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen eine Genehmigung für die Ansiedlung eines solchen Gebäudes zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der genannten Abstandsgrenzen im Stadium der Planung oder der individuellen Entscheidung gebührend gewürdigt worden wären.

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Die Beigeladene sieht ihre Rechtsauffassung durch die Vorabentscheidung des [X.] im Wesentlichen bestätigt. Die Verpflichtung zur gebührenden Würdigung der mit einer Neuansiedlung verbundenen Risiken bestehe nicht erst dann, wenn ein hinzukommendes Vorhaben im Hinblick auf die Auswirkungen eines Störfalls einen weitergehenden Schutzbedarf als die bisherige Bebauung auslöse, sondern bereits dann, wenn durch die Neuansiedlung - wie hier - eine wesentliche Verschlechterung des Status quo u.a. im Hinblick auf das Ziel der Begrenzung der Folgen eines schweren Unfalls eintrete. Die vom [X.] geforderten Bewertungen, insbesondere unter Berücksichtigung "sozioökonomischer" Faktoren, seien hier noch nicht vorgenommen worden. Der Entscheidung des [X.] könne im Ergebnis mit der Auslegung des § 34 BauGB entsprechend Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die Klage abgewiesen werde. Welche Faktoren dazu führen sollten, dass diese Risikoermittlung und -bewertung nicht maßgeblich sei bzw. überwunden werden könne, sei nicht ersichtlich.

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Die Klägerin hält das Vorhaben nach wie vor für bauplanungsrechtlich zulässig. Der [X.] habe das Konzept des [X.]n Gesetzgebers zur Umsetzung der Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] im Hinblick auf bereits bebaute Einwirkungsbereiche von [X.] akzeptiert. Die von Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] geforderte störfallrechtliche Risikobewertung sei schon bislang in einem ausreichenden Maße im Rahmen von § 34 Abs. 1 BauGB erfolgt.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Der Verwaltungsgerichtshof hat den Erfolg der Klage zu Recht davon abhängig gemacht, ob das streitgegenständliche [X.] bauplanungsrechtlich zulässig ist und die Klägerin deshalb einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung hat. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit hat er zutreffend an § 34 Abs. 1 BauGB und dem darin enthaltenen [X.] gemessen. Mit Bundesrecht unvereinbar ist allerdings die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass eine Verletzung der gegenüber dem Störfallbetrieb der Beigeladenen gebotenen Rücksichtnahme deshalb ausscheide, weil sich innerhalb der gutachtlich ermittelten "Achtungsgrenzen" bereits verschiedene gewerbliche Nutzungen befänden und wegen dieser Vorbelastung - die Nichteinhaltung des angemessenen Abstands unterstellt - nicht erkennbar sei, dass es durch die Neuansiedlung zu einer Verschärfung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen für die Beigeladene kommen könne.

Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] verlangt, dass die Risiken der Zulassung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs ungeachtet etwaiger Vorbelastungen gebührend gewürdigt werden (1). Diesem unionsrechtlichen Erfordernis ist durch eine richtlinienkonforme Handhabung des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen [X.]s Geltung zu verschaffen (2). Dessen Anforderungen hat der Verwaltungsgerichtshof verkannt (3). Der [X.] kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die hierfür erforderlichen Tatsachenfeststellungen fehlen (4).

1. Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] schließt es aus, die Neuansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs allein im Hinblick auf bestehende Vorbelastungen zuzulassen, ohne zuvor ermittelt zu haben, welcher Abstand angemessen ist und welche Risiken mit der Neuansiedlung innerhalb dieser Abstandsgrenzen einhergehen.

Der [X.] (Urteil vom 15. September 2011 - [X.]. [X.]/10 - UPR 2011, 443 LS 1) hat Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] dahin ausgelegt, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, langfristig dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände zwischen einem Störfallbetrieb und öffentlich genutzten Gebäuden Rechnung zu tragen, auch von [X.] bei gebundenen Entscheidungen über die Zulassung von Vorhaben zu beachten ist. Dass der Betrieb der Beigeladenen ein Störfallbetrieb und das von der Klägerin beantragte [X.] ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne der Richtlinie ist, ist unstreitig ([X.] a.a.[X.] Rn. 2 und 3). Die als Baugenehmigungsbehörde tätig gewordene [X.] war deshalb bei der Entscheidung über die von der Klägerin beantragte Baugenehmigung verpflichtet, dem Abstandserfordernis des Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der [X.]/[X.] Rechnung zu tragen.

