Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.10.2015, Az. 4 StR 275/15

4. Strafsenat | REWIS RS 2015, 3552

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
4
StR
275/15

vom
22. Oktober
2015
in der Strafsache
gegen

wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.

-
2
-
Der
4.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 22.
Oktober 2015, an der teilgenommen haben:
[X.] am [X.]
Dr. Mutzbauer

als Vorsitzender,

[X.]in am [X.]
Roggenbuck,
[X.] am [X.]
Cierniak,
[X.],
Bender

als beisitzende [X.],

Staatsanwältin beim [X.]

als Vertreterin der [X.],

Rechtsanwältin

als Verteidigerin,

Rechtsanwalt

als Vertreter der Nebenklägerin A.

K.

,

Rechtsanwältin

als Vertreterin der Nebenklägerinnen M.

K.

und
J.

K.

,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

-
3
-
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 26.
Februar 2015 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufge-hoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer [X.] und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als [X.] zuständige [X.] des [X.].
Von Rechts wegen

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen [X.] in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von [X.] in 58
Fällen, davon in 55
Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, davon in zwei Fällen zudem in Tateinheit mit Sichver-schaffen kinderpornographischer Schriften, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hat [X.] eingelegt, das Rechtsmittel mit der Sachrüge begründet und beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch

aufzuheben. Ihre vom Gene-ralbundesanwalt vertretene Revision
hat Erfolg, soweit sie sich gegen die [X.] der Sicherungsverwahrung wendet. Darüber hinaus ist der ge-samte Strafausspruch

auch zugunsten des Angeklagten (§
301 StPO)

auf-zuheben.
1
-
4
-
1.
Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte
nach dem vierten Ge-burtstag seiner Tochter A.

am
8.
Juli 2011 bis zum
26.
August 2014
in 55
Fällen sexuelle Missbrauchshandlungen zu
deren
Nachteil
vor.
Zwei die-ser Übergriffe filmte der Angeklagte mit seinem Mobiltelefon
und speicherte sie ab;
bei dem ersten dieser beiden Übergriffe
fertigte er auch Fotos von seiner gefesselt, maskiert und auf dem Rücken liegenden unbekleideten Tochter.
Am 31.
Juli
2014
und am 1.
August 2014 kam es auch zu fünf sexuellen Übergriffen auf die zum Tatzeitpunkt sechs
und fünf
Jahre alten Töchter einer Freundin sei-ner Ehefrau. Dabei drang
der
Angeklagte
kurzzeitig mit dem Finger bei einer Gelegenheit
in die Scheide des einen Mädchens und bei einem anderen Über-griff in den Anus der anderen Geschädigten ein, die an ihm auch Oralverkehr ausüben musste.
Das [X.] hat den Angeklagten für voll schuldfähig
gehalten und [X.] von jeweils zwei Jahren und neun Monaten, zwei Jahren und drei Monaten, zwei Jahren, einem Jahr und neun Monaten, einem Jahr und sechs Monaten, einem Jahr und zwei Monaten, 53
mal einem Jahr sowie neun Monaten
verhängt.
Sicherungsverwahrung hat es nicht angeordnet. Es hat die formellen Voraussetzungen für die fakultative Anordnung der Maßregel nach §
66 Abs.
2 StGB bejaht. Auch die materiellen Voraussetzungen gemäß §
66 Abs.
2 i.V.m. Abs.
1 Satz
1 Nr.
4 StGB hat es angenommen. Im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens

hat die [X.] die Anordnung der Sicherungsverwahrung "trotz des festgestellten Gefährdungspotentials"
(UA
34) abgelehnt:
Der Angeklagte habe seine [X.] deutlich zum Aus-druck gebracht.
[X.] eine innere Haltungsänderung bei dem Angeklagten erzielen können" (UA
34), er habe jedoch den ersten Schritt gemacht, indem er seine Taten
rückhaltlos offenbart habe. Die Dauer der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe er-mögliche eine intensive therapeutische Intervention in einer qualifizierten Ein-2
3
-
5
-
richtung des Strafvollzugs. Der Angeklagte habe sich bislang noch gar nicht mit seinen pädophilen Neigungen auseinandergesetzt. Nach seiner (einschlägigen) Verurteilung
zu einer Bewährungsstrafe
im Jahr 1995 habe ausschließlich die problematische Kindheit und Jugend im Fokus der therapeutischen Aufarbei-tung gestanden
(UA
35). Nach alledem gehe die [X.] von der Erwar-tung aus, dass der Angeklagte sich die [X.] hinreichend zur War-nung dienen lassen werde.
2.
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a)
Die Revision ist wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Der [X.] kann offen lassen, ob die
Staatsanwaltschaft ausweislich der [X.]sbegründung über den gestellten Antrag hinaus das Rechtsmittel auf die Frage der [X.] der Sicherungsverwahrung beschränken wollte. Wie der [X.] in
seiner Terminszuschrift vom 3.
Juli 2015 zutreffend ausführt, hat das [X.] Strafhöhe und [X.] in einen inne-ren Zusammenhang gesetzt, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. [X.], Urteil vom 15.
Oktober 2014

2
StR
240/14).
b)
Die auf §
66 Abs.
2 StGB gestützte Entscheidung des
[X.]s, nach seinem
Ermessen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abzu-sehen, leidet an einem durchgreifenden Rechtsfehler.
aa)
Die Wirkungen eines erstmals erlebten längeren
Strafvollzugs und von in diesem Rahmen (möglicherweise) wahrgenommenen [X.] können zwar im Einzelfall wesentliche gegen die Anordnung der Maßregel sprechende Gesichtspunkte
darstellen (vgl. [X.], Beschluss vom 9.
Dezember 2010

