Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.01.2013, Az. 1 AZR 873/11

1. Senat | REWIS RS 2013, 8798

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Gegenstand

Betriebsänderung - Nachteilsausgleich


Tenor

1. Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 26. Oktober 2011 - 5 [X.]/11 - wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über einen Nachteilsausgleich.

2

Der Kläger war bei der [X.]eklagten bis zum 31. Mai 2010 als Elektriker mit einer jährlichen [X.]ruttogrundvergütung von zuletzt [X.] Euro beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer Eigenkündigung des [X.].

3

Die [X.]eklagte schloss mit ihrem Gesamtbetriebsrat am 7. September 2009 einen Interessenausgleich und Sozialplan ab ([X.]). Nach § 2 Abs. 1 [X.] waren bis zu 82 Arbeitsplätze von den dort bezeichneten Restrukturierungsmaßnahmen betroffen. § 2 A [X.] lautet:

        

1. Vertriebsaußendienst

        

[X.]edingt durch die Schließung des [X.] entfallen alle 14 Arbeitsplätze im Außendienst inkl. der Vertriebsleitung (1 Arbeitsplatz) und der zwei Regionalleiter (2 Arbeitsplätze) sowie der Assistenz des Vertriebsleiters (1 Arbeitsplatz). Gleichzeitig soll eine Verstärkung des [X.] erfolgen über eine Aufteilung in 17 Vertriebsgebiete, unterteilt in die Regionen Nord und Süd, die jeweils von einem Regionalleiter geführt werden. In jedem Vertriebsgebiet wird ein Außendienstmitarbeiter beschäftigt, so dass die Anzahl der Außendienstmitarbeiter im [X.] um 8 Mitarbeiter aufgestockt wird. …

        

Der Zuschnitt der derzeit geplanten Vertriebsgebiete ist in der Anlage 1 zu diesem Interessenausgleich beschrieben. Dieser Zuschnitt kann zukünftig Änderungen durch die [X.] unterliegen. Dabei sind etwaige [X.]eteiligungsrechte der Arbeitnehmervertretungen zu berücksichtigen.

        

…“    

4

Der Kläger war im [X.] 2 [X.]-Vertriebskanal der [X.]eklagten beschäftigt. Für die ausgeschriebene Vertriebsaußendienststelle im Vertriebsgebiet 13 der Region Süd war er der einzige [X.]ewerber. Dieses Vertriebsgebiet war in der Anlage zur [X.] ausgewiesen. Nach Eingang der [X.]ewerbung des [X.] entschied sich die [X.]eklagte, das Vertriebsgebiet 13 aufzuteilen und den Vertriebsmitarbeitern der benachbarten Regionen zuzuweisen. Hierüber unterrichtete sie den Kläger in einem am 6. Oktober 2009 geführten Gespräch.

5

Der Kläger hat geltend gemacht, die [X.]eklagte sei ohne zwingenden Grund von der in § 2 A Nr. 1 [X.] getroffenen Regelung abgewichen. Wegen der Aufteilung des Vertriebsgebiets 13 sei seine [X.]ewerbung erfolglos geblieben. Hierdurch sei ihm ein wirtschaftlicher Nachteil entstanden. Er hätte als Vertriebsaußendienstmitarbeiter jährlich etwa 60.000,00 Euro brutto verdienen können. Die [X.]eklagte sei daher verpflichtet, ihm als Nachteilsausgleich die entgangene Vergütungsdifferenz vom 1. November 2009 bis zu seinem Ausscheiden zu zahlen.

6

Der Kläger hat beantragt,

        

die [X.]eklagte zu verurteilen, an ihn 16.835,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem [X.]asiszinssatz seit dem 30. Januar 2010 zu zahlen.

7

Die [X.]eklagte hat Klageabweisung beantragt.

8

[X.]eide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsanspruch weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Das [X.] hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 2 [X.].

1. Nach § 113 Abs. 2 iVm. Abs. 1 [X.] kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund abweicht und der Arbeitnehmer infolge dieser Abweichung entlassen wird oder andere wirtschaftliche Nachteile erleidet.

