Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2012, Az. VI R 32/11

6. Senat | REWIS RS 2012, 9976

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Regelmäßige Arbeitsstätte bei mehreren Tätigkeitsstätten


Leitsatz

NV: Ein Arbeitnehmer kann nicht mehr als eine regelmäßige Arbeitsstätte innehaben, auch wenn er fortdauernd und immer wieder verschiedene Betriebsstätten seines Arbeitgebers aufsucht (Anschluss an BFH-Urteile vom 9. Juni 2011 VI R 36/10, BStBl II 2012, 36; VI R 55/10, BStBl II 2012, 38).

Tatbestand

1

I. [X.]ie Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind [X.]heleute und wurden im Streitjahr (2007) zusammen zur [X.]inkommensteuer veranlagt. [X.]er Kläger war im Streitjahr [X.]ezirksleiter bei der [X.]irma [X.] in Y ([X.]rbeitgeber). [X.]r war in dieser [X.]igenschaft laut [X.]rbeitsvertrag zuständig für die Verkaufsstellen in [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.], [X.] und [X.] [X.]r suchte die Verkaufsstellen mit einem vom [X.]rbeitgeber überlassenen [X.]ienstwagen mehrfach im [X.]ahr, allerdings unterschiedlich häufig, auf.

2

[X.]er Kläger begehrte im Rahmen der Steuererklärung für das Streitjahr u.a. den [X.]bzug von Mehraufwendungen für die Verpflegung in [X.]öhe von 2.028 €. [X.]ies lehnte der [X.]eklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das [X.]inanzamt --[X.][X.]--) mit der [X.]egründung ab, dass die Verkaufsstellen regelmäßige [X.]rbeitsstätten darstellten und somit eine [X.]insatzwechseltätigkeit nicht angenommen werden könne.

3

[X.]as [X.]inanzgericht ([X.][X.]) gab der Klage nur zu einem geringen Teil statt. Nach seiner [X.]uffassung sind die Verkaufsstellen grundsätzlich als regelmäßige [X.]rbeitsstätten i.S. des § 9 [X.]bs. 1 Satz 3 Nr. 4 des [X.]inkommensteuergesetzes ([X.]St[X.]) zu bewerten. Lediglich die [X.]ilialen, die der Kläger nur jeweils vereinzelt im Streitjahr aufgesucht habe, seien keine regelmäßigen [X.]rbeitsstätten. Von einer für das Merkmal der regelmäßigen [X.]rbeitsstätte maßgeblichen hinreichend zentralen [X.]edeutung könne erst bei mehr als zehn [X.]esuchen im Kalenderjahr ausgegangen werden.

4

Sowohl die Kläger als auch das [X.][X.] wenden sich gegen die Vorentscheidung jeweils mit der Revision.

5

[X.]ie Kläger beantragen, die Revision des [X.][X.] zurückzuweisen, das angefochtene Urteil und die [X.]inspruchsentscheidung aufzuheben und den [X.]inkommensteuerbescheid 2007 dahingehend abzuändern, dass weitere Werbungskosten in [X.]öhe von 2.028 € in [X.]bzug gebracht werden.

6

[X.]as [X.][X.] beantragt, die Revision der Kläger zurückzuweisen, das angefochtene Urteil insoweit abzuändern, als weitere Werbungskosten in [X.]öhe von 246 € zum [X.]bzug zugelassen wurden, und im Übrigen das Urteil des [X.][X.] zu bestätigen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] ist zu Unrecht von mehreren Tätigkeitsmittelpunkten ausgegangen.

8

Die Revision des [X.] ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen.

9

1. Mehraufwendungen für die Verpflegung des Steuerpflichtigen sind gemäß § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 1 EStG nicht abziehbare Werbungskosten. Wird der Steuerpflichtige jedoch vorübergehend von seiner Wohnung und dem Mittelpunkt seiner dauerhaft angelegten betrieblichen Tätigkeit entfernt betrieblich tätig, so ist nach Satz 2 der Vorschrift für jeden Kalendertag, an dem der Steuerpflichtige wegen dieser vorübergehenden Tätigkeit von seiner Wohnung und seinem Tätigkeitsmittelpunkt über eine bestimmte Dauer abwesend ist, ein nach dieser Dauer gestaffelter Pauschbetrag abzusetzen. Dies gilt entsprechend, wenn der Steuerpflichtige bei seiner individuellen beruflichen Tätigkeit typischerweise nur an wechselnden Tätigkeitsstätten oder auf einem Fahrzeug tätig wird (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 3 EStG). Der Begriff des Tätigkeitsmittelpunkts (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG) entspricht dem Begriff der (regelmäßigen) Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG.

a) Regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist (nur) der (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers und damit der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine aufgrund des Dienstverhältnisses geschuldete Leistung zu erbringen hat. Dies ist im Regelfall der Betrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, also fortdauernd und immer wieder aufsucht (Urteil des [X.] --[X.]-- vom 22. September 2010 [X.], [X.], 127, [X.], 354, m.w.N.). Allerdings ist erforderlich, dass der Arbeitnehmer dort seiner eigentlichen beruflichen Tätigkeit nachgeht. Der Betriebssitz des Arbeitgebers, den der Arbeitnehmer lediglich regelmäßig nur zu Kontrollzwecken aufsucht, ist nicht die regelmäßige Arbeitsstätte ([X.]-Urteil vom 9. Juni 2011 [X.], [X.], 155, [X.], 34).

