Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 07.06.2017, Az. 4 StR 197/17

4. Strafsenat | REWIS RS 2017, 9842

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen

[X.]:[X.]:[X.]:2017:070617B4STR197.17.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 197/17

vom
7. Juni
2017
in der Strafsache
gegen

alias:

wegen gefährlicher Körperverletzung

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 7.
Juni 2017 gemäß §
349 Abs.
2 und 4 StPO beschlossen:

1.
Auf die Revision des
Angeklagten wird das Urteil des Land-gerichts [X.] vom 10.
Januar 2017 mit Ausnahme der Adhäsionsentscheidung mit den Feststellungen aufgehoben; insoweit wird die Urteilsformel dahin ergänzt, dass hinsicht-lich der weiter gehenden Schmerzensgeldforderung von
einer Entscheidung abgesehen wird.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-lung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an eine andere [X.] des Landge-richts zurückverwiesen.
2.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperver-letzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Es hat die Voll-streckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und den Angeklagten
1
-
3
-
als Adhäsionsbeklagten dem Grunde nach verurteilt, Schmerzensgeld an den Adhäsionskläger zu zahlen.
Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Ange-klagten hat den aus der [X.] ersichtlichen überwiegenden Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des §
349 Abs.
2 StPO.
I.
Nach den Feststellungen des [X.]s sah sich
der Angeklagte am
Abend des 9.
August 2015 aus Anlass einer Festveranstaltung mit etwa 200
Gästen in einer [X.] in M.

seitens des [X.] mit dem

tatsächlich unzutreffenden

Vorwurf konfrontiert, diesem auf der Veranstal-tung das Mobiltelefon entwendet zu haben. Auf die wütende Aufforderung des [X.], stehen zu bleiben, bekam es der Angeklagte mit der Angst zu tun und wich zurück. Der Nebenkläger und einige seiner Bekannten bedrängten den Angeklagten weiter und forderten ihn zur Rückgabe des Telefons auf, wo-raufhin der Angeklagte erwiderte,
er habe es nicht. Als einer der Begleiter des [X.] dem Angeklagten ins Gesicht fasste, wich dieser weiter zurück und trat schließlich die Flucht aus der Festhalle an. Er wurde vom Nebenkläger verfolgt, dem es vor der [X.] gelang, den Angeklagten einzuholen. Auf die er-neut und nachdrücklich erhobene Aufforderung zur Rückgabe des Mobiltelefons bestritt der Angeklagte, dieses entwendet zu haben, woraufhin der Nebenkläger antwortete, dass er ihm nicht glaube und ihn nunmehr durchsuchen wolle. Das wollte der Angeklagte seinerseits nicht zulassen und beschloss wegzulaufen. Der Nebenkläger beharrte auf einer Klärung der Angelegenheit und fasste den Angeklagten an der Schulter. Nunmehr entschied sich der Angeklagte, die be-absichtigte Flucht auch gewaltsam durchzusetzen und den Nebenkläger daran 2
3
-
4
-
zu hindern, weiter auf ihn einzuwirken. Er zog ein unbekanntes Schneidwerk-zeug mit kurzer Klinge aus seiner Tasche und fügte dem Nebenkläger damit zwei Schnitte im rechten Brustbereich zu, wodurch zwei klaffende und binnen kurzem stark blutende Wunden entstanden. Kurz darauf überbrachte ein Beglei-ter des [X.] diesem sein Telefon mit dem Bemerken, er habe es [X.] auf dem
Boden gefunden. Diese Situation nutzte der Angeklagte zur Flucht.
II.
Die Verurteilung des Angeklagten begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1.
Nach den bisherigen Feststellungen ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Messerstiche einem gegenwärtigen rechtswidri-gen Angriff ausgesetzt war und sich daher in einer Notwehrsituation im Sinne des §
32 StGB befand.
a)
Gegenwärtig kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entwe-der deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen, nicht mehr hin-nehmbaren Risiken aussetzen würde (vgl. [X.], Urteil vom 21.
März 2017

1
StR
486/16, juris Rn.
28 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungs-handlung begangen, dauert der Angriff so lange an,
wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist ([X.], Urteil vom 21.
März 2017 aaO). Dabei kommt es auf die objektive Sach-
4
5
6
-
5
-
lage an. Entscheidend sind daher nicht
die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr [X.] (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutsverletzung ([X.] aaO mwN).
b)
Danach hätte das [X.] das Vorliegen einer Notwehrlage hier nicht unerörtert lassen dürfen. Denn dem Angeklagten drohte zu dem Zeitpunkt, als er sich zum Einsatz des unbekannt gebliebenen Schneidwerkzeugs ent-schloss, eine Verletzung seiner rechtlich geschützten Interessen. Er musste weder hinnehmen, dass
der

sich in Begleitung weiterer Personen befind-liche

Nebenkläger ihn, wie angekündigt, durchsuchen, noch dass dieser ihn deshalb durch Festhalten am Verlassen des Festgeländes hindern wollte.
2.
Es kommt hinzu, dass die Urteilsgründe zu den genauen
Umständen der Auseinandersetzung, der sog. Kampflage, an durchgreifenden [X.] leiden. Es bleibt deshalb unklar, ob der Einsatz des Schneidwerkzeugs das Maß des Erforderlichen überschritten hat und eine Rechtfertigung des [X.] durch Notwehr
jedenfalls aus diesem Grund nicht in Betracht kommt.
a)
Welche Reaktion auf einen Angriff durch Notwehr gerechtfertigt ist, lässt sich nur bei einer umfassenden und widerspruchsfreien Bewertung der gesamten Auseinandersetzung in objektiver und subjektiver Hinsicht beurteilen. In diese Bewertung der sog. Kampflage sind diejenigen tatsächlichen Umstände einzubeziehen, unter denen sich Angriff und Abwehr abspielen, sowie die [X.] und Gefährlichkeit des Angreifers einerseits und die [X.] andererseits (vgl. [X.], Urteil vom 1.
Dezember 1987