Diese Verpflichtung hat der [X.] (a.a.[X.] LS 2) zwar nicht in dem Sinne ausgelegt, dass jede Neuansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes innerhalb des angemessenen Abstands zwingend untersagt werden müsste. Es ist mit der Richtlinie aber nicht vereinbar, wenn die Ansiedlung zugelassen wird, ohne dass die Risiken einer Ansiedlung innerhalb des angemessenen Abstands gebührend gewürdigt worden wären ([X.] a.a.[X.] Rn. 49). Die Genehmigungsbehörde muss deshalb in einem ersten Schritt ermitteln, welcher Abstand "angemessen" ist und ob das Neuansiedlungsvorhaben innerhalb dieser Abstandsgrenze liegt. Ist der angemessene Abstand nicht eingehalten, muss sich die Behörde in einem zweiten Schritt darüber Gedanken machen, ob ein Unterschreiten des angemessenen Abstands im Einzelfall vertretbar ist.

a) Welcher Abstand "angemessen" ist, ist im Unionsrecht nicht geregelt. Damit obliegt es den zuständigen nationalen Genehmigungsbehörden und Gerichten zumindest implizit, die angemessenen Abstände im jeweiligen Einzelfall anhand aller relevanten störfallspezifischen Faktoren festzulegen ([X.] a.a.[X.] Rn. 45 und 50).

Die nationalen Behörden haben im Falle der Ansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs den Anstieg des [X.] oder die Verschlimmerung der Unfallfolgen zu bewerten (Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der [X.]/[X.]; [X.] a.a.[X.] Rn. 43). Das erfordert jedenfalls dann, wenn die Behörde Anhaltspunkte dafür hat, dass das zur Genehmigung gestellte Vorhaben den angemessenen Abstand nicht einhält (vgl. [X.], [X.], 1039 <1047>), eine Abschätzung nicht nur der Risiken und Schäden, sondern auch aller anderen in jedem Einzelfall relevanten (störfall-) "spezifischen Faktoren", die je nach den besonderen Gegebenheiten der Gebiete unterschiedlich ausfallen können ([X.] a.a.[X.] Rn. 43 f.). Das wird in aller Regel nicht ohne eine Heranziehung technisch-fachlichen Sachverstands möglich sein. Gegebenenfalls kann auch in Betracht kommen, vom Vorhabenträger die Vorlage eines entsprechenden Gutachtens zu verlangen ([X.], a.a.[X.] S. 1047).

Als störfallspezifische Faktoren, die im jeweiligen Einzelfall relevant sein können, nennt der [X.] (a.a.[X.] Rn. 44) die Art der jeweiligen gefährlichen Stoffe, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schweren Unfalls, die Folgen eines etwaigen Unfalls für die menschliche Gesundheit und die Umwelt, die Art der Tätigkeit der neuen Ansiedlung, die Intensität ihrer öffentlichen Nutzung sowie die Leichtigkeit, mit der [X.] bei einem Unfall eingreifen können. Die Nennungen sind nur beispielhaft. In Betracht zu ziehen sind ferner, wie der [X.] (a.a.[X.] Rn. 43) betont, vorhabenbedingte Veränderungen, etwa die Verschlimmerung von Unfallfolgen durch einen vorhabenbedingten Anstieg der möglicherweise betroffenen Personen. Andererseits können aber auch technische Maßnahmen zur Verminderung des [X.] oder zur weiteren Begrenzung möglicher Unfallfolgen zu berücksichtigen sein, sei es im Betriebsbereich, soweit diese dem Betreiber des Störfallbetriebs auferlegt werden können, sei es außerhalb des [X.], wie etwa Nutzungseinschränkungen oder besondere bauliche Anforderungen an das an den Störfallbetrieb heranrückende Vorhaben, sofern über diese Maßnahmen mögliche Schadensfolgen und damit auch die Angemessenheit des Abstands beeinflusst werden können (vgl. auch [X.], [X.] 2010, 18 <24>).

