Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.06.2021, Az. 1 StR 44/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 5339

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Gegenstand

Revision in Strafsachen: Anforderungen an die Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht über Gespräche zu Verständigungsmöglichkeiten


Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten und der [X.] wird das Urteil des [X.] vom 20. August 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten [X.]          wegen Steuerhinterziehung in sieben Fällen, Fälschens technischer Aufzeichnungen in sechs Fällen und Vorbereitung von [X.] in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Gegen die Angeklagte S.           hat es wegen Steuerhinterziehung in sieben Fällen eine Gesamtgeldstrafe von 210 Tagessätzen zu je 100 Euro verhängt. Darüber hinaus hat das [X.] Tatmittel und den Wert von Taterträgen, letzteres gegen beide Angeklagte sowie gegen die von ihnen geführte [X.] eingezogen. Die von den Angeklagten und der [X.]n mit der Beanstandung der Verletzung formellen und materiellen Rechts geführten Revisionen haben mit der Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO Erfolg.

2

1. Der von den [X.] im Wesentlichen inhaltsgleich erhobenen Verfahrensrüge liegt folgendes Geschehen zugrunde:

3

a) Der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer teilte am 7. Mai 2020 zwischen zwei [X.] telefonisch dem Verteidiger der Angeklagten S.            mit, dass sich die [X.] im Hinblick auf die [X.] „nochmals ernsthaft mit diesem Verfahren beschäftigt“ habe. Gegen seine Mandantin könne „mittlerweile“ eine Einstellung nach § 153a StPO in Betracht kommen, wenn der entstandene [X.] - auch bezogen auf die [X.] - beglichen werde. Hierbei waren die näheren Modalitäten der Tilgung der Steuerschäden Inhalt des Telefonats.

4

b) Der Verteidiger der Angeklagten S.          teilte dieser den Inhalt und das Ergebnis des von ihm mit dem Vorsitzenden der [X.] geführten Telefonats mit. Bereits zuvor war dem Angeklagten [X.]          von seinem Verteidiger unterbreitet worden, dass eine Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zwei Jahren mit Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung gegen Bewährungsauflagen in Frage komme. Beide Angeklagte lehnten diese Vorschläge ab.

5

c) Eine Mitteilung des Umstands, dass zwischen dem Vorsitzenden der [X.] und den Verteidigern der Angeklagten solche Telefonate mit dem Ziel einer Verfahrensverständigung stattgefunden haben, erfolgte in der Hauptverhandlung nicht.

6

2. Die von den [X.] jeweils zulässig erhobene Rüge der Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO hat Erfolg.

7

a) Die Verfahrensrüge ist zulässig nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben.

8

aa) Entgegen der Ansicht des [X.] war der Inhalt des Vermerks des Vorsitzenden [X.] zu dem nach der Hauptverhandlung am 23. Januar 2020 zwischen den Berufsrichtern, den Schöffen, den Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft und den an diesem Hauptverhandlungstag anwesenden Verteidigern geführten Gespräch nicht erforderlich, um der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu genügen. In diesem in der Hauptverhandlung vom 20. Februar 2020 verlesenen Vermerk ist niedergelegt, dass das Tatgericht im Rahmen eines Gesprächs nach § 257b StPO eine vorläufige Würdigung des bisherigen Ergebnisses der Hauptverhandlung sowie eine prognostische Einschätzung der weiteren möglichen Beweisaufnahme vorgenommen habe. Danach könnten bei keinem der Angeklagten Feststellungen getroffen werden, die zu einer Freiheitsstrafe außerhalb des bewährungsfähigen Bereichs führen. Deshalb erscheine durch Ausscheiden von Taten bzw. Tatteilen eine Beschränkung des Verfahrensstoffs sachgerecht, bei denen eine Verurteilung eher fernliegend sei. Nach Darlegung der Bewertung des [X.]s zu den einzelnen Taten bat der Vorsitzende die Verfahrensbeteiligten, in den folgenden Wochen mitzuteilen, ob die Staatsanwaltschaft einer Beschränkung des Verfahrensstoffs zustimmen bzw. entsprechende Anträge stellen werde und welches Einlassungsverhalten seitens der Angeklagten in diesem Fall beabsichtigt sei, damit der Fortgang der Hauptverhandlung entsprechend geplant werden könne. Dies sicherten die Verfahrensbeteiligten zu.

9

bb) Gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO ist über Erörterungen zu berichten, die außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Davon ist auszugehen, sobald bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand, also Fragen des prozessualen Verhaltens in [X.] zum Verfahrensergebnis gebracht wurden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung nahe lag (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Juli 2019 - 1 StR 2/19 [X.] [X.]). Hiernach sind sämtliche Gespräche, die solche Erörterungen zum Gegenstand haben, in der Hauptverhandlung mitteilungspflichtig. Zur Darlegung eines [X.]es reicht es daher aus, allein diese außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gespräche inhaltlich mitzuteilen; der Darlegung früherer Gespräche, insbesondere sonstiger zur Verfahrensförderung geeigneter Erörterungen (§ 257b StPO, vgl. auch [X.] aaO Rn. 11 ff. [X.]) bedarf es zum Nachweis eines [X.]es nicht.

b) Die Verfahrensrüge dringt - nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Angeklagten - auch durch. Die Telefongespräche des Vorsitzenden mit den Verteidigern der Angeklagten hatten zum Ziel, eine Verfahrensverständigung - auch bezüglich der [X.]n - herbeizuführen. Entgegen der Ansicht des [X.] handelte es sich inhaltlich nicht lediglich um „Sondierungsgespräche“ ohne Bezug zu einer einverständlichen Verfahrenserledigung.

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das Urteil auf dem [X.] beruht. Das [X.] der die Taten bestreitenden Angeklagten S.            und des zu den Tatvorwürfen schweigenden Angeklagten [X.]           hätte sich bei Mitteilung des Inhalts der geführten Telefongespräche in der Hauptverhandlung möglicherweise geändert.

3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Raum     

        

Bellay     

        

Fischer

        

Hohoff     

        

Leplow     

        

Meta

1 StR 44/21

02.06.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Stuttgart, 20. August 2020, Az: 20 KLs 211 Js 18177/17

§ 243 Abs 4 S 1 StPO, § 243 Abs 4 S 2 StPO, § 257b StPO, § 257c StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.06.2021, Az. 1 StR 44/21 (REWIS RS 2021, 5339)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 5339

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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