Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.02.2011, Az. 10 C 5/10

10. Senat | REWIS RS 2011, 9064

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Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung.

2

Der 1982 in [X.] ([X.]) geborene Kläger ist [X.] Staatsangehöriger [X.] Volkszugehörigkeit und moslemischen Glaubens. Er reiste im April 2001 nach [X.] ein und beantragte Asyl. Zur Begründung berief er sich auf Probleme mit zwei Mitgliedern der regierenden [X.]. Mit bestandskräftigem Bescheid lehnte das [X.] (jetzt: [X.]) - [X.] - im Mai 2001 die Anerkennung des [X.] als Asylberechtigter ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 [X.] (jetzt: § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 [X.]) vorliegen. Der Kläger habe glaubhaft gemacht, dass ihm bei einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung wegen Sabotage drohe.

3

Im November 2004 leitete das [X.] wegen der veränderten politischen Verhältnisse im [X.] ein Widerrufsverfahren ein. Nach Anhörung des [X.] widerrief es mit Bescheid vom 22. August 2005 die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 [X.] vorliegen (Nr. 1 des Bescheids), und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 [X.] (Nr. 2 des Bescheids) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 [X.] (Nr. 3 des Bescheids) nicht vorliegen.

4

Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 19. Oktober 2005 den Widerrufsbescheid des [X.]es aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht für das [X.] mit Urteil vom 27. Juli 2006 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Widerruf sei rechtmäßig. Es könne auf sich beruhen, ob der Kläger den [X.] unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das [X.] [X.] verlassen habe. Denn er sei vor einer solchen Verfolgung jetzt hinreichend sicher. Das Regime [X.] habe seine politische und militärische Herrschaft über den [X.] durch die im März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der [X.] endgültig verloren. Eine Rückkehr des Regimes sei nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Herausbildung einer Struktur, die vom früheren Regime als Gegner angesehene Personen erneut (wiederholend) verfolge. Dem Kläger drohe auch nicht aus anderen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine - wie auch immer geartete - Verfolgung. Greifbare Anhaltspunkte für asylerhebliche Übergriffe von Seiten der neu gebildeten [X.] oder dem [X.] sonst zurechenbarer Kräfte einschließlich der multinationalen [X.] und der kurdischen Parteien im [X.] ließen sich den aktuellen Erkenntnissen nicht entnehmen. Dabei könne auf sich beruhen, ob mit der neuen Regierung ein zu politischer Verfolgung fähiges Machtgebilde in dem Sinne entstanden sei, dass es eine gewisse Stabilität aufweise und die Fähigkeit zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer übergreifenden Friedensordnung besitze. Auch für eine nichtstaatliche Verfolgung gebe das Vorbringen des [X.] nichts [X.] her. Soweit es nach wie vor insbesondere zu Anschlägen und Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition sowie regulären [X.]n und [X.] komme, sei nicht erkennbar, dass dieses Geschehen - bezogen auf den Kläger - an asylerhebliche Merkmale anknüpfe. Die Richtlinie 2004/83/[X.] entfalte vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine unmittelbare Wirkung, außerdem ändere sie § 60 Abs. 1 [X.] nicht in seinem Kerngehalt. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG, die eine Rückkehr in den [X.] unzumutbar erscheinen ließen, seien weder geltend gemacht noch ersichtlich. § 73 Abs. 2a AsylVfG sei vorliegend weder direkt noch analog anwendbar. Ob das [X.] den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen habe, sei nicht entscheidungserheblich. [X.] könne, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG bei [X.] nach § 73 Abs. 1 AsylVfG zu beachten sei, da sie eingehalten wäre. Der Kläger könne auch nicht die Feststellung von [X.] nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 [X.] beanspruchen.

5

Mit der vom Senat beschränkt auf den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung zugelassenen Revision erstrebt der Kläger insoweit die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Mit Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] zur Klärung der Voraussetzungen für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/[X.] eingeholt. Der Gerichtshof der [X.] hat die Vorlagefragen mit Urteil vom 2. März 2010 beantwortet.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision des [X.] ist zulässig und begründet. Das die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Widerrufsentscheidung bestätigende Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Widerruf nicht an einem formellen Mangel leidet (1.) und der angefochtene Bescheid nicht schon deshalb rechtswidrig ist, weil das [X.] - [X.] - kein Ermessen ausgeübt hat (2.). Das Berufungsurteil verstößt aber hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen gegen § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG, der seinerseits im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2004/83/[X.] vom 29. April 2004 über [X.] für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ([X.] vom 30. September 2004 S. 12; berichtigt [X.] EU Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) in seinem Grundsatzurteil vom 2. März 2010 ([X.]. [X.]/08, [X.]/08, [X.] und [X.], [X.] u.a. - [X.] 2010, 188) auszulegen ist (3.). Mangels ausreichender Feststellungen des Berufungsgerichts konnte der Senat nicht selbst abschließend in der Sache entscheiden. Das Verfahren war daher zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Widerrufs ist § 73 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der [X.] vom 19. August 2007 ([X.]) - Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltenden Fassung (Bekanntmachung der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 2. September 2008, [X.]). Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] sind Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede, die neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil des Senats vom selben Tag im Parallelverfahren BVerwG 10 [X.] 3.10 zur [X.] in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen m.w.N.).