Im Hinblick auf sonstige - nicht störfallspezifische - Belange unterliegt der angemessene Abstand demgegenüber keiner Relativierung (zutreffend [X.], a.a.[X.] S. 1046 f.). Insbesondere haben "sozioökonomische" Faktoren, die der [X.] (a.a.[X.] Rn. 46) in diesem Zusammenhang nennt, bei der Festlegung des "angemessenen" Abstands außer Betracht zu bleiben. Das ergibt sich zum einen daraus, dass der [X.] die vom [X.] im Vorlagebeschluss vertretene Auffassung ausdrücklich bestätigt hat, wonach insbesondere [X.], ökologische und wirtschaftliche Belange zwar im jeweiligen Einzelfall "abwägungsrelevante" sonstige Faktoren sein können, die den Ausschlag für die Zulassung eines öffentlich genutzten Gebäudes innerhalb der gegenüber einem Störfallbetrieb grundsätzlich zu wahrenden angemessenen Abstände geben können, aber den störfallspezifischen Faktoren gerade gegenüberstehen. Zum anderen bestimmen die "angemessenen" Abstände generell den Anwendungsbereich der [X.]/[X.], und zwar auch insoweit, als die Verhütung schwerer Unfälle sowie die Begrenzung der Unfallfolgen durch Betreiberpflichten nach deren Art. 5 sichergestellt werden soll ([X.] a.a.[X.] Rn. 37); es ist nicht ernstlich in Erwägung zu ziehen, dass die Richtlinie den Umfang der Betreiberpflichten und damit auch das Risikopotential eines Störfallbetriebs von sozioökonomischen Faktoren abhängig machen will ([X.], a.a.[X.]).

Der Begriff des "angemessenen" Abstands ist ein zwar unbestimmter, aber technisch-fachlich bestimmbarer Rechtsbegriff. Im Einzelfall können erhebliche Unsicherheiten bestehen, welcher Abstand angemessen ist. Die Angemessenheit kann von einer Vielzahl störfallrelevanter technischer Faktoren abhängen und je nach den besonderen Gegebenheiten der Gebiete und den Besonderheiten des Einzelfalls in erheblichem Maße unterschiedlich ausfallen ([X.], Urteil vom 15. September 2011 - [X.]. [X.]/10 - UPR 2011, 443 Rn. 44). Präzise, absolute und objektive Grenzen der "Gefahrenzone" um einen Störfallbetrieb kann es insoweit nicht geben (Schlussanträge der Generalanwältin [X.] vom 14. April 2011 in der [X.]. [X.]/10 - im Folgenden: Schlussanträge - juris Rn. 39). Gleichwohl unterliegt die behördliche Festlegung des angemessenen Abstands der vollen gerichtlichen Überprüfung ([X.], [X.] 2012, 324 <329 f.>; vgl. [X.], a.a.[X.] S. 27); ein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum kommt der Genehmigungsbehörde insoweit nicht zu. Die in der Vorabentscheidung ([X.] a.a.[X.] Rn. 24) verwendete Formulierung, Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 der [X.]/[X.] lasse den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Abstände einen "[X.]", von dem aber jedenfalls innerhalb der Grenzen der Verpflichtung, der Wahrung angemessener Abstände Rechnung zu tragen, Gebrauch gemacht werden müsse, bezieht sich nach dem Verständnis des [X.] (z.B. a.a.[X.] Rn. 45 f.) ersichtlich nicht auf die Ermittlung, sondern auf die "Berücksichtigung" des angemessenen Abstands.

b) Dieser Berücksichtigungspflicht hat die Genehmigungsbehörde in einem zweiten Schritt nachzukommen, wenn das Neuansiedlungsvorhaben innerhalb des angemessenen Abstands liegt.

