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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"
Vorbescheid, Grundzüge der Planung, kein Befreiuungsanspruch, Bebauungsplan
Bayerisches Verwaltungsgericht München
M 8 K 14.1480
Im Namen des Volkes
Urteil
vom 16. März 2015
8. Kammer
Sachgebiets-Nr. 920
Hauptpunkte: Vorbescheid; übergeleitete rückwärtige Baugrenze; Grundzüge der Planung; kein Anspruch auf Befreiung
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
1. ...
2. ...
zu 1 und 2 wohnhaft: ...
- Kläger -
zu 1 und 2 bevollmächtigt: ...,
gegen
... - Beklagte -
wegen Vorbescheid ...-weg 5 a, Fl. Nr. ..., Gemarkung ...
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 8. Kammer, durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht ..., den Richter am Verwaltungsgericht ..., die Richterin am Verwaltungsgericht ..., die ehrenamtliche Richterin ..., den ehrenamtlichen Richter ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. März 2015 am 16. März 2015 folgendes Urteil:
I.
Unter Aufhebung der negativen Beantwortung der Vorbescheidsfragen 1, 3 und 5 im Vorbescheid vom ... März 2014 wird die Beklagte verpflichtet, die Vorbescheidsfragen 1, 3 und 5 nach dem Vorbescheidsantrag vom 2. Oktober 2013 positiv zu beantworten.
I.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Beklagte hat 3/5, die Kläger haben 2/5 der Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
Die Kläger begehren von der Beklagten die Erteilung eines positiven Vorbescheids für ihren Vorbescheidsantrag vom 2. Oktober 2013. Beantragt wurde ein Anbau an ein bestehendes zweigeschossiges Einfamilienhaus auf dem Grundstück Fl. Nr. ... der Gemarkung ... im ...-weg 5 a sowie die Errichtung eines Terrassengeschosses auf dem Bestandsgebäude. Mit ihrem Vorbescheidsantrag haben die Kläger insgesamt fünf Vorbescheidsfragen gestellt, die von der Beklagten mit negativem Vorbescheid vom ... März 2014 allesamt negativ beantwortet worden sind.
Lageplan, 1:1.000
Im Vorbescheid vom ... März 2014 hat die Beklagte zu den baurechtlichen Grundlagen ausgeführt, das Baugrundstück liege innerhalb eines Gevierts, welches im Westen vom ...-weg, im Norden von der ...-straße, im Osten von der ...-straße und im Süden vom ...-weg begrenzt werde. Der Flächennutzungsplan der Beklagten stelle den Bereich als Reines Wohngebiet dar, womit der Realität entsprochen sei. Planungsrechtlich beurteile sich die Zulässigkeit des beantragten Bauvorhabens nach § 30 Abs. 3 BauGB in Form einer -straßenbegleitenden sowie einer rückwärtigen Baugrenze, im Übrigen nach § 34 BauGB. Der städtebaulich maßgebliche Bereich innerhalb des Gevierts beschränke sich auf die Grundstücke nördlich des Bebauungsplans Nr. ..., die südliche Begrenzung bilde damit das Anwesen Fl. Nr.... und sei von Wohnbebauung unterschiedlicher Grundflächen geprägt. Bei einer Beurteilung eines Bauvorhabens nach § 34 BauGB seien die Bereiche, die einer Beurteilung nach § 30 Abs. 1 BauGB unterlägen, regelmäßig auszublenden. Die Höhenentwicklung der Gebäude sei uneinheitlich und erreiche zwei Geschosse und Dachgeschoss. Die Gebäude mit Hauptnutzung lägen, mit einer Ausnahme, im Wesentlichen sämtlich innerhalb des festgesetzten übergeleiteten Bauliniengefüges, folglich innerhalb des Bauraums.
Die Vorbescheidsfragen wurden wie folgt beantwortet:
Frage 1: Ist die Nutzung als Wohngebäude (Einfamilienhaus) möglich?
Antwort: Nein.
Begründung: Unter Maßgabe der Beantwortung der Frage 4 und damit der hinsichtlich der Lage des Erweiterungsbaukörpers grundlegenden planungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens werde die Frage 1 negativ beantwortet und im Übrigen auf die ausführliche Begründung im Zusammenhang mit der Beantwortung der Frage 4 verwiesen.
Die Beklagte wies ausdrücklich darauf hin, dass für ein innerhalb des Bauraums situiertes, im Übrigen hinsichtlich des Nutzungsmaßes planungsrechtlich zulässiges Vorhaben die Art der Nutzung - Wohnen - zulässig und positiv zu beantworten wäre.
Frage 2: Ist das Maß der Nutzung (GRZ) - wie in den Plänen dargestellt - planungsrechtlich möglich?
Antwort: Nein. Eine Aussage zur GRZ könne nicht getroffen werden, da für den fraglichen Bereich nicht festgesetzt.
Begründung: Aussagen zur GRZ könnten nur in Bereichen getroffen werden, für die qualifizierte Bebauungspläne, welche entsprechende Zahlen festsetzten, vorhanden und nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilen seien. Für Bereiche, in denen sich, wie im vorliegenden Fall, die Zulässigkeit von Bauvorhaben nach § 34 BauGB richte, seien Angaben zu GRZ nicht möglich, da diese nach gängiger Betrachtungsweise keine Einfügungskriterien im Sinne des § 34 BauGB darstellten.
