Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 26.04.2017, Az. 2 StR 242/16

2. Strafsenat | REWIS RS 2017, 11972

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[X.]:[X.]:[X.]:2017:260417B2STR242.16.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 [X.]/16
vom
26. April
2017
in der Strafsache
gegen

wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt

-
2
-
Der 2. Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des Generalbun-desanwalts
und der
Beschwerdeführerin
am 26. April
2017
gemäß §
349 Abs.
4
StPO beschlossen:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. Dezember 2015, soweit die [X.] verurteilt worden ist, aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschafts-strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe:
Das [X.] hat die Angeklagte unter Freispruch im Übrigen wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen zu einer Ge-samtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen rich-tet sich die auf Formalrügen und auf sachlich-rechtliche Einwendungen gestütz-te Revision der Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Entgegen der Auffassung der Revision liegt dem Verfahren eine wirk-same Anklageschrift und

daran anknüpfend

ein
wirksamer Eröffnungsbe-schluss zugrunde, da die Anklageschrift der St[X.]tsanwaltschaft [X.] vom 21.
Juli 2014 (noch) ihre Umgrenzungsfunktion erfüllt. Zwar benennt die Anklageschrift nicht im Einzelnen diejenigen Arbeitnehmer, welche die An-1
2
-
3
-

Einzugsstelle gemeldet haben soll; dies stellt die Umgrenzungsfunktion der [X.] unter den hier gegebenen Umständen jedoch nicht in Frage (vgl. [X.], Beschluss vom 8.
August 2012

1 StR 296/12, [X.], 489, 490; siehe aber [X.], Beschluss vom 18. August 2015

III-3 [X.], [X.], 86, 87; [X.], Beschluss vom 3. Juli 2013

1
Ws 123/13, juris
Rn.
15).
a) Die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift dient dazu, den [X.] festzulegen, mit dem sich das Gericht aufgrund seiner Kogniti-onspflicht zu befassen hat. Deshalb sind in der Anklageschrift neben der Be-zeichnung des Angeschuldigten Angaben
erforderlich, welche die Tat als ge-schichtlichen Vorgang unverwechselbar kennzeichnen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der St[X.]tsan-waltschaft zu urteilen hat ([X.], Urteil vom 2.
März 2011

2
StR 524/10, [X.]St 56, 183, 186; [X.], Urteil vom 11.
Januar 1994

5
StR 628/93, [X.]St 40, 44 f.; KK-StPO/[X.], 7.
Aufl., §
200
Rn.
31). Jede einzelne Tat muss sich als historisches Ereignis von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Angeschuldigten unterscheiden lassen, damit sich die Reichweite des Strafklageverbrauchs und Fragen der Verfolgungsverjährung eindeutig [X.] lassen.
Die Umstände, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat ausfüllen, gehören hingegen

wie sich schon aus dem Wortlaut des § 200 Abs.
1 Satz
1 StPO ergibt

nicht zur Bezeichnung der Tat. Wann die Tat in dem sonach um-schriebenen Sinne hinreichend umgrenzt ist, kann nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgelegt werden. Wird eine Vielzahl gleichartiger Einzelakte durch dieselbe Handlung des [X.] zu gleichartiger Tateinheit und damit prozessual zu einer Tat verbunden, 3
4
-
4
-
genügt die Anklageschrift ihrer Umgrenzungsfunktion, wenn die Identität dieser Tat klargestellt ist und die Tat als historisches Ereignis hinreichend konkretisiert ist. Einer individualisierenden Beschreibung sämtlicher Einzelakte bedarf es bei einer solchen Fallgestaltung nicht, um den Prozessgegenstand unverwechsel-bar zu bestimmen. Darüber hinausgehende Angaben, die den Tatvorwurf näher konkretisieren, können zwar erforderlich sein, damit die Anklageschrift ihre In-formationsfunktion erfüllt; ihr Fehlen lässt jedoch die Wirksamkeit der Anklage-schrift unberührt.

b) Gemessen hieran ist die Umgrenzungsfunktion durch die Anklage-schrift (noch) gewahrt, auch wenn im [X.] keine Angaben dazu enthal-ten sind, welche konkreten Arbeitnehmer die Angeklagte als verantwortliche Geschäftsführerin der A.

GmbH (künf-
tig: A.