Diese Verpflichtung ist nicht im Sinne eines Verschlechterungsverbots zu verstehen. Zwar wird mit jedem Vorhaben, das den angemessenen Abstand unterschreitet, der störfallrechtlich unerwünschte Zustand in der Regel weiter verfestigt. Gleichwohl zwingt Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] die [X.] nicht dazu, Neuansiedlungen in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs ausnahmslos abzulehnen und das [X.] damit zum alleinigen Genehmigungs- oder Ablehnungskriterium zu machen. Allein die Zuerkennung eines [X.]s ermöglicht es, die volle praktische Wirksamkeit des Erfordernisses sicherzustellen ([X.] a.a.[X.] Rn. 45). Deshalb erscheint es grundsätzlich denkbar, ein öffentlich genutztes Gebäude je nach den Umständen des Einzelfalls auch innerhalb der angemessenen Abstände zuzulassen. Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] gestattet es, den "störfalltechnisch" ermittelten angemessenen Abstand zu unterschreiten, wenn im Einzelfall hinreichend gewichtige Belange für die Zulassung des Vorhabens streiten. In Betracht kommen insbesondere [X.], ökologische und wirtschaftliche Belange. Diese Auffassung hatte der [X.] bereits in seinem Vorlagebeschluss vertreten. Der [X.] (a.a.[X.] Rn. 44) hat sie in seiner Vorabentscheidung ausdrücklich bestätigt. Störfallspezifische Faktoren können nach den Worten des [X.] (a.a.[X.]) mit "sozioökonomischen Faktoren zusammentreffen". Es unterliegt keinen Zweifeln, dass der [X.] ihnen die Eigenschaft von Belangen zumisst, die den störfallspezifischen Faktoren gegenüberstehen, die mithin auf der anderen Seite "in die Gleichung" (Schlussanträge a.a.[X.] Rn. 41) einzustellen sind.

Andererseits kann der [X.] der Mitgliedstaaten nicht so ausgelegt werden, dass er es ihnen gestatten würde, von der Berücksichtigung angemessener Abstände abzusehen ([X.] a.a.[X.] Rn. 49). Die "Berücksichtigung" angemessener Abstände verlangt, dass diese bei der Risikobewertung - sei es auf [X.], sei es bei der Vorhabenzulassung - neben anderen Faktoren auch tatsächlich berücksichtigt werden ([X.] a.a.[X.] Rn. 50). Daraus folgt, dass Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] einer nationalen Regelung entgegensteht, soweit sie vorschreibt, dass die Genehmigung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der angemessenen Abstände im Genehmigungsverfahren gebührend gewürdigt worden wären ([X.] a.a.[X.] LS 2 Satz 2 und Rn. 51). Die Genehmigungsbehörde muss sich folglich in jedem Einzelfall darüber Gedanken machen, ob ein Unterschreiten des eigentlich erforderlichen "angemessenen Abstands" im Hinblick auf sonstige - nicht störfallspezifische - Faktoren vertretbar ist ([X.], [X.], 1039 <1047>), sofern dies nicht bereits seitens der [X.] geschehen ist ([X.] a.a.[X.] Rn. 28). Das verkennt die Klägerin, die sich auf den Standpunkt stellt, der [X.] habe das in § 34 Abs. 1 BauGB zum Ausdruck kommende Konzept des [X.] Gesetzgebers gebilligt, der bereits auf gesetzlicher Grundlage eine "generalisierende Risikobewertung" in der Weise vorgenommen habe, dass die Genehmigung im Falle einer Vorbelastung stets zu erteilen sei.

Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] enthält ferner die zeitliche Vorgabe, dass dem Erfordernis der Wahrung eines angemessenen Abstands "langfristig" Rechnung zu tragen ist. Diese zielt darauf ab, dass Abstände dort, wo sie bereits eingehalten werden, gewahrt bleiben, und dass sie für die Zukunft als langfristiges Ziel aufgestellt werden, wenn sie noch nicht umgesetzt worden sind ([X.] a.a.[X.] Rn. 47; vgl. auch Schlussanträge a.a.[X.] Rn. 40). Liegt ein Neuansiedlungsvorhaben innerhalb der angemessenen Abstände, ist deshalb wie folgt zu differenzieren: Die erstmalige Schaffung einer Gemengelage wird im Regelfall unzulässig sein, weil ein angemessener Abstand, der bisher eingehalten ist, auch in Zukunft - langfristig - gewahrt bleiben muss (Schlussanträge a.a.[X.]; [X.], a.a.[X.] S. 1048). Ist der angemessene Abstand demgegenüber schon bisher nicht eingehalten, greift der [X.], den der [X.] den Genehmigungsbehörden im Rahmen des Erfordernisses, der Wahrung angemessener Abstände Rechnung zu tragen, zuerkannt hat.