Frage 3: Ist die in den Plänen dargestellte Höhenentwicklung des Anbaus planungsrechtlich möglich?
Antwort: Nein.
Begründung: Unter Maßgabe der Beantwortung der Frage 4 und damit der hinsichtlich der Lage des Baukörpers grundlegenden planungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens, werde die Frage 1 negativ beantwortet und im Übrigen auf die Beantwortung der Frage 4 verwiesen.
Frage 4: Der Bauraum im rückwärtigen Bereich - festgesetzt durch die Baugrenze -wurde von der Nachbarbebauung (siehe Referenzobjekt Nachbargrundstück Fl. Nr. ... und Fl. Nr. ...) nicht eingehalten. Ist die Lage auf dem Grundstück - wie dargestellt - möglich?
Antwort: Nein, die abgefragte und in den Plänen Nr. ... dargestellte Lage des Erweiterungsbaukörpers auf dem Grundstück ist nicht möglich.
Begründung: Das beantragte Bauvorhaben in Form eines Erweiterungsbaukörpers solle im rückwärtigen Grundstücksbereich vollständig außerhalb des mit einfachem übergeleiteten Bebauungsplan festgesetzten Bauliniengefüges errichtet werden. Die Sachbehandlung im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens ergebe, dass die hierfür erforderliche Befreiung unter Berücksichtigung der Einfügenskriterien nach § 34 BauGB i. V. m. der unmittelbaren bzw. maßgeblichen Umgebungsbebauung nicht in Aussicht gestellt werden könne. Als maßgeblicher Umgriff werde die Bebauung nördlich des Bebauungsplan-Umgriffs Nr. ... angesehen. Hier sei eine kleinteilige Bebauung mit zweigeschossigen Wohngebäuden mit Satteldach vorherrschend. Die Gebäude hielten die festgesetzten Bauräume ein. Das Notwohngebäude ...-str. 82 könne nicht als Bezugsfall herangezogen werden. Im südlichen Bereich des Gevierts gelte der Bebauungsplan Nr. ..., der hier ein Mischgebiet festsetze und eine erkennbar andere städtebauliche Struktur mit sehr großen Baukörpern ermögliche. Hier seien bei den Gebäuden ...-weg 15 bis 17 (Fl. Nr. ... und Fl. Nr. ...) rückwärtige Bauraumüberschreitungen vorhanden. Dieses Bebauungsplangebiet könne aber nicht als Bezugsfall zur Beurteilung des Bauvorhabens dienen, da es sowohl hinsichtlich Art als auch hinsichtlich des Maßes der Nutzung eine deutlich andere städtebauliche Struktur aufweise und zudem einer anderen Rechtsgrundlage unterliege.
Zwar sei mit dem Anwesen ...-str. 82 ein Rückgebäude in der städtebaulich maßgeblichen Umgebung vorhanden, aber hierbei handle es sich um ein widerrechtlich errichtetes Notwohngebäude, das seinerzeit mit einer Nichteinschreitensverfügung belassen worden sei und keine Genehmigung besitze. Zudem würden im maßgeblichen Geviert Rückgebäude bzw. Erweiterungen von bestehenden Gebäuden über die rückwärtige Baugrenze, die außerhalb des festgesetzten Bauliniengefüges errichtet werden sollten, als städtebauliche Fehlentwicklung gesehen. Damit könne, gerade um keine entsprechende städtebauliche Entwicklung einzuleiten bzw. um keine negative Vorbild-/Bezugsfallwirkung entstehen zu lassen, eine Befreiung weder in Aussicht gestellt noch erteilt werden. Das Bauvorhaben sei folglich im Widerspruch zu dem einfachen übergeleiteten Bauliniengefüge im rückwärtigen Grundstücksbereich außerhalb des festgesetzten Bauraums nicht zulässig.
Frage 5: Ist der in den Plänen dargestellte Dachaufbau planungsrechtlich möglich?
Antwort: Nein.
Begründung: Das abgefragte Terrassengeschoss erreiche mit 8,73 m eine Wandhöhe, die aus der maßgeblichen Umgebungsbebauung nicht herzuleiten sei. Zudem sei auch die dargestellte Höhenentwicklung (III-Geschosse) und Dachgestaltung in der maßgeblichen Umgebungsbebauung nicht vorzufinden. Folglich seien die Einfügenskriterien im Sinne des § 34 BauGB nicht erfüllt. Im Gegenteil werde mit der geplanten Wandhöhe von 8,73 m und dem dritten Geschoss als Terrassengeschoss ein „neuer Takt“ in das Geviert hineingetragen, was zu städtebaulichen Spannungen führe. Das in den Plänen dargestellte Terrassengeschoss sei daher nach § 34 BauGB planungsrechtlich unzulässig.
Mit Schriftsatz vom 9. April 2014, am selben Tag bei Gericht eingegangen, haben die Prozessbevollmächtigten der Kläger Klage erhoben und beantragt:
I.