1
StR
582/87, [X.]R StGB §
32 Abs.
2 Angriff
2; Beschluss vom 29.
Januar 2003

2
StR
529/02, [X.], 420, 421). Ob sich der Angeklagte im vorlie-7
8
9
-
6
-
genden Fall auf Notwehr (§
32 StGB) oder etwa auch auf entschuldigende Not-wehrüberschreitung (§
33 StGB) berufen kann, hängt danach entscheidend da-von ab, wie sich diese Kampflage im Zeitpunkt
des Einsatzes des Schneid-werkzeugs
objektiv und insbesondere auch in der Vorstellung des Angeklagten darstellte ([X.], Urteil vom 1.
Dezember 1987

1
StR
582/87, [X.]R StGB §
32 Abs.
2 Angriff
2).
b)
Eine solche widerspruchsfreie Feststellung und Bewertung der Kampf-lage ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Das [X.] stellt insoweit zunächst fest, der Angeklagte habe seine Durchsuchung durch den Nebenkläger nicht zulassen wollen und sich deshalb entschlossen, die Feier zu verlassen und wegzulaufen. Bereits zuvor habe er es angesichts des ihn verfol-genden [X.] und der ihn bed
die die [X.] ihre Schlussfolgerung stützt, der Nebenkläger habe dem Angeklagten seinerseits keinen Anlass gegeben, die Verletzungshandlungen aus Angst vor Gewalthandlungen durch ihn, den Nebenkläger, auszuüben, nicht vereinbar. Insoweit stellt das Urteil darauf ab, der Angeklagte selbst habe nicht geäußert, sich vom Nebenkläger bedroht gefühlt zu haben. Er habe keine Tät-lichkeiten des [X.] geschildert; nach seiner eigenen Darstellung habe er zwar eine gereizte Atmosphäre wahrgenommen, jedoch keine Angst vor Übergriffen gehabt.
Der neue Tatrichter wird daher genauere Feststellungen zur sog. Kampf-lage treffen und vor diesem Hintergrund die Frage der Rechtfertigung des [X.] nach §
32 StGB umfassend
neu prüfen müssen.
10
11
-
7
-
3.
Sollte der neue Tatrichter die Voraussetzungen einer Rechtfertigung nach §
32 StGB wiederum verneinen, wird er, anders als im angefochtenen
Urteil geschehen, die Prüfung der Voraussetzungen eines minder schweren Falles im Sinne von §
224 Abs.
1 2.
Halbsatz StGB auch unter Berücksichti-gung einer möglichen Provokation des Angeklagten durch den Nebenkläger vorzunehmen haben (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Beschluss vom 19.
Juni 2012

3
StR
206/12, [X.]R StGB §
224 Abs.
1 Minder
schwerer Fall
1).
III.
1.
Die Aufhebung des strafrechtlichen Teils des angefochtenen Urteils führt nicht zur Aufhebung der zu Gunsten des [X.] ergangenen Adhä-sionsentscheidung (§
406a Abs.
3 Satz
1 StPO); dessen Aufhebung bleibt ge-gebenenfalls dem neuen Tatrichter vorbehalten (vgl. nur [X.], Urteil vom 23.
Juli 2015

3
StR
470/14, juris Rn.
56
mwN; [X.]/[X.], 2.
Aufl., §
406a Rn.
7).
2.
Jedoch bedurfte es in Bezug auf die Adhäsionsentscheidung der aus der [X.] ersichtlichen Ergänzung des Tenors. Da der Nebenkläger ein Leistungsurteil begehrt hatte, aber nur ein Grundurteil ergangen ist, hat das [X.] der Sache nach im Übrigen von einer Entscheidung über den
12
13
14
-
8
-
Adhäsionsantrag gemäß §
406 Abs.
1 Satz
3 und 4 StPO abgesehen; diesen Ausspruch holt der Senat nach (vgl. [X.], Urteil vom 23.
Juli 2015 aaO).
[X.]
Roggenbuck
Franke
Quentin
Ri[X.] Dr. Feilcke ist urlaubs-bedingt ortsabwesend und des-halb gehindert zu unterschrei-ben.
[X.]

Meta

4 StR 197/17

07.06.2017

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 07.06.2017, Az. 4 StR 197/17 (REWIS RS 2017, 9842)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 9842

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

4 StR 197/17 (Bundesgerichtshof)

Gefährliche Körperverletzung: Gegenwärtiger Angriff bei Notwehrlage


2 StR 188/17 (Bundesgerichtshof)

Notwehr: Erforderlichkeit des lebensgefährlichen Einsatzes einer Schusswaffe; Aussetzung durch Zurücklassen des tödlich getroffenen Angreifers


2 StR 263/21 (Bundesgerichtshof)

Notwehr: Gegenwärtigkeit des Angriffs; Schusswaffengebrauch im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung


2 StR 118/10 (Bundesgerichtshof)

Notwehr: Veranlassung des Angriffs durch rechtlich gebotenes Tun; Abwehr des Angriffs mit unberechtigt mitgeführter Waffe


4 StR 35/17 (Bundesgerichtshof)

Gefährliche Körperverletzung: Gegenwärtigkeit des Angriffs und erforderliche Verteidigung im Rahmen der Notwehr


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

4 StR 197/17

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.