GmbH) zu den jeweiligen [X.] gegenüber der Einzugsstelle

haben soll.
[X.]) Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt der damaligen Angeschuldigten zur Last, sich im Zeitraum vom 19.
Januar 2008 bis zum 27.
November 2009 als Geschäftsführerin der A.

GmbH in 23 Fällen des
Vorenthaltens und Veruntreuens von Sozialversicherungsbeiträgen schuldig

angeblicher Sub-unternehmer in der Buchhaltung als Fremdleistung eingebucht habe, um damit und nicht gemeldete Arbeitnehmer d.
Sie habe es [X.] in 23 Fällen vorsätzlich unterlassen, die beschäftigten Arbeitnehmer sämt-lich bzw. vollständig gegenüber der B.

-B.

als zuständiger Einzugsstelle zu
melden und habe der Sozialkasse dadurch Arbeitnehmer-
und Arbeitgeberbei-träge in Höhe von insgesamt 3.491.293,31 Euro vorenthalten.
5
6
-
5
-
bb)
Hinweise auf die konkrete Zahl
der Arbeitnehmer und Angaben zu den der Einzugsstelle tatsächlich gemeldeten Arbeitnehmern oder Angaben zu den gemeldeten,
tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden der Arbeitnehmer der
A.

GmbH zu den jeweiligen [X.] enthält der [X.] nicht.
Dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ist zu entnehmen, dass die Firma
A.

GmbH im Beitragszeitraum 2008 insgesamt 135 Arbeitnehmer, davon 21
als geringfügig Beschäftigte, und im Beitragszeitraum 2009 insgesamt 114
Arbeitnehmer, davon 8 in geringfügigem Umfang, beschäftigte. Hinsichtlich der im [X.] für jeden Beitragsmonat nach Arbeitgeber-
und Arbeitneh-meranteil getrennt als
vorenthalten festgehaltenen Beiträge ist nur der Hinweis Subunternehmer als Fremdleistungen in die Buchhaltung eingebucht habe, um [X.] und so [X.] an gemeldete und nicht gemeldete Arbeitnehmer der Grundr-

14 Abs.
2 Satz
2 SGB IV auf einen Bruttolohn hochgerechnet [X.].
Damit wurden
zwar Art und Maß der der Angeklagten jeweils zur Last ge-legten Unterlassung nicht schon aus dem [X.] hinreichend deutlich. Die Taten sind gleichwohl hinreichend konkretisiert, zumal sämtliche Arbeitnehmer gegenüber ein-
und derselben Einzugsstelle zu benennen gewesen wären.
[X.]) Die durch die Abfassung der Anklageschrift bedingten Mängel in der Informationsfunktion

insbesondere die nur vage Umschreibung der [X.] dahin, dass

und die offene Frage der Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungs-7
8
9
-
6
-
beiträge

sind im weiteren Verfahren
erforderlichenfalls durch gerichtliche Hinweise zur Gewährung rechtlichen Gehörs entsprechend § 265 StPO auszu-gleichen (vgl. [X.], Urteil vom 24. Januar 2012

1 [X.], [X.]St 57, 88, 91; Urteil vom 9. November 2011

1 [X.], [X.], 523,
524; Urteil
vom 11. Januar 1994

5 [X.], [X.]St 40, 44, 45).
2. Die Verfahrensrüge einer Verletzung des §
265 Abs.
1
StPO ist [X.].
Mit Recht beanstandet die Revision, dass der vom Vorsitzenden am

[X.] []
ggf. auf anderem Wege aus den festgestellten Zahlen ermittelt [X.], inhaltlich
den insoweit bestehenden Anforderungen nicht [X.].
Der Vorsitzende hat sich aufgrund der nach Durchführung der Beweis-aufnahme veränderten Sachlage
zu Recht als verpflichtet gesehen, die Ange-klagte in entsprechender Anwendung des §
265 Abs. 1 StPO darauf hinzuwei-e-nannte Abdeckrechnungen ermittelt werden müssten. Zwar handelt es sich

worauf der [X.] in seiner Zuschrift zutreffend hinweist

bei diesem
der Angeklagten in der Anklageschrift zur Last gelegten aktiven Tun nicht um das tatbestandsmäßige Unterlassen im Sinne des §
266a StGB. Gleichwohl hat das der Angeklagten ursprünglich zur Last gelegte aktive Tun

wie seine Aufnahme in den
im Übrigen knapp gehaltenen [X.] be-legt

erhebliche Bedeutung für den [X.] sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. In Ansehung der Mängel der Informationsfunktion der Anklageschrift und der Veränderung der Beweisgrundlage wäre der Vorsitzende