In welcher Weise dieser [X.] auszufüllen ist, gibt Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] den Mitgliedstaaten nicht vor. Insbesondere legt die Norm die Mitgliedstaaten nicht auf eine durch planerische Gestaltungsspielräume gekennzeichnete, prinzipiell ergebnisoffene Abwägung fest (a.[X.], [X.] 2011.11, 4 <5> (online); vgl. auch [X.], a.a.[X.] S. 1052), etwa im Sinne des § 1 Abs. 7 BauGB. Der Vorabentscheidung lassen sich auch keine Hinweise entnehmen, die erkennen ließen, dass der [X.] die Berücksichtigung des [X.] im Wege der Vorhabenzulassung verfahrensrechtlich nur um den Preis einer Systemänderung akzeptieren würde (a.[X.], a.a.[X.] und [X.], a.a.[X.] S. 1051 ff.). Die Richtlinie verlangt nur, dass das fragliche Erfordernis zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens zur Durchführung der Pläne oder Politiken zur Flächennutzung oder Flächenausweisung beachtet werden muss, der aber von den Mitgliedstaaten frei bestimmt werden kann ([X.] a.a.[X.] z.B. Rn. 26, 27, 28). Im Übrigen respektiert sie die mitgliedstaatlichen Systementscheidungen. Schon gar nicht erzwingt sie eine "Strukturrevolution" (so aber [X.], a.a.[X.]). Auch die auf eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung gerichteten Reformvorschläge der [X.] ([X.] vom 21. Dezember 2010; BTDrucks 17/5891 vom 24. Mai 2011) bei allen von Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] erfassten "neuen Bauprojekten", stellen den Weg einer Umsetzung des Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] im Rahmen der gebundenen Entscheidung nicht in Frage. Öffentlichkeitsbeteiligungen sind auch nach bisherigen nationalrechtlichen Maßstäben einem gebundenen Genehmigungsanspruch nicht fremd (vgl. etwa § 10 Abs. 3 bis 6 BImSchG). Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten mithin auch in instrumenteller Hinsicht Spielräume, um das Abstandserfordernis in bestehende nationalrechtliche Systementscheidungen einzupassen, sei es "in allgemeiner Weise bei der Aufstellung der Flächenausweisungs- oder Flächennutzungspläne", sei es - mangels einer Planung - "in spezifischer Weise ... beim Erlass von Entscheidungen über Baugenehmigungen" ([X.], Urteil vom 15. September 2011 - [X.]. [X.]/10 - UPR 2011, 443 Rn. 50). Beide Wege sieht der [X.] insoweit grundsätzlich als gleichwertig an. Die [X.] sind deshalb nicht gehindert, die Pflicht zur Berücksichtigung angemessener Abstände auf die Genehmigungsbehörden zu übertragen ([X.] a.a.[X.] Rn. 26).

Entscheidet sich die Gemeinde für das Instrument der Bauleitplanung, ist den Erfordernissen des Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] in planerischer Weise Rechnung zu tragen. Die von der Richtlinie geforderten Wertungsspielräume gehen im bauleitplanerischen [X.] (§ 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3 BauGB) auf, in dessen Rahmen der Trennungsgrundsatz (§ 50 BImSchG) als Abwägungsdirektive zu beachten ist. Die Ergebnisse der Planung unterliegen einer nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Unterbleibt eine Planung, ist dem Abstandserfordernis "in spezifischer Weise" im Rahmen der Vorhabenzulassung Rechnung zu tragen. [X.] gefordert, aber auch ausreichend ist insoweit eine "nachvollziehende" Abwägung (im Ergebnis ebenso OVG Münster, Beschluss vom 21. Februar 2012 - 2 [X.]/12 - juris Rn. 22 und - vorausgehend - [X.], Beschluss vom 16. Dezember 2011 - 25 L 581/11 - juris Rn. 62; zum Begriff der "nachvollziehenden" Abwägung BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2001 - BVerwG 4 [X.] 4.00 - BVerwGE 115, 17 <24 f.>; vgl. im Überblick auch [X.], in: [X.] Kommentar zum BauGB, Stand November 2012, § 35 Rn. 10), verstanden als ein Vorgang der Rechtsanwendung, der eine auf den Einzelfall ausgerichtete Gewichtsbestimmung verlangt. Sie ist nicht planerische Abwägung im Sinne rechtsgeleiteter politischer Dezision, sondern sachgeleitete Wertung, und unterliegt insoweit der vollen gerichtlichen Kontrolle ([X.], [X.], 1039 <1050>; [X.], in: [X.]/[X.], BauGB, 2009, § 38 Rn. 25).

