Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.09.2021, Az. 1 StR 86/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 2472

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Gegenstand

Lohn- und Umsatzsteuerhinterziehung sowie Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt: Berechnung der hinterzogenen Lohnsteuer im Niedriglohnbereich; Indizwirkung für besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung; Strafrahmen bei Entstehung eines lediglich "formalen Schadens"


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 14. Dezember 2020 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 48 Fällen und wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 49 Fällen zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Zudem hat es bestimmt, dass zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung drei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s beschäftigte der Angeklagte im Tatzeitraum von Januar 2013 bis Dezember 2016 als formeller Geschäftsführer der [X.] sowie teils als faktischer und teils als formeller Geschäftsführer der [X.]GmbH zahlreiche Arbeitnehmer als Reinigungskräfte im [X.], denen er ihren Lohn vollständig oder auch nur teilweise „schwarz“ auszahlte und für die er Sozialabgaben und Lohnsteuern nicht oder nicht vollständig abführte.

3

Der Angeklagte enthielt der zuständigen Einzugsstelle von Januar 2013 bis Dezember 2016 und damit in 48 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von 653.224,98 Euro vor (Fälle 48 bis 95 der Urteilsgründe); zudem meldete er der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft als Unfallversicherungsträger im [X.] nur einen Teil des von ihm gezahlten Lohns und verkürzte hierdurch den zu entrichtenden Beitrag um einen Betrag von 3.564,97 Euro (Fall 96 der Urteilsgründe). Die aufgrund der (Teil-)[X.]abreden monatlich verkürzte Lohnsteuer belief sich für das [X.] und für den Zeitraum von Februar 2014 bis Dezember 2016 insgesamt auf 146.635,81 Euro (Fälle 1 bis 47 der Urteilsgründe).

4

Darüber hinaus reichte der Angeklagte beim zuständigen Finanzamt für die [X.]GmbH eine Umsatzsteuerjahreserklärung für 2014 ein, in der er Vorsteuern in Höhe von 73.765,28 Euro aus Scheinrechnungen der [X.]v  GmbH geltend machte, denen keine Leistungen der [X.]v  GmbH zugrunde lagen und die als Abdeckrechnungen zur Verschleierung der Zahlung der [X.] erstellt worden waren. Das Finanzamt stimmte dem in der Steuererklärung geltend gemachten Erstattungsbetrag zu (Fall 97 der Urteilsgründe).

II.

5

1. Der Strafausspruch in den Fällen 48 bis 97 der Urteilsgründe hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) In den Fällen 48 bis 96 der Urteilsgründe (Vorhalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt) sind der Schadensumfang der [X.] und damit der Schuldumfang rechtsfehlerhaft bestimmt.

7

aa) Das [X.] hat die Höhe der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge ermittelt, indem es zunächst den an die Arbeitnehmer ausgezahlten (Teil-)[X.] anhand der Differenz der tatsächlich geleisteten und der gemeldeten Arbeitsstunden und dem vom [X.] festgestellten und an die Arbeitnehmer „schwarz“ gezahlten Stundenlohn von sieben Euro ermittelt hat; diesen als Nettolohn (§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV) geleisteten [X.] hat es sodann mittels eines einheitlichen Faktors auf einen Bruttolohn hochgerechnet, den es der Berechnung der monatlich vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge zugrunde gelegt hat. Bei der Ermittlung dieses Hochrechnungsfaktors hat das [X.] für alle Arbeitnehmer „zugunsten des Angeklagten“ jeweils einen Lohnsteuersatz von 14 % als Eingangssteuersatz der [X.] angesetzt (UA S. 34).

