Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.09.2020, Az. XII ZB 203/20

12. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 802

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Gegenstand

Betreuungsverfahren: Bestellung eins behandelnden Arztes zum Sachverständigen; erneue Anhörung des Betroffenen bei erkennbarem Widerruf der Zustimmung zur Errichtung einer Betreuung


Leitsatz

1. Zur Bestellung eines behandelnden Arztes zum Sachverständigen im Betreuungsverfahren (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 6. Februar 2019 - XII ZB 393/18, FamRZ 2019, 724).

2. Wenn der Betroffene durch seine Beschwerde zum Ausdruck bringt, dass er an seiner Zustimmung zur Einrichtung einer Betreuung nicht mehr festhält, hat das Landgericht ihn erneut anzuhören (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2015 - XII ZB 381/15, FamRZ 2016, 456).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des [X.] vom 3. April 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Kammer des [X.] zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die Betroffene wendet sich gegen die für sie eingerichtete Betreuung.

2

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines „Gutachtens“ und Anhörung der Betroffenen mit ihrer Einwilligung einen Berufsbetreuer für folgenden Aufgabenkreis bestellt: Vermögenssorge, Behörden-, Versicherungs-, Renten- und Sozialleistungsangelegenheiten, Gesundheitssorge, Organisation der ambulanten Versorgung und Erbschaftsangelegenheiten. Die dagegen von der Betroffenen eingelegte Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des [X.]s.

4

1. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass der Entscheidung mehrere Verfahrensfehler zugrunde liegen.

5

a) Das vom [X.] in Bezug genommene Gutachten genügt nicht den verfahrensrechtlichen Anforderungen. Denn das Amtsgericht hat als Gutachterin die Hausärztin der Betroffenen bestellt, ohne zu prüfen, ob sie über hinreichende Sachkunde verfügt.

6

Gemäß § 280 Abs. 1 Satz 2 FamFG soll der in einem Betreuungsverfahren mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Sachverständige Arzt für Psychiatrie oder Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein. Ergibt sich die Qualifikation nicht ohne Weiteres aus der Fachbezeichnung des Arztes, ist seine Sachkunde vom Gericht zu prüfen und in der Entscheidung darzulegen (Senatsbeschluss vom 13. Juli 2016 - [X.]/15 - FamRZ 2016, 1665 Rn. 13 mwN).

7

Hier ergibt sich aus dem von der Ärztin eingereichten „Gutachten“ lediglich, dass sie „Praktische Ärztin“ ist. Darlegungen über ihre Sachkunde enthalten weder die amtsgerichtliche noch die landgerichtliche Entscheidung.

8

b) Zudem genügt das eingeholte „Gutachten“ nicht den Anforderungen des § 280 FamFG. Vor allem lassen sich dem eineinhalb Seiten umfassenden Schriftstück entgegen § 280 Abs. 3 FamFG nicht die durchgeführten Untersuchungen und die diesen zugrunde gelegten Forschungserkenntnisse entnehmen.

9

Zwar ist es nicht ausgeschlossen, einen den Betroffenen behandelnden Arzt zum Sachverständigen zu bestellen (Senatsbeschluss vom 15. September 2010 - [X.] 383/10 - FamRZ 2010, 1726 Rn. 9). In diesem Fall muss der behandelnde Arzt dem Betroffenen aber deutlich zu erkennen geben, dass er von seiner Bestellung zum Sachverständigen an als Gutachter tätig sein wird. In dieser Funktion muss er den Betroffenen untersuchen und darf sich für sein Gutachten nicht darauf beschränken, die aus der vorherigen Behandlung gewonnenen Erkenntnisse zu verwerten (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Februar 2019 - [X.] 393/18 - FamRZ 2019, 724 Rn. 16). Auch das hat das [X.] nicht festgestellt.

c) Das [X.] hätte die Betroffene erneut anhören müssen.

Nach der Rechtsprechung des Senats räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht zwar die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung dagegen eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, gebietet dies eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen. Zudem kann im Beschwerdeverfahren nicht von einer Wiederholung solcher Verfahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. In diesem Fall muss das Beschwerdegericht, vorbehaltlich der Möglichkeiten nach § 69 Abs. 1 Satz 2 und 3 FamFG, den betreffenden Teil des Verfahrens nachholen (Senatsbeschluss vom 6. Mai 2020 - [X.] 504/19 - FamRZ 2020, 1219 Rn. 9 mwN).

aa) Die Anhörung durch das Amtsgericht war bereits deshalb nicht verfahrensgemäß, weil mangels entgegenstehender Anhaltspunkte, namentlich der Akte zu entnehmender Verfügungen, davon auszugehen ist, dass es das Sachverständigengutachten der Betroffenen nicht zuvor bekannt gegeben hat (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Mai 2020 - [X.] 6/20 - FamRZ 2020, 1303 Rn. 7 mwN) und die Anhörung deshalb an einem wesentlichen Verfahrensmangel leidet (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Februar 2019 - [X.] 393/18 - FamRZ 2019, 724 Rn. 8 mwN).

bb) Auch hätte das [X.] die Betroffene deshalb anhören müssen, weil sie mit ihrer Beschwerde zum Ausdruck gebracht hat, dass sie an ihrer in erster Instanz erklärten Einwilligung nicht mehr festhält (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Dezember 2015 - [X.] 381/15 - FamRZ 2016, 456 Rn. 18 mwN).

2. Schließlich enthält der landgerichtliche Beschluss keine Feststellungen zum Fehlen eines freien Willens i.S.v. § 1896 Abs. 1a [X.]. Während das Amtsgericht wegen des von der Betroffenen erklärten Einverständnisses dieser Prüfung noch enthoben war, hätte das [X.] auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens nunmehr prüfen müssen, ob die mit ihrer Beschwerde zum Ausdruck kommende Weigerung der Betroffenen auf einem freien Willen beruht (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Oktober 2013 - [X.] 320/13 - BtPrax 2014, 38 Rn. 6 mwN).

3. Der Senat kann nicht abschließend in der Sache entscheiden, weil das [X.] noch weitere tatrichterliche Feststellungen zu treffen haben wird. Deshalb ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das [X.] zurückzuverweisen, § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG. Dabei macht der Senat von der Möglichkeit nach § 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG Gebrauch.

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass allein die Bestellung eines Rechtsanwalts zum Betreuer das Gericht – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 276 FamFG – nicht davon enthebt, der Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen.

Dose     

      

[X.]     

      

Schilling

      

Nedden-Boeger     

      

Krüger     

      

Meta

XII ZB 203/20

16.09.2020

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Neubrandenburg, 3. April 2020, Az: 2 T 27/20

§ 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 280 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.09.2020, Az. XII ZB 203/20 (REWIS RS 2020, 802)

Papier­fundstellen: MDR 2021, 54 REWIS RS 2020, 802

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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