Bundesgerichtshof, Urteil vom 19.03.2024, Az. VIa ZR 1714/22

6a. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 2134

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Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des 28. Zivilsenats des [X.] vom 29. November 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Er erwarb im November 2015 von einem Dritten einen [X.] 3.0 [X.] als Neuwagen zum Kaufpreis von 60.000 €. Das Fahrzeug ist mit einem [X.] (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet. Fahrzeug und Motor sind von der [X.] hergestellt worden. Die [X.] erfolgt unter Verwendung einer Abgasrückführung, welche außerhalb eines bestimmten Temperaturfensters reduziert wird ("[X.]"). Weiter verfügt das Fahrzeug über einen SCR-Katalysator. [X.] das zur Abgasreinigung im SCR-Katalysator eingesetzte Reagens "AdBlue" nur noch für eine Reichweite von 2.400 km, ändert sich die Dosierstrategie (sogenannte Restreichweitenfunktion). Das [X.] ([X.]) rief das Fahrzeug wegen der Restreichweitenfunktion zurück und kategorisierte die zum Einsatz kommende Software als "unzulässige Abschalteinrichtung".

3

Das [X.] hat der Klage im Hinblick auf die vom [X.] festgestellte unzulässige Abschalteinrichtung im Wesentlichen stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 49.849,69 € nebst [X.] um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung nebst Prozesszinsen zu zahlen, und den Annahmeverzug festgestellt. Die weitergehende Klage hat das [X.] abgewiesen. Auf die Berufung der [X.] hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Berufungsantrag auf Zurückweisung der Berufung der [X.] weiter.

Entscheidungsgründe

4

Die Revision des [X.] hat Erfolg.

I.

5

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - wie folgt begründet:

6

Ein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB wegen der Implementierung eines sogenannten [X.]s und der sogenannten Restreichweitenfunktion in die Motorsteuerung des Fahrzeugs bestehe nicht, wobei das Berufungsgericht unterstellt hat, dass beide Funktionen unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 seien. Bei beiden Funktionen handele es sich aber aufgrund ihrer Machart nicht um evident unzulässige, auf der Basis einer strategischen Grundentscheidung eingesetzte und von vornherein durch Arglist geprägte Abschalteinrichtungen. Unter diesen Umständen wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten aber nur gerechtfertigt, wenn zu dem - unterstellten - Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/[X.] weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Solche konnte das Berufungsgericht nicht feststellen.

7

Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV bestehe in Bezug auf das "[X.]" nicht. Weder stellten die [X.] Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dar, welche das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht eines Käufers schützten, noch seien die [X.] durch die Beklagte objektiv verletzt worden, da das Fahrzeug mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sei. Die der Übereinstimmungsbescheinigung zugrundeliegende Typgenehmigung stelle einen Verwaltungsakt gemäß § 35 VwVfG dar, dem eine [X.] zukomme. Weiter habe die Beklagte wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nicht schuldhaft gehandelt.

II.

8

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

9

1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine konkreten Einwände.

2. Das Berufungsgericht hat es jedoch rechtsfehlerhaft unterlassen, auf mögliche Ansprüche des [X.] aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV wegen eines fahrlässigen Verhaltens der Beklagten im Zusammenhang mit der "Restreichweitenfunktion" einzugehen. Weiter wendet sich die Revision mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV wegen der Verwendung des "[X.]s" aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV nicht verneint werden.

a) Wie der [X.] nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des [X.] gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der [X.] zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], [X.]Z 237, 245 Rn. 29 bis 32). Danach besteht aus dieser Anspruchsgrundlage zwar kein Anspruch des [X.] auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 22 bis 27). Doch kann ihm nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen [X.]s zustehen (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso [X.], Urteile vom 20. Juli 2023 - [X.], NJW 2024, 361 Rn. 21 ff.; - [X.], juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - [X.], juris Rn. 20).

b) Nachdem das Berufungsgericht zu Gunsten des [X.] unterstellt hat, dass beide Funktionen ("Restreichweitenfunktion", "[X.]") unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 sind, kann eine objektive Verletzung der Schutzgesetze nach §§ 6, 27 [X.]-FGV nicht verneint werden. Denn die Beklagte hätte danach als Fahrzeugherstellerin eine unzutreffende und damit gemäß § 27 Abs. 1 [X.]-FGV ungültige Übereinstimmungsbescheinigung ausgestellt ([X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], [X.]Z 237, 245 Rn. 34). Entgegen dem Berufungsurteil stünde auch beim "[X.]" die [X.]-Typgenehmigung der Annahme einer Verletzung der Schutzgesetze nicht entgegen (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], aaO, Rn. 10 ff., 33 f).

c) Hinsichtlich der "Restreichweitenfunktion" hat das Berufungsgericht ein fahrlässiges Verhalten der Beklagten nicht geprüft, es hat insoweit nur ein vorsätzliches Handeln der Beklagten ausgeschlossen. [X.] Feststellungen dazu, dass die Beklagte hinsichtlich des "[X.]s" noch nicht einmal leicht fahrlässig gehandelt hat, hat das Berufungsgericht ebenfalls nicht getroffen. Dabei wird das Verschulden des Fahrzeugherstellers innerhalb des § 823 Abs. 2 BGB im Fall des objektiven Verstoßes gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV vermutet (vgl. zum Verschulden [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], [X.]Z 237, 245 Rn. 59 ff.; Urteil vom 25. September 2023 - [X.], NJW 2023, 3796 Rn. 13 f.). Von einem Verschulden der Beklagten ist daher revisionsrechtlich auszugehen.

III.

Das Berufungsurteil ist demnach aufzuheben, § 562 ZPO, weil es sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der [X.] kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen [X.] darzulegen. Das Berufungsgericht wird nach den näheren Maßgaben der Urteile des [X.]s vom 26. Juni 2023 ([X.], [X.]Z 237, 245) und vom 23. Oktober 2023 ([X.], [X.], 2232 Rn. 14) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und gegebenenfalls dem Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.]-FGV zu treffen haben.

[X.]     

      

Möhring     

      

Krüger

      

Wille     

      

Liepin     

      

Meta

VIa ZR 1714/22

19.03.2024

Bundesgerichtshof 6a. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG München, 29. November 2022, Az: 28 U 8023/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 19.03.2024, Az. VIa ZR 1714/22 (REWIS RS 2024, 2134)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 2134

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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VII ZR 412/21

III ZR 303/20

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