Wie weit die Leistungsfähigkeit des Instruments der "nachvollziehenden" Abwägung reicht, ist keine Frage des Unionsrechts, sondern des nationalen Rechts. Ist die Leistungsfähigkeitsgrenze überschritten, ist der Weg einer gebundenen Entscheidung mit einer lediglich "nachvollziehenden" Abwägung versperrt. Einer Vorhabenzulassung kann dann nur auf der Grundlage eines Bebauungsplans näher getreten werden, bei dessen Aufstellung die Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] im Rahmen des [X.]s planerisch zu bewältigen und zu verantworten sind.

2. Den Anforderungen, die Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] an die Zulassung von Vorhaben in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs stellt, ist durch eine richtlinienkonforme Auslegung des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen [X.]s Rechnung zu tragen.

Unter Zugrundelegung der Entscheidung des [X.] (a.a.[X.]) und der unter [X.]) gemachten Ausführungen ist zunächst davon auszugehen, dass Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] keine unmittelbare Wirkung im Sinne der Rechtsprechung des [X.] (vgl. hierzu etwa [X.]alliess/[X.], [X.]/A[X.], 4. Aufl. 2011, Art. 288 Rn. 47 ff.) entfaltet. Damit bleibt nationales Recht - hier § 34 Abs. 1 BauGB - weiter anwendbar. Der [X.] hat allerdings das nationale Gesetz soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen, um sich dadurch die Möglichkeit zu verschaffen, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten ([X.] a.a.[X.] Rn. 32 bis 34 und 52). Dieses Ziel wird durch eine richtlinienkonforme Handhabung des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen [X.]s erreicht, die sich auch mit den in § 34 Abs. 1 BauGB angelegten [X.] verträgt. Eines Rückgriffs auf die im Schrifttum erörterten sonstigen Möglichkeiten der Implementierung des Unionsrechts (vgl. dazu im Überblick [X.], a.a.[X.] S. 1049 ff.) bedarf es mithin nicht.

a) Einer richtlinienkonformen Auslegung steht nicht entgegen, dass sich das Vorhaben in die Eigenart der "näheren Umgebung" einfügen muss. Schon nach bisherigem Verständnis ist hierbei auf diejenige Umgebung abzustellen, auf die sich die Ausführung des Vorhabens auswirken kann und die ihrerseits den bodenrechtlichen [X.]harakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (Urteil vom 26. Mai 1978 - BVerwG 4 [X.] 9.77 - BVerwGE 55, 369 <380>). [X.] Konfliktlagen lassen sich hierunter auch insoweit subsumieren, als sie über den unmittelbaren Nahbereich hinausreichen, weil und soweit sie die bodenrechtliche Situation eines Vorhabengrundstücks prägen. Abgesehen davon sind städtebauliche Fernwirkungen dem [X.] des § 34 BauGB generell nicht mehr fremd, seit der Gesetzgeber mit dem [X.] Bau 2004 den Maßstab des § 34 Abs. 3 BauGB in das Prüfprogramm integriert hat ([X.], [X.] 2012, 324 <329>).

b) Das in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene [X.] bietet eine geeignete Anknüpfung für die unionsrechtlich geforderte "nachvollziehende" Abwägung.

