Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.04.2023, Az. X ZR 91/22

10. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 2266

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Gegenstand

Erstattung der Flugscheinkosten für Hin- und Rückflug bei Annullierung des Hinflugs


Leitsatz

Der aufgrund einer Annullierung bestehende Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a FluggastrechteVO umfasst sowohl die Kosten des Hinflugs als auch die Kosten des Rückflugs, wenn Hin- und Rückflug Gegenstand einer einheitlichen Buchung sind, über die ein einziger Flugschein ausgestellt worden ist. Dies gilt unabhängig davon, von welchem Ort aus der Rückflug vorgesehen war.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des [X.] vom 8. Juli 2022 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der beklagten Fluggesellschaft aus abgetretenem Recht die Erstattung von Flugscheinkosten.

2

Die Zedenten verfügten über eine bestätigte einheitliche Buchung für Hinflüge am 30./31. Mai 2020 von [X.] über [X.] und [X.] nach [X.] sowie für Rückflüge am 13./14. Juni 2020 von [X.] über [X.] nach [X.]. Die Buchung war über ein Reisebüro erfolgt. Für die Flugtickets bezahlte einer der Zedenten insgesamt 4.881 Euro.

3

Die Beklagte, die ausführendes Luftfahrtunternehmen der ersten Teilstrecke des Hinflugs von [X.] nach [X.] war, annullierte diesen Flug.

4

Nach Abtretung der sich aus der Annullierung ergebenden Ansprüche an sie forderte die Klägerin die Beklagte unter Fristsetzung zum 29. Januar 2021 zur vollständigen Erstattung der Kosten für die Hin- und Rückflüge auf. Die Beklagte leistete keine Zahlung.

5

Das Amtsgericht hat der auf Erstattung der vollen Flugscheinkosten gerichteten Klage stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision strebt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage an.

Entscheidungsgründe

6

Die zulässige Revision ist unbegründet.

7

I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

8

Die Klägerin habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der vollständigen Flugscheinkosten aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] und § 398 BGB.

9

Der Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung sei gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. b [X.] eröffnet. Die Beklagte sei als ausführendes Luftfahrtunternehmen auf der ersten Teilstrecke gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a [X.] passivlegitimiert. Auf das Bestehen eines Vertragsverhältnisses zu den Zedenten komme es nicht an.

Der aufgrund der Annullierung bestehende Erstattungsanspruch nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] umfasse die vollständigen Flugscheinkosten für nicht zurückgelegte [X.] zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben worden sei. Die vollständigen Flugscheinkosten umfassten sowohl die Kosten für alle Teilstrecken des [X.] als auch die Kosten des [X.].

Zwar differenziere der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] nicht ausdrücklich zwischen etwaigen Hin- und Rückflügen. Ihm lasse sich aber der Wille des Gesetzgebers entnehmen, dass die ursprünglichen Reisepläne des Fluggastes maßgebend sein sollten und eine vollständige Erstattung für aus Sicht des Fluggastes zwecklose [X.] erfolgen solle.

Dies stehe in Einklang mit der grundsätzlichen Erwägung der Verordnung, Unannehmlichkeiten für den Fluggast gering zu halten und ein hohes Schutzniveau zu erreichen. Sämtliche Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen sollten dem ausführenden Luftfahrtunternehmen auferlegt werden, da dieses aufgrund seiner Präsenz auf den Flughäfen in der Regel am besten in der Lage sei, die Verpflichtungen zu erfüllen.

Dies müsse erst recht dann gelten, wenn Hin- und Rückflüge wie im Streitfall Teil einer einheitlichen Buchung seien. Ansonsten drohe die Aufspaltung eines einheitlichen Anspruchs und die Fluggäste wären gezwungen, sich mit mehreren Luftfahrtunternehmen auseinanderzusetzen, ohne dass ihnen die internen Vertragsverhältnisse und die interne Kostenaufteilung für die einzelnen Flüge bekannt wären.

Unter Berücksichtigung bestehender Regressmöglichkeiten sei es nicht unbillig, der Beklagten die Erstattung der gesamten Flugscheinkosten aufzuerlegen. Mit Blick auf Art. 13 [X.], der klarstelle, dass das Recht, bei [X.] Regress zu nehmen, nicht beschränkt sei, sei das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht schutzlos gestellt.

