Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.04.2013, Az. 5 StR 617/12

5. Strafsenat | REWIS RS 2013, 6374

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5 [X.]/12

BUNDESGERICHTSHOF

IM [X.] DES VOLKES

URTEIL

vom 23.
April
2013
in der Strafsache
gegen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.

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Der 5. Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom
23. April
2013,
an der teilgenommen haben:

Vorsitzender Richter Basdorf,

[X.] [X.],
Richterin Dr. [X.],
[X.],
[X.] Dr. König

als beisitzende Richter,

Oberstaatsanwalt beim
Bundesgerichtshof

als Vertreter der [X.],

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

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für Recht erkannt:

1.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 12. Juli 2012 mit den zuge-hörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der [X.] abgesehen worden ist.

2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer [X.] und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

[X.] n d e

Das [X.] hat den Angeklagten

unter Freispruch im Übrigen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch einer wider-standsunfähigen Person,
und wegen sexuellen Missbrauch
eines Kindes in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die vom [X.] vertretene,
auf die [X.] der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wirksam beschränkte [X.] der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.
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I.

Das [X.] hat folgende Feststellungen und Wertungen getrof-fen:

1. Der Angeklagte und seine damalige Lebensgefährtin, die Zeugin S.

P.

, waren mit der Mutter der am 27. April 1995 geborenen Ne-benklägerin

F.

übereingekommen, dass die Nebenklägerin [X.] der Nachtschichten ihrer Mutter bei ihnen übernachten durfte. Während der [X.] der Nebenklägerin, die von März bis Mai 2007 stattfanden, kam es in vier Fällen dazu, dass der Angeklagte sich dem Kind, das zumeist bei ihm im Wohnzimmer auf der Couch schlief, sexuell näherte. Dabei drang er jeweils mit einem Finger in die Scheide der Nebenklägerin ein.

Die am 4. Januar 2001 geborene Zeugin

W.

war mit der Tochter des Angeklagten
J.

P.

sowie seinem Stiefsohn F.

P.

befreundet. Nach der Trennung des Angeklagten von der Zeugin S.

P.

kam es im Zeitraum von [X.] 2009 bis zur Festnahme des Angeklagten am 12. Dezember 2011 zu einer Vielzahl von gemeinsamen [X.]n der drei Kinder bei dem Angeklagten. Die Kinder teilten sich dabei jeweils das Bett im Schlafzimmer des Angeklagten. In drei Fällen legte sich der Angeklagte neben die Zeugin W.

und
nahm
im Beisein der schlafenden Kinder J.

und F.

sexuelle Handlungen an ihr vor
(Streicheln am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes, Lecken zwi-schen den Schamlippen, Schenkelverkehr).

2. Das [X.] hat die formellen Voraussetzungen für die Anord-nung der
Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB im Hinblick auf ein-schlägige Vorverurteilungen des Angeklagten bejaht.

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Er war bereits am 11. August
1992 durch das [X.] Berlin we-gen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, die vollständig vollstreckt wurde. Gegenstand der Verurteilung waren von [X.] 1991 bis Februar 1992 begangene Miss-brauchstaten zum Nachteil der damals zwölfjährigen Stieftochter aus seiner zur Tatzeit bereits mehrere Jahre geschiedenen zweiten Ehe sowie zum Nachteil der achtjährigen Tochter einer befreundeten Familie. Alle Taten er-eigneten sich bei
Übernachtungen der Kinder in seiner Wohnung oder bei
Übernachtungen des Angeklagten bei der befreundeten Familie. In einigen Fällen versuchte
der Angeklagte, mit seinem Glied in die Scheide des jewei-ligen Kindes einzudringen, was ihm zumindest bis in den [X.] gelang.

Am
14. September 1999 war
der Angeklagte erneut wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheits-strafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt
worden, die er wiederum vollständig verbüßte. Die im Zeitraum November 1998 bis März 1999 began-genen Taten richteten sich gegen die beiden elf und zwölf Jahre alten Töch-ter zweier befreundeter Familien. Auch hier nutzte der Angeklagte jeweils [X.] der Kinder in seiner Wohnung für sexuelle Handlun-gen aus. Dabei kam es jeweils auch zum vaginalen Geschlechtsverkehr.