Der Vorbescheid vom ... März 2014, Az: ..., wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Vorbescheidsantrag vom 2. Oktober 2013 betreffend Anbau an ein Einfamilienhaus zu genehmigen.
III.
Die Beklagte wird verpflichtet, entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag zu entscheiden.
Mit Schriftsatz vom 2. Juli 2014 wurde zur Klagebegründung im Wesentlichen vorgetragen, die Kläger seien Eigentümer des Grundstücks Fl. Nr. ... der Gemarkung ..., auf dem sich innerhalb des Bauraums zwei Wohngebäude befänden. Die Kläger wollten auf ihrem Grundstück einen Anbau an das bestehende Wohngebäude errichten, welcher ebenfalls dem Wohnen dienen solle. Hintergrund des geplanten Vorhabens sei, dass die 1924 geborene Tante der Klägerin zu 2) im Januar 2014 bereits den zweiten Oberschenkelhalsbruch erlitten habe und aufgrund ihres hohen Alters pflegebedürftig sei. Wegen der Pflegebedürftigkeit müsse die Klägerin zu 2) die Tante aufnehmen, wozu es eines Erweiterungsbaus bedürfe, der barrierefrei errichtet werden müsse.
Bei der Beurteilung der planungsrechtlichen Zulässigkeit beschränke die Beklagte den maßgeblichen Beurteilungsbereich unzulässig auf den Teil des Gevierts, der außerhalb des Bebauungsplans Nr. ... liege. Die Ansicht der Beklagten, die Bereiche, die einer Beurteilung nach § 30 Abs. 1 BauGB unterlägen, seien regelmäßig auszublenden, sei eine unrichtige Rechtsauffassung, die seit der Entscheidung vom 13. Dezember 1999 (M 8 K 99.2896) aus der Welt sein müsste. In diesem Urteil werde ausgeführt, die Eigenart eines Gebiets werde auch durch Vorhaben bestimmt, die in einem angrenzenden, nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilenden Gebiet mit Bebauungsplan errichtet worden seien. Auf die in einem solchen Gebiet nach den Festsetzungen des Bebauungsplans zulässige Bebauung komme es dabei aber nicht an, vielmehr auf das tatsächlich Vorhandene. Die Beklagte liege auch falsch, wenn sie meine, das „Notwohngebäude“ ...-str. 82 könne nicht als Bezugsfall herangezogen werden. Im Rahmen des § 34 BauGB müssten auch solche Gebäude Berücksichtigung finden, denen zwar eine förmliche Genehmigung fehle, die aber seit Jahrzehnten unbeanstandet existierten und bezüglich derer auch keine Absicht seitens der Behörden bestehe, sie zu beseitigen (BVerwG vom 6.11.1968, BVerwGE 31, 22).
Nicht nur innerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans Nr. ... im südlichen Teil des Gevierts seien zahlreiche Befreiungen von dessen Festsetzungen betreffend die Bauräume durch die Beklagte erteilt worden, sondern auch im Übrigen Teil des Gevierts außerhalb dieses Bebauungsplans. So sei das Gebäude auf dem Grundstück Fl. Nr. ... mit einer Breite von fast 6 m, das Gebäude auf dem Grundstück Fl. Nr. ... sogar mit einer Breite von fast 7 m außerhalb des Bauraums gebaut. Die Länge dieser Überschreitungen betrage jeweils fast 15 m. Die Gebäude auf dem Grundstück Fl. Nr. ... ragten ebenfalls etwa 4 m aus dem Bauraum hinaus, die Länge der Überschreitung betrage etwa 7 m bzw. 9 m. Im nördlichen Teil des Gevierts überschreite das Rückgebäude auf dem Grundstück ...-str. 82 ebenfalls die Baugrenzen, auf dem Grundstück Fl. Nr. ... sei ein freistehendes Gebäude inmitten des Gevierts errichtet.
Das Geviert sei auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung durch eine uneinheitliche Bebauung geprägt. Einerseits befänden sich dort einzelne kleine Häuser, andererseits Häuser größerer Ausdehnung. Die Wohnhäuser entlang der ...-straße seien geschlossen gebaut und machten einen massiven Eindruck. Ebenso massiv seien die Gebäude im nord-westlichen Teil des Gevierts entlang der ...-straße, auch diese in geschlossener Bauweise.
Die Kernfrage des Verfahrens laute, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB vorlägen und den Klägern die beantragte Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen zu erteilen sei. Die Kläger hätten einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB bezüglich der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze, da die Grundzüge der Planung nicht berührt würden. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 28. Februar 2011 (M 8 K 10.923) wird dargelegt, dass die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB vorlägen. Es seien angesichts der heterogenen Bebauung in dem Geviert keine Gründe dafür ersichtlich, warum die Erteilung der beantragten Befreiung städtebaulich nicht vertretbar sein sollte.