8

bb) Während die Ermittlung des [X.]s nicht zu beanstanden ist (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 10. November 2009 - 1 [X.] Rn. 29), weist die Berechnung des Hochrechnungsfaktors im landgerichtlichen Urteil durchgreifende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Entgegen der Wertung des [X.]s ist es gerade im Niedriglohnbereich nicht zwingend am günstigsten, wenn dieser Berechnung der Eingangssteuersatz der [X.] - und damit ein Durchschnittssteuersatz von 14 % - zugrunde gelegt wird (vgl. [X.], Beschluss vom 6. Juli 2018 - 1 [X.] Rn. 16). Das [X.] hätte deshalb bei der Hochrechnung der Netto- auf Bruttolöhne nicht pauschal von der [X.] ausgehen dürfen. Nur bei vollumfänglich illegalen Beschäftigungsverhältnissen ist der Umfang hinterzogener Lohnsteuer grundsätzlich anhand des Eingangssteuersatzes der [X.] (vgl. § 39c EStG) zu bestimmen; wenn die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer bekannt waren oder - wie hier - ohne Weiteres hätten festgestellt werden können, muss der Umfang hinterzogener Sozialversicherungsbeiträge anhand der tatsächlich gegebenen Lohnsteuerklasse der Arbeitnehmer ermittelt werden (vgl. [X.], Beschlüsse vom 24. September 2019 - 1 [X.], [X.]St 64, 195 Rn. 36 f.; vom 6. Juli 2018 - 1 [X.] Rn. 16; vom 7. Dezember 2016 - 1 StR 185/16 Rn. 24; vom 8. August 2012 - 1 StR 296/12 und vom 8. Februar 2011 - 1 [X.], [X.]St 56, 153 Rn. 19).

9

cc) Der Schuldspruch ist von dem Rechtsfehler nicht berührt; der [X.] kann ausschließen, dass sich die fehlerhafte Berechnung der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge dergestalt auf die Verwirklichung des Tatbestands auswirkt, dass dieser entfällt (vgl. [X.], Beschluss vom 24. September 2019 - 1 [X.], [X.]St 64, 195 Rn. 43 mwN).

b) Auch der Strafausspruch im Fall 97 (Umsatzsteuerhinterziehung) der Urteilsgründe hat keinen Bestand.

aa) Das [X.] hat seiner Strafzumessung den Strafrahmen für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 3 Satz 1 [X.] zugrunde gelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 [X.] verwirklicht sei, da sich die verkürzten Steuern auf weit über 50.000 Euro beliefen; besondere Umstände, welche die Indizwirkung des [X.] aufgrund einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände widerlegen und die Anwendung des erschwerten Strafrahmens als unangemessen erscheinen lassen würden, seien nicht gegeben, zumal die Umsatzsteuerhinterziehung während laufender Bewährung begangen worden sei (UA S. 67).

bb) Zwar hat das [X.] damit nicht verkannt, dass durch das Vorliegen der Voraussetzungen eines [X.] nur indiziert wird, dass es sich um einen besonders schweren Fall handelt und diese Indizwirkung im Einzelfall entfallen kann (vgl. nur [X.], Urteil vom 19. Dezember 2018 - 1 StR 444/18 Rn. 28). Jedoch ist das [X.] der gebotenen umfassenden Gesamtbetrachtung nicht in einer durch das Revisionsgericht überprüfbaren Weise nachgekommen. Hierfür reicht der bloße Verweis auf eine Gesamtwürdigung unter Nennung nur eines [X.] nicht aus; vielmehr sind die Erschwernis- und Milderungsgründe darzulegen und auf diese Weise nach pflichtgemäßem Ermessen gegeneinander abzuwägen (vgl. [X.], Urteile vom 19. Dezember 2018 - 1 StR 444/18 Rn. 28; vom 5. September 2017 - 1 [X.] Rn. 19 ff. und vom 2. Dezember 2008 - 1 [X.], [X.]St 53, 71 Rn. 49; Beschluss vom 21. Mai 2019 - 1 StR 159/19 Rn. 15).