8

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Widerruf nicht an einem formellen Mangel leidet. Insbesondere begegnet die angefochtene Entscheidung weder im Hinblick auf die Unverzüglichkeit des Widerrufs im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch im Hinblick auf die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG Bedenken (vgl. Urteil des Senats vom selben Tag im Parallelverfahren BVerwG 10 [X.] 3.10 m.w.N.).

9

2. Der angefochtene Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das [X.] kein Ermessen ausgeübt hat. Die für die Zulassung der Revision ausschlaggebende Frage, ob der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung einer Ermessensentscheidung (bisher nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG; nunmehr nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG) bedurfte, ist durch die klarstellende Neuregelung in § 73 Abs. 7 AsylVfG geklärt. Danach ist in Fällen, in denen - wie vorliegend - die Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, vor Prüfung und Verneinung der Widerrufs- und Rücknahmevoraussetzungen in dem seit dem 1. Januar 2005 vorgeschriebenen Verfahren (Negativentscheidung) keine Ermessensentscheidung erforderlich (vgl. Urteil des Senats vom selben Tag im Parallelverfahren BVerwG 10 [X.] 3.10 m.w.N.).

3. Das Berufungsurteil ist hinsichtlich der materiellen Widerrufsvoraussetzungen aber nicht mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu vereinbaren, der im Lichte der inzwischen umgesetzten Richtlinie 2004/83/[X.] und unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] in seinem Grundsatzurteil vom 2. März 2010 (a.a.[X.]) auszulegen ist. Danach ist - wie der Senat in seinem Urteil vom selben Tag im Parallelverfahren BVerwG 10 [X.] 3.10 im Einzelnen ausgeführt hat - die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG zu widerrufen, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände im Herkunftsland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/[X.] genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/[X.] haben muss.

Eine abschließende Prüfung dieser materiellen Widerrufsvoraussetzungen ist dem Senat im vorliegenden Verfahren auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht möglich. Danach haben sich die Verhältnisse im [X.] inzwischen geändert. Dabei hat das Berufungsgericht es dahinstehen lassen, ob der Kläger den [X.] unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das [X.] [X.] verlassen habe, denn er sei vor einem Wiederaufleben der Verfolgung durch dieses frühere Regime im [X.] hinreichend sicher. Eine Rückkehr des alten Regimes sei nach den aktuellen Verhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernehme und erneut (wiederholend) verfolge ([X.] f.).

Diese pauschalen Ausführungen genügen nicht den Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] notwendig sind, um ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft festzustellen. Danach müssen sich die zuständigen Behörden und Gerichte mit Blick auf die individuelle Lage des Flüchtlings vergewissern, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können (vgl. [X.], Urteil vom 2. März 2010 a.a.[X.] Rn. 70 ff.). Hierzu fehlen vorliegend nähere Feststellungen. Der Kläger wurde vom [X.] mit Bescheid vom 8. Mai 2001 als Flüchtling anerkannt, weil das [X.] seinerzeit davon ausging, dass ihm im [X.] Verfolgung in Form einer Bestrafung wegen Sabotage drohte. Mit diesem der Anerkennung konkret zugrunde liegenden Umstand hat sich das Berufungsgericht nicht auseinander gesetzt. Auch wenn nach dem Sturz des Regimes [X.] eine flüchtlingsrechtlich relevante Bestrafung wegen Sabotage gegen dieses Regime eher fernliegen dürfte, ist dem Revisionsgericht vorliegend eine eigene abschließende Entscheidung prozessrechtlich verwehrt.

4. Hinsichtlich des weiteren Vorgehens weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht in einem neuen Berufungsverfahren klären muss, ob die Faktoren, die nach der Einschätzung des [X.]s in seinem Anerkennungsbescheid konkret die Furcht des [X.] vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung führten, mit dem Wegfall des Regimes [X.] und den weiteren Veränderungen im [X.] inzwischen als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Dies setzt voraus, dass der Kläger insoweit keine Verfolgung mehr zu befürchten hat und die Änderung von Dauer ist, weil der [X.] inzwischen ein Schutzakteur im Sinne des Art. 7 der Richtlinie 2004/83/[X.] ist, der geeignete Schritte eingeleitet hat, um diese Verfolgung zu verhindern. In diesem Zusammenhang hat das Berufungsgericht insbesondere aufzuklären, ob gegen den Kläger seinerzeit ein Strafverfahren wegen Sabotage eingeleitet wurde. Sollte dies der Fall sein, wäre weiter zu prüfen, ob in einem solchen Strafverfahren auch heute noch die Gefahr einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung besteht und ob der Kläger hiergegen ggf. wirksamen Rechtsschutz erlangen kann.

Meta

10 C 5/10

24.02.2011

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 27. Juli 2006, Az: 16 A 4354/05.A, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24.02.2011, Az. 10 C 5/10 (REWIS RS 2011, 9064)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9064

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