Auch die übrigen Voraussetzungen des § 34 BauGB seien gegeben. Un-streitig sei die Nutzung als Wohngebäude möglich. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung halte sich das beantragte Vorhaben hinsichtlich Länge, Breite und Höhe innerhalb des Rahmens, den die vorhandene Bebauung vorgebe. Geplant sei lediglich ein Anbau, der von der Größenordnung die massiven Bauwerke in der näheren Umgebung deutlich unterschreite. Insbesondere die Referenzobjekte auf den Grundstücken Fl. Nrn. ..., ... im Mittelteil des Gevierts, aber auch die massiven Gebäude auf den Grundstücken Fl. Nrn. ..., ..., ..., ... und ... seien wesentlich größer als das Gesamtgebäude. Selbst mit dem geplanten Anbau füge sich das Gesamtgebäude der Kläger nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein, weshalb auch die Fragen 2 und 3 positiv hätten beantwortet werden müssen.
Im Übrigen greife vorliegend auch der neugefasste § 34 Abs. 3 a BauGB. Danach könne vom Erfordernis des Einfügens im Einzelfall abgewichen werden, wenn die Abweichung der Erweiterung eines zulässigerweise errichteten Wohngebäudes diene und diese Erweiterung städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Immerhin hätten § 31 Abs. 2 BauGB und § 34 Abs. 3 a BauGB im Wesentlichen die gleiche Zielrichtung, nämlich Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans bzw. Abweichungen vom Einfügensgebot zuzulassen, wenn dies in städtebaulicher Hinsicht vertretbar sei. Die Voraussetzungen seien in beiden Fällen gleich.
Mit Schreiben vom 3. Februar 2015 ist die Beklagte der Klage entgegengetreten und beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass der maßgebliche Beurteilungsbereich nicht dem Bereich des Bebauungsplans Nr. ..., sondern nur den Bereich nördlich dieses Plans umfasse und im Übrigen durch den ...-weg, die ...-straße und die ...-straße begrenzt sei. Das herangezogene Gebiet sei ausschließlich von Wohnbebauung geprägt, so dass es sich um ein faktisches Reines Wohngebiet handle. Die Bezugsfälle auf den Grundstücken Fl. Nrn. ..., ... und ... lägen im Bereich des Bebauungsplans Nr. ... und grenzten nicht unmittelbar an das Baugrundstück an. Sie hätten -wegen der deutlich größeren Ausmaße, der Massivität und der andersartigen Nutzung, insbesondere das Gebäude ...-str. 86 -wegen seiner Nutzung als Autohaus, eine völlig andere städtebauliche Prägung und entfalteten keine wechselseitige Prägung mit dem Baugrundstück.
Das Gebäude ...-str. 82 stelle keinen Bezugsfall für die Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze dar. Die Beklagte habe mit einer Nichteinschreitensverfügung deutlich gemacht, dass sie mit der widerrechtlichen Bebauung nicht einverstanden sei, sie es aber -wegen des Charakters als Notwohnung bei einem Nichteinschreiten belasse. Die Beklagte sei also nicht untätig geblieben und habe nicht den Anschein erweckt, sie ginge von einer rechtmäßigen Bebauung aus. Überdies stelle das Gebäude einen Fremdkörper dar, der aus der maßgeblichen Umgebung auszuscheiden sei. Es handle sich um ein Unikat, das die nähere Umgebung nicht präge. Es stelle das einzige Gebäude dar, das nicht hin zur Straße gebaut sei und den hinteren Bereich frei lasse, sondern mitten in die Grundstücksfläche eingepflanzt sei. Es habe als Notwohngebäude singulären Charakter.
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB lägen nicht vor. Durch eine entsprechende Befreiung würden Grundzüge der Planung berührt, zumal die Befreiung nicht von untergeordneter Bedeutung sei. Die Baugrenzen seien weder funktionslos geworden noch aufgeweicht. Die Gebäude im Umgriff des Bebauungsplans gehörten nicht zur näheren Umgebung und seien die dortigen Bauräume durch eine eigenständige Festsetzung festgesetzt worden. Die Konzeption des übergeleiteten Bauliniengefüges, die Freihaltung des rückwärtigen Bereichs für großzügige Grünflächen, sei noch in Takt. Andere Überschreitungen in der näheren Umgebung seien viel geringer als die beantragte.
Auf das Maß der baulichen Nutzung komme es nicht mehr an, da der Genehmigungsanspruch schon an der Überschreitung der Baugrenzen scheitere. Das Maß der baulichen Nutzung wäre im Übrigen überschritten, da ein massiver Baukörper geschaffen würde, der in der Umgebung keine Entsprechung fände. Mit seiner Genehmigung würden städtebauliche Spannungen, insbesondere im Hinblick auf die Gebäudehöhe von 8,73 m begründet, da alle bisherigen Gebäude überragt werden würden.
Auf § 34 Abs. 3 a BauGB könne nicht abgestellt werden, da dieser nur für die Fälle des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB gelte, nicht aber für Fälle von planerischen Festsetzungen oder Fälle des § 34 Abs. 2 BauGB. In diesen Fällen gelte nur § 31 BauGB. Zudem liege kein atypischer Einzelfall vor, da sich die Frage der Erweiterung und Aufstockung auch bei anderen Wohngebäuden in der näheren Umgebung stelle.