Anlass zu einer eingehenderen Erörterung bestand insbesondere deshalb, weil das [X.] davon ausgegangen ist, dass die [X.]v.  GmbH als Scheinrechnungsersteller die in den ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer abgeführt hat ([X.]) und somit aufgrund des unberechtigten Vorsteuerabzugs im Ergebnis nur ein ʺformaler Schadenʺ entstanden ist. Diesen bestimmenden [X.] hat die [X.] jedoch nur in ihre Strafzumessung im engeren Sinne eingestellt und nicht erkennbar bereits bei der Wahl des Strafrahmens in den Blick genommen.

cc) Der [X.] kann nicht ausschließen, dass die [X.] bei rechtsfehlerfreiem Vorgehen zu einer Anwendung des Normalstrafrahmens und im Ergebnis zu einer geringeren Einzelstrafe gelangt wäre.

2. Die aufgezeigten Rechtsfehler ziehen die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen nach sich. Auch die [X.] in den [X.] können - unabhängig davon, dass die [X.] der Berechnung nicht pauschal zugrunde gelegt werden durfte (vgl. 1. a) bb)) - schon deshalb nicht bestehen bleiben, da nicht auszuschließen ist, dass sich bei der umfassenden neuen Aufklärung bezüglich der nicht abgeführten Beiträge Tatsachen ergeben, die sich auch auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und damit des Schuldumfangs bei den Lohnsteuerhinterziehungen auswirken.

3. Die Entscheidung über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bleibt von der Aufhebung des Strafausspruchs unberührt (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juni 2021 - 2 [X.] Rn. 20). Allerdings ist diese Entscheidung ihrerseits rechtsfehlerhaft, da das [X.] Art und Ausmaß der Verzögerung nicht konkret festgestellt hat (vgl. nur [X.], Beschluss vom 17. Januar 2008 - [X.], [X.]St 52, 124 Rn. 27). Der [X.] schließt insoweit jedoch aus, dass eine für den Angeklagten günstigere Kompensationsentscheidung möglich gewesen wäre.

III.

Abschließend bemerkt der [X.]:

1. Es beschwert den Angeklagten nicht, dass die [X.] zu seinen Gunsten den Bruttolohn rechtsfehlerhaft lediglich auf der Grundlage des isolierten [X.]anteils ermittelt und sodann aus diesem Betrag die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge bestimmt hat. Zwar ist die Hochrechnung der [X.]summe auf eine Bruttolohnsumme nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV nur auf den [X.]anteil zu beziehen (vgl. [X.], Beschluss vom 10. November 2009 - 1 [X.] Rn. 38). Bei [X.] ist dabei aber auch die Steuerprogression in den Blick zu nehmen, deren Berücksichtigung zu einem höheren Hochrechnungsfaktor führen kann, wenn - wie rechtlich geboten - der gemeldete Teil der Lohnsumme dem [X.]anteil zur Ermittlung des der Hochrechnung zugrunde zu legenden (Durchschnitts-)Steuersatzes hinzugerechnet wird (vgl. auch [X.], Beschluss vom 7. Dezember 2016 - 1 StR 185/16 Rn. 25).

2. Dass das [X.] bei der Ermittlung des Hochrechnungsfaktors für alle Arbeitnehmer den Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung (§ 55 Abs. 3 [X.]) und lediglich einen einheitlichen Prozentsatz für den kassenindividuellen Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung in Ansatz gebracht hat, obgleich die Arbeitnehmer teilweise bekannt waren, erscheint rechtlich nicht unbedenklich, weil es damit zu Lasten des Angeklagten pauschale und nicht belegte Annahmen getroffen hat, die zu einem - wenn auch geringfügig - höheren Hochrechnungsfaktor und einem entsprechend größeren Schuldumfang des Angeklagten führen.

Raum     

        

Jäger     

        

Bellay

        

Hohoff     

        

Leplow     

        

Meta

1 StR 86/21

22.09.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Kaiserslautern, 14. Dezember 2020, Az: 2 KLs 6055 Js 9149/17

§ 370 Abs 1 Nr 1 AO, § 370 Abs 1 Nr 2 AO, § 370 Abs 3 S 2 Nr 1 AO, § 39c EStG, § 14 Abs 2 S 2 SGB 4, § 266a StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.09.2021, Az. 1 StR 86/21 (REWIS RS 2021, 2472)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 2472

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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