3. Die sachverständig beratene Strafkammer ist
zu dem Schluss
ge-kommen, dass bei dem Angeklagten ein Hang bestehes-

(UA S.
59).
Die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungs-verwahrung hat
sie gleichwohl verneint, da es

gemessen an dem nach dem Urteil des [X.] vom 4. Mai 2011 ([X.] 128, 326)
anzulegenden strengen Prüfungsmaßstab

an der erforderlichen Prognose schwerer Gewalt-
oder Sexualstraftaten fehle, die den Angeklagten für die 6
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Allgemeinheit gefährlich machten. Sie stellt dabei maßgeblich auf Umstände des Einzelfalls ab.

[X.]

Diese Begründung für das Absehen von der Anordnung der Siche-rungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

1.
Im Ansatz zu Recht geht das [X.] davon aus, dass die Re-gelungen
über die Anordnung der Sicherungsverwahrung, die entsprechend dem Urteil des [X.] vom 4. Mai 2011 (aaO) wegen Verletzung des Abstandsgebots mit dem [X.] aus Art. 2 Abs.
2 Satz 2 i.V.m. Art.
104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar sind und lediglich befristet weitergelten, während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden dürfen. Der [X.] ist in der Regel nur unter der Voraussetzung ge-wahrt, dass eine Gefahr schwerer Gewalt-
oder Sexualstraftaten aus konkre-ten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist ([X.]
aaO S. 406).

2. Jedoch ist bereits
zu beanstanden, dass das [X.] keine Feststellungen dazu trifft, welche
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbe-stimmung von Kindern mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. In diesem Zusammenhang wären insbesondere auch die
entsprechenden
Aus-führungen des Sachverständigen darzulegen und zu würdigen gewesen, die das Urteil vollständig verschweigt. Soweit das [X.] davon ausgeht, e-gen die zu stellende Gefährlichkeitsprognose im Sinne erheblicher [X.] S. 60) spreche, hätte es hierzu näherer, ebenfalls die [X.] des Sachverständigen einbeziehender
Darlegungen bedurft, inwieweit es sich hierbei um eine

unabhängig von zufälligen [X.] beste-hende

verfestigte Tendenz in Verhalten und Persönlichkeit des Angeklag-9
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ten handelt, aufgrund derer
eine für die Anordnung der Sicherungsverwah-rung erforderliche Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerer Sexualstrafta-ten nicht besteht.

3. Zumindest Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB,
wie der Angeklagte sie zum Nachteil der Nebenklägerin begangen hat, sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafdrohung unab-hängig von körperlicher Gewaltanwendung

unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls

grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten im Sinne der Maßgabe des [X.] zu werten (vgl. [X.], Beschlüsse vom 26. Oktober 2011

5 StR 267/11, [X.], 9, vom 2.
August
2011

3 [X.], [X.]R StGB §
66 Strikte Verhältnismäßig-keit
1, vom 11. August 2011

3 [X.], vom 26. Oktober
2011

2 StR 328/11, [X.], 212,
und Urteile vom 28. März 2012

2 [X.], [X.], 272, und vom 19. Februar 2013

1 [X.]). Die
vom [X.] genannten Umstände rechtfertigen eine Ausnahme von diesem Grundsatz nicht.

Dass der Angeklagte

außer dem Auseinanderdrücken der Beine der Zeugin

W.

keine Gewalt gegen seine Opfer angewendet hat und dies mithin

auch unter Berücksichtigung seiner Vortaten

zukünftig nicht hinreichend konkret zu erwarten sein dürfte, ist für die Einordnung der Delikte als schwere Sexualstraftaten unerheblich
(vgl. [X.], Urteil vom 19.
Februar 2013 aaO). Das Urteil
des [X.] vom 4.
Mai 2011 (aaO) nennt die Gefahr schwerer Sexualstraftaten ausdrücklich und selbständig neben derjenigen schwerer Gewaltstraftaten als mögliche Anordnungsgrundlage der Sicherungsverwahrung. Schon ohne Gewaltan-wendung ist die durch § 176a StGB geschützte sexuelle Entwicklung des Kindes in schwerwiegender Weise gefährdet; im Hinblick auf die unzu-reichenden Verstandes-
und Widerstandskräfte kindlicher Opfer erübrigt sich häufig die Anwendung nötigender Mittel im Rahmen sexueller Übergriffe.
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Auch der Umstand, dass der Angeklagte bei erkennbarer Ablehnung seiner Opfer von diesen abließ, ist
ohne große Aussagekraft. Schon
bei sei-nen früheren Taten hatte der Angeklagte die sexuelle Handlung beendet, wenn
das Opfer Schmerzen oder Ablehnung äußerte. Dies hatte ihn indes weder bei den früheren
noch bei den verfahrensgegenständlichen Taten da-von abgehalten, weitere Taten gegen jeweils dieselben Opfer zu begehen.