Das Gericht hat am 16. März 2015 Beweis durch Einnahme eines Augenscheins auf dem -streitgegenständlichen Grundstück und in dessen Umgebung erhoben. Hinsichtlich der Einzelheiten dieses Augenscheins und der anschließenden mündlichen Verhandlung, in der die Beteiligten ihre schriftsätzlich angekündigten Anträge stellten, wobei die Bevollmächtigten der Kläger klarstellten, dass der Antrag unter Ziffer III. hilfsweise gestellt werden soll, wird auf das Protokoll verwiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die zulässige Verpflichtungsklage ist hinsichtlich der Vorbescheidsfragen 1, 3 und 5 begründet, da den Klägern insoweit ein Rechtsanspruch auf eine positive Beantwortung zusteht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Hinsichtlich der Vorbescheidsfragen 2 und 4 ist die Klage dagegen unbegründet, da den Klägern insoweit kein Rechtsanspruch auf positive Beantwortung zusteht, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Dies gilt auch für den Hilfsantrag auf Neuverbescheidung, da die Rechtssache spruchreif ist und damit auch nicht die Voraussetzungen des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO vorliegen.
Gemäß Art. 71 Satz 4, 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist ein positiver Vorbescheid im Sinne der positiven Beantwortung der gestellten Vorbescheidsfrage zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben hinsichtlich der gestellten Frage keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
Da es sich bei dem den Vorbescheidsfragen zugrunde liegenden Vorhaben nicht um einen Sonderbau i. S. von Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt, kommt als Prüfungsmaßstab sowohl für das Baugenehmigungs- als auch das Vorbescheidsverfahren Art. 59 BayBO zur Anwendung, wonach in erster Linie die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach den §§ 29 ff. BauGB zu prüfen ist.
2. Mit der Frage 1 „Ist die Nutzung als Wohngebäude (Einfamilienhaus) möglich?“ wurde die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Art der Nutzung abgefragt. Die Vorgehensweise der Beklagten, die Frage im Hinblick auf die -wegen der ihres Erachtens bestehenden planungsrechtlichen Unzulässigkeit der Lage des Erweiterungsbaukörpers, die in Frage 4 abgefragt wurde, abzulehnen, ist unzulässig.
Nach Art. 71 Satz 1 BayBO ist auf Antrag vor Einreichung des Bauantrags zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Bei Fragen zur bauplanungsrechtlichen Bebaubarkeit nach § 34 BauGB können entweder die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach den §§ 30 ff. BauGB in Form einer sogenannten „Bebauungsgenehmigung“ abgefragt werden, oder aber, sofern sie selbstständig prüffähig sind, einzelne Zulässigkeitskriterien des § 34 BauGB, etwa die Zulässigkeit der Art der Nutzung oder die überbaubare Grundstücksfläche (vgl. Schwarzer/König, BayBO, 4. Auflage 2012, Art. 71 RdNr. 4).
Werden vom Antragsteller derartige zulässige Einzelfragen gestellt, hat die Bauaufsichtsbehörde diese Fragen jeweils für sich zu beantworten und kann nicht unter Hinweis auf die Unzulässigkeit des Vorhabens hinsichtlich eines anderen Einfügensmerkmals - etwa der überbaubaren Grundstücksfläche - die Frage nach der Zulässigkeit der Art der Nutzung verneinen. Für die einzelnen Einfügenskriterien des § 34 BauGB folgt dies auch daraus, dass diese unabhängig voneinander zu prüfen sind (vgl. BVerwG, B. v. 6.11.1997 - 4 B 172.97, ZfBR 1998, 164 - juris RdNr. 5; B. v. 13.5.2014 - 4 B 38/13, ZfBR 2014, 547 - juris RdNr. 7).
Da sich die nähere Umgebung des Baugrundstücks als Reines Wohngebiet im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 3 BauNVO darstellt und in diesem Bereich ein Wohnbauvorhaben gem. § 3 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO allgemein zulässig ist, hätte die Beklagte die Frage 1 positiv beantworten müssen.
In diesem Zusammenhang wäre es der Beklagten unbenommen, auf die aus ihrer Sicht gegebene Unzulässigkeit im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche (wie in Frage 4 abgefragt) hinzuweisen. Dagegen erscheint jedoch die von der Beklagten vorliegend gewählte Vorgehensweise, die Frage zu verneinen und lediglich im Hinweis auf die grundsätzliche Zulässigkeit der abgefragten Art der Nutzung hinzuweisen, unzulässig, da diese im Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut des Art. 71 BayBO („zu einzelnen Fragen“) sowie zur unabhängig voneinander durchzuführenden Prüfung der Einfügenskriterien des § 34 Abs. 1 BauGB steht.
3. Auch hinsichtlich Frage 3 „Ist die in den Plänen dargestellte Höhenentwicklung des Anbaus planungsrechtlich möglich?“ hätte die Beklagte einen positiven Vorbescheid erteilen müssen, da sich das Vorhaben mit der geplanten Höhenentwicklung des Anbaus in das in der Umgebung vorhandene Maß der baulichen Nutzung einfügt.