Ein Vorhaben, das sich in jeder Hinsicht innerhalb des aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmens hält, fügt sich in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB dann nicht ein, wenn das Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf die sonstige, d.h. vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt (Urteil vom 26. Mai 1978 a.a.[X.] S. 386 m.w.[X.]). Ziel des [X.]s ist es, einander abträgliche Nutzungen in rücksichtsvoller Weise zuzuordnen sowie Spannungen und Störungen zu vermeiden. Welche Anforderungen sich hieraus ergeben, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, namentlich davon, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist (st[X.]pr; zuletzt Urteil vom 29. November 2012 - BVerwG 4 [X.] 8.11 - juris Rn. 16 m.w.[X.]). Es wird dabei durch die Begriffsbestimmungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und den auf dieser Grundlage ergangenen rechtsförmlichen technischen Regelwerken und normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften näher bestimmt (vgl. Urteil vom 23. September 1999 - BVerwG 4 [X.] 6.98 - BVerwGE 109, 314 <319 f.>). Im Übrigen ist eine Einzelfallbeurteilung geboten.

Das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme erweist sich insoweit als wertungsoffenes Korrektiv (vgl. auch [X.], [X.] 2010, 18 <30>: "planerisches Korrektiv"), das auch für störfallrechtlich vorgegebene Wertungen offensteht. Es erlaubt die in Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] geforderte abwägende Gegenüberstellung von störfallspezifischen und nicht störfallspezifischen, insbesondere "sozioökonomischen" Faktoren, um auf dieser Grundlage entscheiden zu können, ob im Einzelfall ein Unterschreiten des eigentlich erforderlichen "angemessenen" Abstands ausnahmsweise vertretbar ist. Insoweit unterscheiden sich störfallrechtliche nicht grundlegend von anderen immissionsschutzrechtlichen Konfliktsituationen. Das [X.] ist deshalb ein geeigneter Rahmen auch für die unionsrechtlich geforderte "nachvollziehende" Abwägung, innerhalb derer die Genehmigungsbehörde den ihr nach Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] zukommenden [X.] auszufüllen hat. Unerheblich ist, dass der Begriff der "nachvollziehenden" Abwägung in der [X.]srechtsprechung für Fälle im Anwendungsbereich des § 35 BauGB entwickelt und darüber hinaus bisher - soweit ersichtlich - lediglich im Bereich des § 38 BauGB thematisiert worden ist. Der Sache nach ist auch die im Rahmen des [X.]s zu treffende Entscheidung sachgeleitete Wertung, die ebenfalls der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. [X.], a.a.[X.]).

Einer Anpassung bedarf die Dogmatik des [X.]s im störfallrechtlichen Zusammenhang allerdings insoweit, als Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] verlangt, dass der angemessene Abstand bei der Risikobewertung neben anderen Faktoren - wie dargestellt - auch im Fall einer bestehenden Vorbelastung tatsächlich berücksichtigt wird. In Anbetracht der in der Richtlinie zum Ausdruck kommenden besonderen Zielsetzung (Art. 1 der [X.]/[X.]), die Folgen schwerer Unfälle für Mensch und Umwelt nicht nur durch eine entsprechende Ausgestaltung der Betreiberpflichten (Art. 5 der [X.]/[X.]), sondern auch durch die Wahrung angemessener Abstände (Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.]) zu begrenzen, darf eine bestehende Vorbelastung nicht dazu führen, die durch eine Neuansiedlung im Fall eines Störfalls zusätzlich exponierten Menschen auszublenden. Bedenkt man ferner, dass die erstmalige Schaffung einer störfallrechtlichen Gemengelage - wie dargestellt - im Regelfall ohnehin unzulässig sein wird, weil ein angemessener Abstand, der bisher eingehalten ist, "langfristig", also auch in Zukunft gewahrt bleiben muss (Beschluss vom 3. Dezember 2009 - BVerwG 4 [X.] 5.09 - juris Rn. 32; [X.], [X.], 1039 <1048 ff.>), liegt auf der Hand, dass eine bestehende Vorbelastung im [X.] nicht Grenze, sondern vielmehr gerade Voraussetzung des [X.]s ist, den Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] eröffnet. Das Kriterium der Vorbelastung ist deshalb im [X.] bei richtlinienkonformer Handhabung unbrauchbar.