b) Liegen diese Voraussetzungen vor, so konnte ein Arbeitnehmer nach früherer Rechtsprechung des [X.] auch mehrere regelmäßige Arbeitsstätten nebeneinander innehaben. Diese Rechtsprechung hat der [X.] jedoch zwischenzeitlich aufgegeben (Urteile vom 9. Juni 2011 [X.], [X.], 160, [X.], 36; [X.]/10, [X.], 164, [X.], 38; s. dazu Schreiben des [X.] vom 15. Dezember 2011 [X.] - S 2353/11/10010). Denn der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers kann nur an einem Ort liegen. Nur insoweit kann sich der Arbeitnehmer auf die immer gleichen Wege einstellen und so (etwa durch Fahrgemeinschaften, öffentliche Verkehrsmittel oder eine zielgerichtete Wohnsitznahme in der Nähe der regelmäßigen Arbeitsstätte) auf eine Minderung der [X.] hinwirken. Damit stellt sich § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auch nur insoweit als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip dar. Übt der Arbeitnehmer hingegen an mehreren betrieblichen Einrichtungen des Arbeitgebers seinen Beruf aus, ist es ihm regelmäßig nicht möglich, die anfallenden [X.] durch derartige Maßnahmen gering zu halten. Denn die unter Umständen nicht verlässlich vorhersehbare Notwendigkeit, verschiedene Tätigkeitsstätten aufsuchen zu müssen, erlaubt es dem Arbeitnehmer nicht, sich immer auf die gleichen Wege und eine kostengünstige Verpflegungssituation einzustellen (vgl. dazu [X.]-Urteil vom 18. Juni 2009 [X.], [X.]E 226, 59, [X.], 564). In einem solchen Fall lässt sich die Einschränkung der Steuererheblichkeit von [X.] durch die Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) nicht rechtfertigen.

c) Ist der Arbeitnehmer in mehreren betrieblichen Einrichtungen des Arbeitgebers tätig, sind deshalb die Umstände des Einzelfalles zu würdigen und der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit zu bestimmen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, welcher Tätigkeitsstätte der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zugeordnet worden ist, welche Tätigkeit er an den verschiedenen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat und welches konkrete Gewicht dieser Tätigkeit zukommt. Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeitsstätte im zeitlichen Abstand immer wieder aufsucht, reicht für die Annahme einer regelmäßigen Arbeitsstätte jedenfalls dann nicht aus, wenn der Steuerpflichtige fortdauernd und immer wieder verschiedene Betriebsstätten seines Arbeitgebers aufsucht. Der regelmäßigen Arbeitsstätte muss vielmehr hinreichend zentrale Bedeutung gegenüber den weiteren Tätigkeitsorten zukommen.

2. Das [X.] ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Auffassung, dass der Kläger über mehrere regelmäßige Arbeitsstätten verfügte, entspricht nicht der neuen Rechtsprechung des [X.]s. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die Revision des [X.], das ebenfalls vom Innehaben mehrerer regelmäßiger Arbeitsstätten ausgeht, ist aus demselben Grund ohne Erfolg.

Die Sache ist allerdings nicht spruchreif. Das [X.] hat im zweiten Rechtsgang festzustellen, ob der Kläger unter Beachtung der o.g. Grundsätze im Streitjahr überhaupt eine regelmäßige Arbeitsstätte innehatte oder ob er nicht insgesamt eine Auswärtstätigkeit ausgeübt hat ([X.]-Urteil in [X.], 160, [X.], 36). Ist das nicht der Fall, wird zu entscheiden sein, in welcher Tätigkeitsstätte der Schwerpunkt der beruflichen Tätigkeit des [X.] lag und welche damit als regelmäßige Arbeitsstätte galt. Dazu hat das [X.] festzustellen, ob und welcher betrieblichen Einrichtung seines Arbeitgebers der Kläger zugeordnet war, welche Tätigkeit er an den verschiedenen Arbeitsstätten im Einzelnen wahrnahm oder wahrzunehmen hatte und welches Gewicht dieser Tätigkeit jeweils zukam ([X.]-Urteil in [X.], 164, [X.], 38).

Meta

VI R 32/11

19.01.2012

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 13. April 2011, Az: 2 K 278/09, Urteil

§ 4 Abs 5 S 1 Nr 5 EStG 2002, § 9 Abs 1 S 3 Nr 4 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2012, Az. VI R 32/11 (REWIS RS 2012, 9976)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9976

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI R 36/11 (Bundesfinanzhof)

Mehraufwendungen für die Verpflegung eines Rettungsassistenten - Tätigkeit als Notarztwagenfahrer als Fahrtätigkeit


VI R 55/10 (Bundesfinanzhof)

Regelmäßige Arbeitsstätte bei mehreren Tätigkeitsstätten


VI R 36/10 (Bundesfinanzhof)

Auswärtstätigkeit bei Einsatz in verschiedenen Filialen - Regelmäßige Arbeitsstätte bei mehreren Tätigkeitsstätten


VI R 44/11 (Bundesfinanzhof)

Fahrergestellung als Lohn


VI R 23/11 (Bundesfinanzhof)

Mehraufwendungen für die Verpflegung für den Fahrer eines Noteinsatzfahrzeugs


Referenzen
Wird zitiert von

11 Sa 352/12

Zitiert

VI R 55/10

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.