Nach den Plänen soll der zweigeschossige Anbau mit Flachdach eine Höhe von 6,02 m erreichen. Das Gebäude ...-weg 7 weist eine Wandhöhe von 6,20 m und eine Firsthöhe von 8,70 m auf. Das Gebäude ...-weg 1 weist eine Wandhöhe von 6,50 m und eine Firsthöhe von 10,50 m auf. Das Gebäude ...-weg 3 a und b weist eine Wandhöhe von 6,0 m und eine Firsthöhe von 10,50 m auf. Damit fügt sich ein Anbau mit einer Höhenentwicklung von 6,02 m ohne weiteres nach seiner Höhenentwicklung nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der baulichen Nutzung der Umgebungsbebauung ein. Wie schon bei Frage 1 hätte die Beklagte auch hinsichtlich der Frage 3 nicht auf die negative Beantwortung der Frage 4 im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche verweisen dürfen, sondern die Frage positiv beantworten müssen.
4. Auch hinsichtlich der Frage 5 „Ist der in den Plänen dargestellte Dachaufbau planungsrechtlich möglich?“ hätte die Beklagte eine positive Antwort geben müssen, da sich der auf dem Bestandsgebäude vorgesehene Dachaufbau bzw. das in den Plänen dargestellte Terrassengeschoss mit einer Höhe von 8,73 m als bauplanungsrechtlich zulässig darstellt.
Die Gebäude in der näheren Umgebung weisen folgende Höhen auf:
...-weg 7 Firsthöhe 8,70 m,
...-weg 1 Firsthöhe 10,50 m,
...-weg 3 a/b Firsthöhe 10,50 m,
...-str. 84 Firsthöhe 8,60 m,
...-str. 80 Firsthöhe 9,55 m,
...-str. 74 Firsthöhe 9,80 m,
...-str. 72 Firsthöhe 8,60 m,
...-str. 76 Firsthöhe 8,60 m,
...-weg 18 Firsthöhe 8,30 m,
......-str. 3 Firsthöhe ca. 8,25 m.
Bei diesen in der näheren Umgebung anzutreffenden Höhenentwicklungen fügt sich das als Terrassengeschoss geplante und nach seiner Höhenentwicklung mit 8,73 m abgefragte Vorhaben ein.
5. Hinsichtlich der Frage 2 „Ist das Maß der Nutzung (GRZ, siehe beiliegende Berechnungen), wie in den Plänen dargestellt, planungsrechtlich möglich?“ wurde von der Beklagten zu Recht negativ beantwortet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB eine konkrete, am tatsächlich Vorhandenen ausgerichtete Betrachtung maßgeblich (BVerwG, U. v. 23.3.1994 - 4 C 18.92, BVerwGE 95, 277; B. v. 3.4.2014 - 4 B 12/14, ZfBR 2014, 493 - juris RdNr. 3). Gründe einer praktisch handhabbaren Rechtsanwendung sprechen dafür, in erster Linie auf solche Maße abzustellen, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung leicht in Beziehung setzen lassen, weshalb ihre absolute Größe nach Grundfläche, Geschosszahl und Höhe, bei offener Bebauung zusätzlich auch ihr Verhältnis zur umgebenden Freifläche, das Bild der maßgebenden Umgebung prägen und sich deshalb vorrangig als Bezugsgrößen zur Ermittlung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung anbieten (BVerwG, B. v. 3.4.2014, a. a. O., m. w. N.). Dagegen kommt der Grundflächen- und Geschossflächenzahl nur eine untergeordnete Bedeutung oder, je nach den Umständen des Einzelfalls, auch gar keine Bedeutung für die Frage des Einfügens zu, was daraus folgt, dass sie in der Örtlichkeit häufig schwer ablesbar sind und erst errechnet werden müssen (BVerwG, B. v. 3.4.2014, a. a. O., m. w. N.).
Vor dem Hintergrund der vorstehend dargelegten Rechtsprechung, wonach der Grundflächen- oder Geschossflächenzahl im Bereich des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nur eine untergeordnete Rolle und Bedeutung zukommt, stellt sich eine Vorbescheidsfrage, mit der das Maß der baulichen Nutzung allein anhand der Grundflächenzahl abgefragt werden soll, als unzulässige Fragestellung dar, da in erster Linie auf die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tretenden Maße abzustellen ist. Dass es vorliegend aufgrund der Umstände des Einzelfalls gerade auf die Grundflächenzahl ankommen könnte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
6. Auch die Frage 4 „Ist die Lage auf dem Grundstück wie dargestellt möglich?“ hat die Beklagte zu Recht verneint.
Nach dem Lageplan verläuft auf dem Vorhabensgrundstück im rückwärtigen Bereich eine rückwärtige Baugrenze. Der beantragte Anbau soll vollständig hinter dieser Baugrenze errichtet werden. Im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche bestimmt sich die Zulässigkeit des Vorhabens vorliegend nicht nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, sondern gemäß § 30 Abs. 3 BauGB nach dem gemäß § 173 BBauG 1960 und § 233 Abs. 3 BauGB als einfacher Bebauungsplan übergeleiteten Bauliniengefüge. Regelungen eines auf der Grundlage der Bayerischen Bauordnung von 1901 oder - wie hier - der Münchener Bauordnung vom 29. Juli 1895 (BayBS II S. 430) - MBO - erlassenen Baulinienplanes gelten als Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans weiter, soweit es sich um verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG 1960 bezeichneten Art handelt (vgl. BayVGH, U. v. 11.09.2003 - 2 B 00.1400 - juris RdNr. 13 m. w. N.). Bei Wirksamkeit der übergeleiteten rückwärtigen Baugrenze kommt es -wegen des „Vorrangs“ des als einfacher Bebauungsplan übergeleiteten Bauliniengefüges nach § 30 Abs. 3 BauGB vor den Einfügenskriterien des § 34 Abs. 1 BauGB nicht entscheidend auf die Frage der Grenzziehung der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB an.