II. Diese Erwägungen halten der rechtlichen Überprüfung stand.

1. Der Anwendungsbereich der Verordnung ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. a [X.] eröffnet, da die Zedenten über eine bestätigte Buchung für einen Flug verfügten, der in [X.] beginnen sollte.

Ob der Rückflug ebenfalls in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, ist unerheblich, weil die [X.] allein auf die Annullierung des [X.] gestützt sind.

2. Das Berufungsgericht hat zu Recht die Aktivlegitimation der Klägerin bejaht.

a) Im Ansatz zu Recht macht die Revision geltend, dass die Klägerin den Gesamtbetrag nur dann geltend machen kann, wenn alle Fluggäste die Ansprüche aus in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] an sie abgetreten haben.

Wie der Senat vor kurzem entschieden und näher begründet hat, steht der für den Fall der Annullierung eines Fluges in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] wahlweise vorgesehene Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten einem Fluggast auch dann zu, wenn er nicht Vertragspartner des [X.] ist ([X.], Urteil vom 27. September 2022 - [X.], NJW 2023, 50 Rn. 15 ff.).

Daraus folgt, dass der Klägerin ein Anspruch auf Rückzahlung der gesamten Kosten nur im Falle einer Abtretung durch alle betroffenen Fluggäste zustehen kann.

b) Aus den Feststellungen der Vorinstanzen ergibt sich, dass diese Voraussetzung im Streitfall erfüllt ist.

Wie die Revision im Ansatz zu Recht geltend macht, hat nach den Feststellungen des Amtsgerichts, auf die das Berufungsgericht Bezug genommen hat, allerdings nur derjenige Fluggast eine Abtretungserklärung abgegeben, der den Flug für sich und die übrigen Fluggäste gebucht hatte. Wie die Revisionserwiderung zutreffend darlegt, ist den weiteren Ausführungen in den Entscheidungen der Vorinstanzen jedoch zu entnehmen, dass diese Abtretung zugleich im Namen und mit Vollmacht aller Mitreisenden erfolgt ist, wie dies in der vom Amtsgericht in Bezug genommenen Abtretungserklärung ausdrücklich vermerkt ist.

3. Die Beklagte ist Schuldnerin dieser Ansprüche.

Die in der Fluggastrechteverordnung vorgesehenen Ansprüche des Fluggastes richten sich grundsätzlich gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen. Nach Art. 2 Buchst. b [X.] ist hierbei unerheblich, ob vertragliche Beziehungen zwischen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und dem Fluggast bestehen.

4. Der aufgrund der Annullierung wahlweise bestehende und von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] umfasst sowohl die Kosten des [X.] als auch die Kosten des [X.], wenn Hin- und Rückflug Gegenstand derselben Buchung sind, über die ein einziger Flugschein ausgestellt worden ist.

a) Gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] richtet sich der Erstattungsanspruch auf die Flugscheinkosten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, und zwar für nicht zurückgelegte [X.] sowie für bereits zurückgelegte [X.], wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist.

b) Zu den nicht zurückgelegten [X.]n im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] gehören auch diejenigen des [X.] (ebenso BeckOGK[X.]/Steinrötter, Stand 1. Februar 2023, Art. 8 Rn. 22; [X.], [X.] Fluggastrechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen - Verordnung ([X.]) 261/2004, [X.] 2012, [X.] f.; [X.]/Keiler, Fluggastrechte-Verordnung, 1. Aufl. 2016, Art. 8 Rn. 11, 17).

aa) Für dieses Verständnis spricht der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.], der allein auf die Flugscheinkosten für nicht zurückgelegte [X.] abstellt und nicht zwischen Hin- und Rückflug unterscheidet.

bb) Die Systematik der Fluggastrechteverordnung spricht ebenfalls für dieses Verständnis.

(1) Nach Art. 2 Buchst. f [X.] ist ein Flugschein ein gültiges, einen Anspruch auf Beförderungsleistung begründendes Dokument oder eine gleichwertige papierlose, auch elektronisch ausgestellte Berechtigung, das bzw. die von dem Luftfahrtunternehmen oder dessen zugelassenem Vermittler ausgegeben oder genehmigt wurde. Ein solches Dokument kann sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.]n Union auf einen oder mehrere Flüge beziehen ([X.], Urteil vom 22. Juni 2016 - [X.]/15, NJW 2016, 2635 Rn. 21 - [X.]; vgl. auch [X.], Urteil vom 10. Juli 2008 - [X.]/07, [X.], 237 = [X.], 2697 Rn. 51 - [X.]).