5
StR
421/10, [X.], 276). Ein Absehen von der Anordnung trotz bestehender hangbedingter Gefährlichkeit kommt in Ausübung des
in §
66 Abs.
2 (und Abs.
3) StGB eingeräumten Ermessens aber nur dann in Betracht, 4
5
6
7
-
6
-
wenn bereits zum Zeitpunkt des Urteilserlasses die Erwartung begründet ist, der Täter werde hierdurch eine Haltungsänderung erfahren, so dass für das Ende des Strafvollzugs eine günstige Prognose gestellt werden kann ([X.], Urteil
vom 28.
März 2012

2
StR
592/11, [X.], 272 [Ls.]; Beschlüs-
se vom 16.
Dezember 2014

1
StR
515/14, [X.], 73, und
vom 11.
August 2011

3
StR
221/11).
Im Zeitpunkt des Urteilserlasses noch [X.] positive Veränderungen und lediglich mögliche Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug können indes nicht genügen
(vgl. [X.],
Urteile vom 15.
Oktober 2014

2
StR
240/14, [X.], 510, 511, vom 28.
Mai 1998

4
StR
17/98, [X.]R StGB §
66 Abs.
2 Ermessensentscheidung
6,
und vom 22.
Januar 1998

4
StR
527/97, [X.], 206).
Solche möglichen Ver-änderungen sind, sofern sie eingetreten sind,
erst im Rahmen der obligatori-schen Entscheidung gemäß §
67c Abs.
1 StGB vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu berücksichtigen.
bb)
Diesen rechtlichen Maßstab hat das [X.] bei
seiner Ermes-sensausübung verfehlt:
Es hätte prüfen müssen, ob zumindest konkrete Anhaltspunkte für einen Behandlungserfolg vorliegen (vgl. [X.], Urteile vom 3.
Februar 2011

3
StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172, und vom 19.
Juli 2005

4
StR
184/05, [X.], 337, 338; Beschlüsse vom 16. Dezember 2014

1
StR
515/14, [X.], 73, und
vom 28.
März 2012

2
StR
592/11, [X.], 272 [Ls.]).
Es gibt keine gesicherte Vermutung dahingehend, dass eine langjährige, erst-malige [X.] stets zu einer Verhaltensänderung führen wird ([X.], Beschluss
vom 4.
August 2009

1
StR
300/09, [X.], 270, 272). Die
[X.] hat selbst

nach sachverständiger Beratung

ausge-führt, "dass derzeit gänzlich ungewiss ist, ob Therapiebemühungen eine innere Haltungsänderung bei dem Angeklagten erzielen können" (UA
34). Der Um-8
9
-
7
-
stand, dass der Angeklagte nach ihrer Auffassung "den ersten Schritt" gemacht habe, ist nicht geeignet, die in ständiger Rechtsprechung verlangte gesicherte Erwartung zu begründen, die unter Ermessensgesichtspunkten ein Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnte
(vgl. dazu auch [X.], Urteil vom 15.
Oktober 2014

2
StR
240/14, [X.], 510, 511).
cc)
Sonstige Gründe, die einer Anordnung der Sicherungsverwahrung zwingend entgegenstehen könnten, ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil nicht
(vgl. zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit [X.], Urteil vom 7.
Januar 2015

2
StR
292/14, [X.], 208; s. ferner [X.], Beschluss vom 15.
Januar 2015

5
StR
473/14, [X.],
210).
3.
Die Aufhebung des angefochtenen Urteils im (unterbliebenen) [X.] führt zu Gunsten des Angeklagten (§
301 StPO) zur Aufhebung auch des gesamten Strafausspruchs. Im Hinblick auf die Erwägungen des an-gefochtenen Urteils zu den möglichen Wirkungen des langjährigen Strafvollzugs vermag der [X.] nicht auszuschließen, dass die verhängten Einzelstrafen [X.] die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, wenn das [X.] die nunmehr erneut im Raum stehende Sicherungsverwahrung verhängt hätte (vgl. auch [X.], Urteil
vom 11.
Juli 2013

3
StR
148/13 mwN, insoweit in [X.], 707 nicht abgedruckt).
Die Strafzumessung weist andererseits auch einen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten bei der Bemessung aller Einzelstrafen und der Ge-samtstrafe auf. Das [X.] hat im Rahmen der konkreten Strafzumessung die erlittene Untersuchungshaft strafmildernd berücksichtigt. Untersuchungshaft ist indes, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhn-liche, über die üblichen deutlich hinausgehende
Beschwernisse verbunden 10
11
12
-
8
-
([X.], Urteile vom
19.
Dezember 2013

4
StR
302/13, Rn. 9, vom 10.
Oktober 2013

4
StR
258/13, Rn.
18, und vom 28.
März 2013

4
StR
467/12, Rn.
25, jeweils mwN). [X.] der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Ange-klagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt wer-den ([X.], Urteil vom 14.
Juni 2006

2
StR
34/06, [X.], 2645). Daran fehlt es hier.
Mutzbauer
Roggenbuck
Cierniak

Franke
Bender

Meta

4 StR 275/15

22.10.2015

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 22.10.2015, Az. 4 StR 275/15 (REWIS RS 2015, 3552)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 3552

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