Entgegen der Ansicht der Bevollmächtigten der Kläger führen weder die vorhandenen Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze durch die Anwesen ...-weg 15 und 17 noch der im rückwärtigen Grundstücksbereich des Grundstücks ...-str. 82 vorhandene eingeschossige Baukörper zur Unwirksamkeit der rückwärtigen Baugrenze auf dem Vorhabensgrundstück. Ebenso wenig vermögen sie den Klägern einen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu vermitteln.
6.1 Die auf den Grundstücken ...-weg 15 und 17 von den Klägern herangezogenen Überschreitungen der dort vorhandenen rückwärtigen Baugrenze betreffen nicht dieselbe Baugrenze bzw. dasselbe Bauliniengefüge, wie es auf dem Vorhabensgrundstück vorhanden ist. Die herangezogenen Baugrenzenüberschreitungen liegen im Umgriff des Bebauungsplans Nr. ... vom 2. April 1970. Mit diesem Bebauungsplan wurde gemäß § 1 Abs. 3 der Bebauungsplansatzung der im Umgriff des Bebauungsplans geltende, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG 1960 übergeleitete Bebauungsplan aufgehoben und im Planteil eine eigenständige Festsetzung zu den überbaubaren Grundstücksflächen getroffen. Von daher können die im Bereich des Bebauungsplans Nr. ... vorhandenen Bauraumüberschreitungen weder für die Wirksamkeit des auf dem Vorhabensgrundstück vorhandenen Bauliniengefüges noch für eine insoweit zu treffende Befreiungsentscheidung nach § 31 Abs. 2 BauGB von Bedeutung sein. Unter diesen Umständen kann letztendlich auch dahinstehen, ob den herangezogenen Bezugsfällen ...-weg 15 und 17 auch deshalb keine Bedeutung zukommt, da sie sich nicht mehr in der für die Beurteilung des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB relevanten näheren Umgebung befinden, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die einzelnen Einfügenskriterien des § 34 Abs. 1 BauGB jeweils gesondert abzugrenzen sind, wobei der Umgriff beim zulässigen Maß der baulichen Nutzung und bei der überbaubaren Grundstücksfläche im Regelfall enger zu ziehen ist als bei der Art der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG, B. v. 13.5.2014 - 4 B 38/13, ZfBR 2014, 574 - juris RdNr. 7 f.).
Der übergeleitete Bebauungsplan ist in Bezug auf die hier maßgebliche rückwärtige Baugrenze nicht funktionslos geworden. Nach den insoweit von der Rechtsprechung aufgestellten -strengen Maßstäben tritt eine bauplanerische Festsetzung erst dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten (vgl. BVerwG, U. v. 29.4.1977 - IV C 39.75, BVerwGE 54, 5 juris RdNr. 32; U. v. 3.12.1998 - 4 CN 3/97, BVerwGE 108, 71 - juris RdNr. 16; B. v. 23.1.2003 - 4 B 79/02, NVwZ 2003, 749 -juris RdNr. 7; BayVGH, U. v. 11.09.2003 - 2 B 00.1400 - juris RdNr. 13).
Die übrigen, in der unmittelbaren Umgebung des Vorhabens im nördlichen Geviert vorhandenen Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze (...-weg 9, ...-str. 3) sind flächenmäßig absolut untergeordnet oder betreffen relativ geringfügige Überschreitungen durch untergeordnete Nebenanlagen (...-str. 80) und sind daher aufgrund den vorstehend dargelegten -strengen Maßstäben zur Funktionslosigkeit nicht geeignet, die Wirksamkeit des übergeleiteten Bauliniengefüges in Frage zu stellen.
6.2 Die vorhandene Bebauung auf dem Grundstück ...-str. 82 ist als sogenannter „Ausreißer“ ebenfalls nicht geeignet, ein Obsoletwerden des Bauliniengefüges zu begründen und vermag auch nicht zu einem Anspruch auf Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu führen. Es handelt sich um ein eingeschossiges Gebäude mit ausgebautem Dachgeschoss, das nach dem Augenschein über einen nicht unerheblichen Kniestock verfügen dürfte. Es befindet sich als einziges vollständig außerhalb des durch das übergeleitete Bauliniengefüge bestimmten Bauraums.