c) Von vornherein überschritten sind allerdings die Leistungsgrenzen des [X.]s, wenn die nach Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] zu berücksichtigenden "sozioökonomischen Faktoren" den Rahmen der im [X.] abgebildeten gegenseitigen Interessenbeziehung zwischen Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits verlassen, etwa dann, wenn nicht individuelle, sondern städtebauliche Gründe für eine Zulassung eines Vorhabens in der Gefahrenzone eines Störfallbetriebs streiten, oder wenn [X.] für die Verwirklichung des Vorhabens in Frage stehen. Entsprechendes gilt, wenn ein Neuansiedlungsvorhaben städtebauliche Spannungen bewirkt, die im Wege einer "nachvollziehenden" Abwägung nicht beseitigt werden können, sondern einer planerischen Bewältigung bedürfen, oder wenn eine rechtsfehlerfreie Konfliktbewältigung auf das Festsetzungsinstrumentarium der Bauleitplanung angewiesen ist. In all diesen Fällen ist eine Zulassung des Vorhabens auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB abzulehnen, weil es einen Koordinierungsbedarf auslöst, dem nicht das [X.] des Rechts der Vorhabenzulassung, sondern nur eine förmliche Planung Rechnung zu tragen vermag (vgl. Urteil vom 1. August 2002 - BVerwG 4 [X.] 5.01 - BVerwGE 117, 25 <29 f.>; jüngst auch Urteil vom 2. Februar 2012 - BVerwG 4 [X.] 14.10 - BVerwGE 142, 1 ). Entschließt sich die Gemeinde in diesen Fällen zur Bauleitplanung, ist auch dem Abstandserfordernis planerisch Rechnung zu tragen.

3. Diesen Einfluss des Unionsrechts auf die Handhabung des [X.]s hat das Berufungsurteil verkannt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar zu Recht angenommen, dass die Pflicht zur Rücksichtnahme grundsätzlich nicht unabhängig von etwaigen Vorbelastungen bewertet werden kann (Beschluss vom 3. Dezember 2009 a.a.[X.] Rn. 14 m.w.[X.]). Er hat allerdings nicht erkannt, dass das Kriterium der Vorbelastung im [X.] unbrauchbar ist, weil es - wie der [X.] mit bindender Wirkung für die mitgliedstaatliche Rechtsanwendung vorgegeben hat - die Mitgliedstaaten nicht von der sich aus Art. 12 Abs. 1 der [X.]/[X.] ergebenden Verpflichtung befreit, die Risiken der Neuansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes innerhalb des angemessenen Abstands gebührend zu würdigen.

Bei richtlinienkonformer Handhabung des [X.]s hätte der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen seiner ihm zukommenden uneingeschränkten gerichtlichen Prüfungskompetenz feststellen müssen, welcher Abstand angemessen ist und ob das streitgegenständliche [X.] innerhalb dieses angemessenen Abstands liegt, etwa weil die vom [X.] gutachtlich ermittelten "Achtungsgrenzen" die Abstandsgrenzen zutreffend wiedergeben. [X.] wäre er gehalten gewesen, zu ermitteln, ob und gegebenenfalls welche nicht-störfallspezifischen Faktoren dem Abstandserfordernis gegenüberstehen. Er hätte sich vergewissern müssen, dass die in Betracht kommenden Faktoren das [X.] des § 34 Abs. 1 BauGB nicht überfordern, etwa, weil nur individuelle Gründe der Vorhabenträgerin in Frage stehen. Schließlich hätte er auf dieser Grundlage im Wege der "nachvollziehenden" Abwägung darüber befinden müssen, ob im Hinblick auf diese Gründe ein Unterschreiten des "angemessenen Abstands" vertretbar und deshalb eine Zulassung des Vorhabens innerhalb der Abstandsgrenzen gerechtfertigt erscheint. An all dem fehlt es.

4. Der [X.] kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 VwGO). Es fehlen bereits abschließende tatrichterliche Feststellungen zu den maßgeblichen Faktoren zur Bestimmung des angemessenen Abstands (vgl. oben 1.) sowie dazu, ob das streitgegenständliche [X.] innerhalb dieses Abstands liegt. Die Sache ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Meta

4 C 12/11

20.12.2012

Bundesverwaltungsgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 4. Dezember 2008, Az: 4 A 884/08, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.12.2012, Az. 4 C 12/11 (REWIS RS 2012, 62)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 62

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