über den vage gehaltenen Hinweis hinaus

verpflichtet gewesen mitzuteilen, etwaige Hinterziehungsbeträge

zu berechnen
beabsichtigt, ob es eine konkrete Berechnung der nicht abgeführten Beiträge 10
11
-
7
-
für möglich hält oder die Voraussetzungen für eine Schätzung der vorenthalte-nen Beiträge für gegeben erachtet
(vgl.
[X.], Beschluss vom 10. November 2009

1 [X.], [X.], 635, 636).

Hieran fehlt es. Der [X.] vermag nicht auszuschließen, dass die Ange-klagte sich anders als geschehen verteidigt hätte, wenn der
erforderliche Hin-weis
entsprechend konkret erteilt worden wäre.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
Der [X.] sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:
Dem Tatgericht obliegt es nach ständiger Rechtsprechung, die [X.] Beiträge

für die jeweiligen Fälligkeitszeitpunkte gesondert

nach An-zahl, Beschäftigungszeiten, Löhnen der
Arbeitnehmer und der Höhe des [X.] der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, um eine revisi-onsgerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen ([X.], Beschlüsse vom 4.
März 1993

1 StR 16/93 und vom 22. März 1994

1 StR 31/94; Urteil vom 20.
März 1996

2 StR 4/96, [X.], 543; Beschluss vom 20. April 2016

1
StR 1/16, [X.], 352, 353; [X.] in [X.], 2. Aufl., §
266a Rn.
61, 133), weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des [X.] nach den Beitragssätzen
der jeweiligen Krankenkassen sowie den ge-setzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen-
und [X.] zu berechnen ist ([X.], Urteil vom 11.
August 2010

1
[X.], [X.], 376). Falls solche Feststellungen im Einzelfall nicht möglich sind, kann die Höhe der vorenthaltenen Beiträge auf Grundlage der tatsächli-chen Umstände geschätzt werden ([X.], Beschluss vom 10.
November 2009

1
[X.], [X.], 635, 636; [X.] in [X.], 2.
Aufl., §
266a Rn.
136). Die Grundsätze, die die Rechtsprechung bei Taten nach §
370 AO für die Darlegung der Berechnungsgrundlagen der verkürzten Steuern entwickelt 12
13
14
15
-
8
-
hat, gelten insoweit entsprechend ([X.], Beschluss vom 4.
März 1993

1
StR 16/93, [X.], 364; Urteil vom 11.
August 2010

1 [X.], [X.], 376). Dementsprechend genügt es nicht, die vorenthaltenen Sozialversi-cherungsbeiträge lediglich der Höhe nach anzugeben ([X.], Beschluss vom 28.
Mai 2002

5 StR 16/02, NJW 2002, 2480, 2483). Vielmehr müssen die Ur-teilsgründe die Berechnungsgrundlagen und Berechnungen im Einzelnen wie-dergeben ([X.], Beschluss vom 4.
März 1993

1 StR 16/93, [X.], 364; [X.] in [X.], 2.
Aufl., §
266a Rn.
133).

Darüber hinaus wird der neue Tatrichter auch den in der Zuschrift des [X.]s enthaltenen Hinweisen auf die dort im Einzelnen aufge-führten Mängel hinsichtlich der Berechnungsgrundlagen
Rechnung zu tragen haben.
16
-
9
-
Gegebenenfalls wird auch zu prüfen sein, inwieweit dem Umstand, dass jedenfalls in zwei Fällen hypothetische Lohnsummen ermittelt worden sind, die unterhalb
der an die Sozialversicherung gemeldeten Lohnsummen liegen, Rechnung getragen
werden kann, um jede Beschwer der Angeklagten
auszu-schließen.

Appl

Ri[X.] Prof. Dr. Krehl

Eschelbach

ist wegen Urlaubs
an

der Unterschrift gehindert.

Appl

Bartel

Ri[X.] Dr. Grube

ist wegen Urlaubs an

der Unterschrift gehindert.

Appl

17

Meta

2 StR 242/16

26.04.2017

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 26.04.2017, Az. 2 StR 242/16 (REWIS RS 2017, 11972)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 11972

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