Grundsätzlich sind bei der Bestimmung der Eigenart der Umgebung alle städtebaulich bedeutsamen baulichen und sonstigen Nutzungen zu berücksichtigen. Unzulässig wäre es, die Eigenart auf das zu beschränken, was städtebaulich wünschenswert oder vertretbar ist. Daher darf auch eine städtebaulich unerwünschte Bebauung nicht von vornherein außer Acht gelassen werden (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, 116. EL 2015, § 34 RdNr. 37 m. w. N.). Allerdings muss die Betrachtung auf das Wesentliche zurückgeführt und muss alles außer Acht gelassen werden, was die Umgebung nicht prägt oder in ihr gar als Fremdkörper erscheint. Dies führt dazu, dass bauliche Anlagen außer Betracht zu bleiben haben, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild oder nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen, was etwa dann der Fall ist, wenn bauliche Anlagen von ihrem Erscheinungsbild (Ausdehnung, Höhe, Zahl) nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, die der Betrachter also nicht oder nur am Rande wahrnimmt. Ein Herausfallen aus dem Rahmen ist auch dann anzunehmen, wenn eine singuläre Anlage in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht. Dies ist bei Anlagen der Fall, die nach ihrer auch äußerlich erkennbaren Zweckbestimmung in der näheren Umgebung einzigartig sind. Sie vermögen trotz ihrer deutlich in Erscheinung tretenden Größe und ihres nicht zu übersehenden Gewichts die Eigenart der näheren Umgebung nicht zu bestimmen, weil sie -wegen ihrer mehr oder weniger ausgeprägten, vom üblichen Charakter der Umgebung abweichenden Struktur gleichsam isoliert dastehen.
Vorliegend stellt sich das Anwesen ...-str. 82 aufgrund seiner Eingeschossigkeit und seiner Situierung inmitten des Gevierts als derartiger Ausreißer dar, der nicht die Kraft hat, die durch-weg zweigeschossig und unter weitestgehender Einhaltung des Bauliniengefüges bebaute nähere Umgebung zu prägen. Selbst wenn das Anwesen ...-str. 82 nicht als Fremdkörper aus der Umgebung auszuscheiden wäre, stellt es gleichwohl als einziger Ausreißer die im Übrigen im nördlichen Bereich des Gevierts weitestgehend intakte rückwärtige Baugrenze nicht in Frage. Das übergeleitete Bauliniengefüge ist in diesem Bereich weder obsolet noch ist es aufgeweicht. Vielmehr entfaltet es nach wie vor seine städtebauliche Funktion, die rückwärtigen Grundstücksbereiche im Interesse einer Durchgrünung des Geviertsinneren von Bebauung freizuhalten (vgl. BayVGH, B. v. 22.2.2011 - 2 ZB 10.166 - juris RdNr. 6 m. w. N.).
6.3 Den Klägern steht im Hinblick auf die Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze auch kein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3. die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde
und wenn die Abwägung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Vorliegend würden mit der Zulassung einer Bebauung mit einer Hauptnutzung hinter der rückwärtigen Baugrenze Grundzüge der Planung berührt.
Die planerische Festsetzung von Baulinien und Baugrenzen kann zu den Grundzügen der Planung gehören, wodurch ein bestimmter städtebaulicher Charakter im maßgeblichen Bereich erzeugt werden soll (vgl. BVerwG, B. v. 20.11.1989 - 4 B 163/89, NVwZ 1990, 556 - juris RdNr. 19). Diese städtebauliche Konzeption kann darin bestehen, eine Straßenrandbebauung begrenzter Tiefe entlang der umliegenden Straßen zu erlauben, aber das betreffende Geviertsinnere von einer solchen Bebauung freizuhalten (vgl. BayVGH, U. v. 11.9.2003 - 2 B 00.1400 - juris RdNr. 15). Da die Festsetzung rückwärtiger Baugrenzen grundsätzlich nur aus städtebaulichen Gründen erfolgt (vgl. BayVGH, B. v. 22.2.2011 - 2 ZB 10.166 - juris RdNr. 6 m. w. N.), liegt es auf der Hand, dass auch vorliegend eine begrünte Innenzone geschaffen werden sollte. Die rückwärtigen Baugrenzen sind damit hier ein wesentliches Element der Stadtgestaltung und zählen somit in diesem Fall zu den Grundzügen der Planung.
Die Zulassung einer weiteren Hauptnutzung in Form des -streitgegenständlichen Bauvorhabens hinter der rückwärtigen Baugrenze könnte nicht mehr als „Ausreißer“ angesehen werden und würde somit im Gegensatz zum Anwesen ...-str. 82 eine Bezugsfallwirkung entfalten, die umso stärker wäre, als auch die bisherige Ausreißerqualität des Anwesens ...-str. 82 aufgehoben würde. Diese Bezugsfallwirkung würde jedoch die Grundzüge der Planung berühren, da die Beklagte weiteren Bauwünschen jenseits der rückwärtigen Baugrenze nicht mehr entgegentreten könnte und somit das Geviertsinnere für eine Bebauung offen stehen würde.
Da sich die Zulässigkeit der überbaubaren Fläche gem. § 30 Abs. 3 BauGB nach dem übergeleiteten Bauliniengefüge bestimmt, kommt für eine Befreiung § 31 Abs. 2 BauGB zur Anwendung, was einer Anwendbarkeit von § 34 Abs. 3 a BauGB entgegensteht.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf Euro 10.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz - GKG -).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes Euro 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Datenquelle d. amtl. Textes: Bayern.Recht
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16.03.2015
Urteil
Sachgebiet: K
Zitiervorschlag: VG München, Urteil vom 16.03.2015, Az. M 8 K 14.1480 (REWIS RS 2015, 13990)
Papierfundstellen: REWIS RS 2015, 13990
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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.
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