2. Die Beklagte hat nach den nicht mit Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des [X.]s mit den in § 2 A und [X.] 2009 beschriebenen Maßnahmen eine grundlegende Änderung ihrer Betriebsorganisation iSv. § 111 Satz 3 Nr. 4 [X.] vorgenommen. Diese Betriebsänderung ist Gegenstand des zwischen der Beklagten und dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossenen Interessenausgleichs. [X.]ierüber besteht zwischen den Parteien kein Streit.

3. Die Voraussetzungen des § 113 Abs. 2 iVm. Abs. 1 [X.] liegen schon nicht vor.

a) Der Kläger ist als dem Betrieb [X.] zugeordneter Arbeitnehmer in den persönlichen Geltungsbereich des Interessenausgleichs einbezogen (§ 1 [X.] 2009).

b) Die Beklagte ist bei der Auflösung des Vertriebsgebiets 13 nicht von der [X.] 2009 abgewichen. Sie war nicht verpflichtet, die in der [X.] 2009 ausgebrachte [X.] zu besetzen. Bei der in § 2 A Nr. 1 [X.] 2009 beschriebenen Verstärkung des [X.] [X.] handelt es sich nicht um eine zwischen den Betriebsparteien vereinbarte Maßnahme, die hinsichtlich der zahlenmäßigen oder regionalen Besetzung des Außendienstes Verbindlichkeit beansprucht. Vielmehr enthält die Regelung lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung der Beklagten über die zukünftige Ausgestaltung des [X.] [X.]. Dies folgt aus dem Wortlaut von § 2 A Nr. 1 [X.] 2009. Nach dessen Unterabs. 1 Satz 2 „soll“ eine Verstärkung des [X.] [X.] erfolgen. Weiter heißt es in § 2 A Nr. 1 Unterabs. 2 Satz 1 [X.] 2009 lediglich „derzeit geplante Vertriebsgebiete“. Insbesondere der Vorbehalt in Satz 2, wonach der Zuschnitt zukünftig Änderungen unterliegen kann, spricht gegen eine die Beklagte bindende Festlegung ihrer bei Abschluss der [X.] 2009 bestehenden Planungen. Für ein solches Verständnis spricht, dass sich die Beklagte an anderer Stelle im Interessenausgleich gegenüber dem Gesamtbetriebsrat zur Besetzung der neu einzurichtenden Stellen (§ 2 A Nr. 2 Unterabs. 3 Satz 3, A Nr. 3 Unterabs. 2 Satz 2, A Nr. 4 Unterabs. 1 Satz 1 [X.] 2009) sowie zur Abgabe von Änderungsangeboten für die neu einzurichtenden Arbeitsplätze rechtlich gebunden hat.

4. Die Klage ist aber auch dann unbegründet, wenn zu Gunsten des Klägers eine Verpflichtung der Beklagten zur Besetzung der [X.] im Vertriebsgebiet 13 unterstellt würde. Die Verstärkung des [X.] [X.] stellt keine Regelung iSd. § 111 Satz 1 [X.] dar, deren Nichteinhaltung einen Anspruch auf Nachteilsausgleich begründet.

a) Nach § 111 Satz 1 [X.] hat der Unternehmer in Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Kommt ein Interessenausgleich zwischen Unternehmer und Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung zustande, ist dieser nach § 112 Abs. 1 Satz 1 [X.] schriftlich niederzulegen und von den Betriebsparteien zu unterschreiben. Gegenstand des Interessenausgleichs sind die organisatorische Umsetzung der Betriebsänderung und die mit ihrer Durchführung verbundenen personellen Maßnahmen. Zu diesem zählt insbesondere der Ausspruch von Kündigungen und Versetzungen gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern.