Inwieweit die Tatsache, dass die Übernachtungen seiner Opfer bei dem Angeklagten nicht durch seine Initiative zustande gekommen sind, seine Gefährlichkeit maßgeblich berühren soll, erhellt sich nicht. Dass es dem [X.] künftig deutlich erschwert sein könnte, vergleichbare günstige Ge-legenheiten zu sexuellen Handlungen an Kindern zu finden und auszunut-zen, ist nicht ausgeführt. Auch der Umstand, dass der Angeklagte

aktuell

eine Beziehung zu einer Frau mit einer erwachsenen Tochter unterhält, bietet hierfür keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Bei den bisherigen [X.] handelte
es sich mehrheitlich nicht um die Töchter seiner Partnerinnen, [X.] um diejenigen befreundeter Eltern, die ihm vertrauten.

Schließlich vermag auch die Erwägung der Strafkammer, die Taten seien im vorliegenden Fall für die Opfer ohne schwerwiegende langfristige Folgen geblieben, das Ergebnis nicht zu stützen. Denn hier werden Umstän-de der

inzwischen zurückliegenden

Einzelfälle angeführt, die nicht dem Verhalten des Angeklagten,
sondern der Tatsache geschuldet sind, dass bei den konkreten [X.] jene Schäden, denen §§
176, 176a StGB vorbeu-gen wollen, ausgeblieben zu sein scheinen. Zumindest mit Taten des schwe-ren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Es ist nahezu ausge-schlossen, hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kind-lichen Opfern zu prognostizieren (vgl. [X.], Urteil vom 24. März 2010

2 StR 10/10, [X.]R StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 7).

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Die Ausführungen des Urteils zu einem möglichen Umdenken des An-ezug auf den Umgang mit sS.
61), für welches das [X.] Anhaltspunkte in der Wahl seiner aktuel-len Partnerin und der Äußerung von [X.] sieht, lassen be-sorgen, dass es den ersten Ansatz für eine

nur in einem langfristigen the-rapeutischen Prozess erzielbare

Verhaltensänderung
mit deren erwartba-rem Erfolg gleichsetzt.

I[X.]

Der Senat hebt das Urteil deshalb mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen [X.] ist. Die Einzelstrafen und die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe sind so milde, dass sie
bestehen bleiben
können. Der Senat schließt aus, dass sie niedriger ausgefallen wären, wenn das Tatgericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet hätte (vgl. [X.], Urteil vom 19. Febru-ar
2013

1 [X.] mwN).

IV.

Das neue Tatgericht ist verpflichtet, über die Unterbringung in der [X.] auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrecht-lichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwah-rung ([X.] I 2012, 2425) am 1.
Juni 2013 weiterhin auf der Grundlage des bisherigen Maßstabs strikter Verhältnismäßigkeit ([X.] 128, 326) zu [X.]. Grundsätze des im Rechtsstaatsprinzip verankerten [X.] verbieten, einen Angeklagten in der Folge eines gerichtlichen Feh-lers insoweit schlechter zu stellen, als er bei einem von ihm zu erwartenden rechtsfehlerfreien Urteil der Tatsacheninstanz gestanden hätte. Der Senat

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braucht nicht zu entscheiden, ob und inwieweit der im [X.] verankerte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch künftig eine im Vergleich zu früherer Rechtsanwendung eingeschränkte Auslegung insbesondere des [X.] in §
66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB gebietet.

[X.] [X.]

[X.] König

Meta

5 StR 617/12

23.04.2013

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 23.04.2013, Az. 5 StR 617/12 (REWIS RS 2013, 6374)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 6374

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 StR 465/12 (Bundesgerichtshof)


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5 StR 617/12

5 StR 267/11

3 StR 208/11

2 StR 328/11

2 StR 592/11

1 StR 275/12

2 StR 10/10

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