Dieses Verständnis liegt auch Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] zu Grunde, der einen Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten auch dann vorsieht, wenn sich der Flugschein auf mehrere [X.] bezieht.

(2) Eine zusätzliche Bestätigung bildet der Umstand, dass Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] nicht von [X.] spricht, sondern von [X.]n.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.]n Union ist der Begriff der Reise weiter als der Begriff des Fluges. Ein Flug umfasst grundsätzlich nur die [X.] vom ersten [X.] bis zum Endziel, nicht aber einen Rückflug ([X.], Urteil vom 10. Juli 2008 - [X.]/07, [X.], 237 = [X.], 2697 Rn. 32 ff. - [X.]). Dies gilt auch dann, wenn der Fluggast eine einheitliche Buchung vornimmt (aaO Rn. 51). Eine Reise besteht hingegen normalerweise aus Hinreise und Rückreise und wird vor allem von ihrem persönlichen und individuellen Zweck bestimmt (aaO Rn. 41).

Vor diesem Hintergrund spricht der Umstand, dass der Begriff des Fluges nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch bei einer einheitlichen Buchung den Rückflug nicht umfasst, entgegen der Auffassung der Revision nicht gegen, sondern für das oben aufgezeigte Verständnis. Entsprechendes gilt für die Definition des Begriffs "Endziel" in Art. 2 Buchst. h [X.]. Diese bezieht sich nur auf Flüge, nicht auf Reisen.

cc) Diese Auslegung steht zudem in Einklang mit dem Schutzzweck der Fluggastrechteverordnung.

Nach Erwägungsgrund 1 der Verordnung soll ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes in vollem Umfang Rechnung getragen werden (dazu etwa [X.], Beschluss vom 11. März 2008 - [X.], [X.], 2119 Rn. 11). Damit steht es in Einklang, wenn sich der Fluggast wegen des gesamten Anspruchs auf Erstattung der Flugscheinkosten an dasjenige Luftfahrtunternehmen wenden kann, das den annullierten Flug ausführen sollte.

Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird das ausführende Luftfahrtunternehmen hierdurch nicht schutzlos gestellt. Ihm verbleibt nach Art. 13 [X.] die Möglichkeit, andere beteiligte Unternehmen oder Dritte in Regress zu nehmen (vgl. dazu etwa [X.], Beschluss vom 12. November 2020 - [X.], [X.] 2021, 125 Rn. 32 - KLM).

dd) Die für den Senat nicht bindenden, aber als wertvolle Auslegungshilfe bedeutsamen Auslegungsleitlinien der [X.]n Kommission gehen ebenfalls davon aus, dass bei der Annullierung eines Fluges, der gemeinsam mit einem Rückflug Teil eines Vertrags ist, eine der Optionen des Fluggastes die Erstattung der gesamten Flugreise (also Hin- und Rückflug) sein sollte (Dokument 2016/[X.]/04 Nr. 4.2, letzter Absatz).

5. Im Streitfall ist der Anspruch der Klägerin danach in vollem Umfang begründet.

Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a [X.] ist der Preis für alle [X.] zu erstatten, weil bereits der erste Teilflug nicht stattgefunden hat und die Fluggäste die weiteren [X.] ebenfalls nicht zurückgelegt haben.

Die Kosten für den Rückflug sind ebenfalls zu erstatten, weil Hin- und Rückflug Gegenstand einer einheitlichen Buchung waren, über die ein einziger Flugschein ausgestellt wurde.

III. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der [X.]n Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

Angesichts der oben aufgezeigten Systematik der Verordnung und der bereits vorhandenen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Begriffe "Flug", "Reise", "Buchung" und "Flugschein" ist die Rechtslage hinreichend klar ("acte clair", vgl. dazu [X.], Urteil vom 6. Oktober 1982, 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 16 - C.I.L.F.I.T.).

IV. [X.] beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

[X.]     

  

Kober-Dehm     

  

Marx

  

Rombach     

  

Rensen     

  

Meta

X ZR 91/22

18.04.2023

Bundesgerichtshof 10. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Landshut, 8. Juli 2022, Az: 13 S 3467/21

Art 5 Abs 1 Buchst a EGV 261/2004, Art 8 Abs 1 Buchst a EGV 261/2004, § 398 BGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.04.2023, Az. X ZR 91/22 (REWIS RS 2023, 2266)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 2266 NJW 2023, 2175 REWIS RS 2023, 2266

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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