b) Die Betriebsparteien sind jedoch nicht auf die Ausgestaltung solcher Maßnahmen beschränkt. Arbeitgeber und Betriebsrat können auch Abreden über Sachverhalte treffen, deren Regelungsbedürftigkeit nicht unmittelbar auf die Betriebsänderung zurückgeht, sondern deren mittelbare Folge sind (Folgeregelungen). Diese betreffen nicht die nachteiligen Wirkungen der Betriebsänderung, sondern andere Beteiligungssachverhalte. [X.]ierzu zählen etwa Vereinbarungen über die Auswirkungen der geänderten Betriebsstruktur auf die Personalplanung, die Besetzung von neu geschaffenen Arbeitsplätzen und das darauf bezogene Auswahlverfahren. Solche Folgeregelungen können auch in einem Interessenausgleich aufgenommen werden.

c) Der Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 2 iVm. Abs. 1 [X.] erfasst aber nur solche Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis von der Betriebsänderung unmittelbar nachteilig betroffen ist. Dies ergibt die Auslegung der Norm.

aa) [X.]ierfür spricht schon ihr Wortlaut. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich setzt eine Abweichung vom Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung voraus. Dies betrifft nur die im Interessenausgleich bezeichneten Arbeitsverhältnisse, die nach der Vorstellung der Betriebsparteien von der unternehmerischen Maßnahme nachteilig betroffen sein können.

bb) Dieses Verständnis wird durch den Normzweck und die Gesetzessystematik bestätigt.

(1) Der Anspruch aus § 113 Abs. 2 iVm. Abs. 1 [X.] dient vornehmlich der Einhaltung des abgeschlossenen Interessenausgleichs über die geplante Betriebsänderung und schützt dabei mittelbar die Interessen der von dieser betroffenen Arbeitnehmer. Der Unternehmer soll durch die drohende individualrechtliche Entschädigung zur Einhaltung seiner sich aus § 111 Satz 1, § 112 Abs. 1 Satz 1 [X.] ergebenden Pflichten angehalten werden. Da diese Pflichtenstellung nur in Bezug auf die Teile der Belegschaft besteht, die von den betriebsändernden Maßnahmen nachteilig betroffen sind, erstreckt sich die durch § 113 [X.] bewirkte Sanktion nicht auf eine Zuwiderhandlung des Unternehmers gegen die in einem Interessenausgleich enthaltenen Folgeregelungen.

(2) Für diese Sichtweise spricht auch die Regelung in § 113 Abs. 3 [X.]. Durch diese erhalten Arbeitnehmer einen Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 [X.] durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Unterbleibt der Versuch eines Interessenausgleichs überhaupt, können nur solche Arbeitnehmer eine Entschädigung beanspruchen, die von der Betriebsänderung selbst nachteilig betroffen werden. Es ist kein Sachgrund ersichtlich, den begünstigten Personenkreis in § 113 Abs. 2 iVm. Abs. 1 [X.] weitergehend zu bestimmen als nach dessen Abs. 3.

d) Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger auch deshalb keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich, weil sein Arbeitsverhältnis nicht von der in der [X.] 2009 beschriebenen Betriebsänderung erfasst wird. Diese betrifft nach § 2 Abs. 1 [X.] 2009 die Restrukturierung der unter § 2 A und [X.] 2009 aufgeführten Arbeitsplätze. Zu diesen gehören zwar die in § 2 A Nr. 1 [X.] 2009 bezeichneten 14 Arbeitsplätze des [X.] [X.]. Ein Arbeitsplatzabbau im [X.] [X.], dem der Arbeitsbereich des Klägers und die von der Beklagten ausgeschriebenen Stelle zugeordnet waren, ist hingegen nicht erfolgt.

        

    Schmidt    

        

    Linck    

        

    Koch    

        

        

        

    Benrath    

        

    [X.]    

                 

Meta

1 AZR 873/11

22.01.2013

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Hamburg, 21. Oktober 2010, Az: 15 Ca 103/10, Urteil

§ 113 Abs 2 BetrVG, § 113 Abs 1 BetrVG, § 113 Abs 3 BetrVG, § 111 S 1 BetrVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.01.2013, Az. 1 AZR 873/11 (REWIS RS 2013, 8798)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 8798

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Betriebsänderung - Nachteilsausgleich bei unterlassenem Interessenausgleichsversuch - Altmasseverbindlichkeit


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12 Sa 439/22

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