Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.08.2011, Az. 1 AZR 44/10

1. Senat | REWIS RS 2011, 4023

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nachteilsausgleich - Einigungsstellenspruch - Versuch eines Interessenausgleichs


Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 19. November 2009 - 7 [X.]/09 - teilweise aufgehoben, soweit das [X.] die Beklagte zur Zahlung eines Betrages von 8.938,00 Euro brutto verurteilt hat.

2. In dem vorgenannten Umfang wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 22. Juli 2003 - 6 [X.]/03 A - zurückgewiesen.

3. Die Kosten der Revision hat die Klägerin zu tragen. Die verbleibenden Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 85 % und die Beklagte zu 15 % zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über einen [X.]nspruch auf Nachteilsausgleich.

2

Die Klägerin war bei der Beklagten als Verkäuferin beschäftigt. Das [X.]rbeitsverhältnis endete nach einer Betriebsstilllegung der Filiale [X.] durch betriebsbedingte Kündigung zum 30. Juni 2003.

3

Für die von der Beklagten durchgeführte Betriebsstilllegung wurde eine Einigungsstelle für den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs und die [X.]ufstellung eines Sozialplans gebildet. In dieser haben die Betriebsparteien an zwei Tagen über die Stilllegungsabsicht der Beklagten verhandelt. Der [X.] stellte nach der Beratung über die geplante Betriebsschließung im Protokoll das Scheitern der Verhandlungen über einen Interessenausgleich fest. Einen förmlichen Beschluss fasste die Einigungsstelle nicht.

4

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Zahlung eines Nachteilsausgleichs verlangt. Sie hat die [X.]uffassung vertreten, die Beklagte habe die Kündigung des [X.]rbeitsverhältnisses ausgesprochen, ohne zuvor alle gesetzlichen Möglichkeiten zum Versuch eines Interessenausgleichs auszuschöpfen. Dies sei erst dann der Fall, wenn das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen durch einen Beschluss der Einigungsstelle festgestellt worden sei.

5

Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Bedeutung - beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin gem. § 113 [X.]bs. 3 BetrVG einen Nachteilsausgleich, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu zahlen.

6

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

7

Das [X.]rbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat ihr stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 8.938,00 Euro verurteilt. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist in dem noch rechtshängigen Umfang unbegründet. Die Klägerin hat keinen [X.]nspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 [X.]bs. 3 [X.]. Die Beklagte hat die Schließung ihrer Filiale [X.] erst nach einem ausreichenden Versuch eines Interessenausgleichs durchgeführt.

9

1. Nach § 113 [X.]bs. 3 iVm. [X.]bs. 1 [X.] kann ein [X.]rbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer [X.]bfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 [X.] durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben und infolge der Maßnahme [X.]rbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Der [X.]nspruch aus § 113 [X.]bs. 3 [X.] dient vornehmlich der Sicherung des sich aus § 111 Satz 1 [X.] ergebenden Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats und schützt dabei mittelbar die Interessen der von einer Betriebsänderung betroffenen [X.]rbeitnehmer. Er entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben (B[X.]G 30. Mai 2006 - 1 [X.]ZR 25/05 - Rn. 17, B[X.]GE 118, 222).

2. Zwar hat die Beklagte mit der Filiale [X.] den Betrieb eines Unternehmens mit mehr als 20 wahlberechtigten [X.]rbeitnehmern stillgelegt und damit eine Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 1 und Satz 3 Nr. 1 [X.] durchgeführt. Die Klägerin ist auch infolge der Stilllegung entlassen worden. Die Beklagte hat aber mit dem Betriebsrat vor der Durchführung der Betriebsänderung einen Interessenausgleich versucht iSv. § 113 [X.]bs. 3 iVm. [X.]bs. 1 [X.].

a) Der [X.]rbeitgeber hat nach § 111 Satz 1 [X.] in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten [X.]rbeitnehmern den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. [X.]nders als in den [X.]ngelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung kann der Unternehmer die Betriebsänderung zwar ohne eine Einigung der Betriebsparteien nach seinen Vorstellungen durchführen. Das Gesetz verpflichtet ihn lediglich, mit dem Betriebsrat über den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs mit dem ernsthaften Willen einer Verständigung zu beraten. Der Unternehmer muss sich dazu mit den vom Betriebsrat vorgeschlagenen [X.]lternativen zu der geplanten Betriebsänderung einlassen und argumentativ auseinandersetzen. Können sich die Betriebsparteien nicht auf einen Interessenausgleich verständigen, ist der [X.]rbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat zur [X.]nrufung der Einigungsstelle verpflichtet. Die Betriebsparteien haben in dem Einigungsstellenverfahren letztmals Gelegenheit, unter Mitwirkung eines unparteiischen Vorsitzenden [X.]lternativen zur geplanten Betriebsänderung zu erörtern oder Modifikationen zu prüfen, die für die betroffenen [X.]rbeitnehmer weniger nachteilige Folgen haben (B[X.]G 20. November 2001 - 1 [X.]ZR 97/01 - zu I 1 d der Gründe, B[X.]GE 99, 377). Ein [X.]nspruch auf Nachteilsausgleich besteht daher nicht, wenn die Betriebsparteien einen Interessenausgleich vereinbaren oder der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats in dem Einigungsstellenverfahren erfüllt wird.

b) Der Versuch eines Interessenausgleichs iSv. § 113 [X.]bs. 3 iVm. [X.]bs. 1 [X.] setzt nicht voraus, dass die Einigungsstelle das Scheitern der [X.] förmlich durch Beschluss feststellt. Hierfür spricht der Gesetzeswortlaut sowie der Normzweck des § 111 Satz 1 [X.].

aa) Nach § 76 [X.]bs. 1 Satz 1 [X.] ist zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen [X.]rbeitgeber und Betriebsrat bei Bedarf eine Einigungsstelle zu bilden. Zwar sieht das Gesetz in § 76 [X.]bs. 3 und [X.]bs. 5 [X.] Regelungen über die Beschlussfassung der Einigungsstelle vor. Diese erfolgt außerhalb des freiwilligen [X.] (§ 76 [X.]bs. 6 [X.]) nur in [X.]ngelegenheiten, in denen der Gesetzgeber eine solche Entscheidung zur [X.]uflösung eines betriebsverfassungsrechtlichen Konflikts ausdrücklich vorgesehen hat. Für das auf den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs gerichtete Einigungsstellenverfahren hat er der Einigungsstelle eine solche Kompetenz nicht zugewiesen. § 112 [X.]bs. 3 [X.] sieht eine Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern der [X.] nicht vor. Satz 3 regelt nur die Unterzeichnung eines in der Einigungsstelle vereinbarten Interessenausgleichs durch ihren Vorsitzenden und die am Einigungsstellenverfahren Beteiligten. Das Gesetz beschränkt in § 112 [X.]bs. 4 Satz 1 [X.] die Entscheidung der Einigungsstelle auf die [X.]ufstellung eines Sozialplans. Dies entspricht dem Inhalt der jeweils betroffenen Beteiligungsrechte. Das auf den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs gerichtete Einigungsstellenverfahren ist nicht auf eine autoritäre [X.]uflösung der zwischen den Betriebspartnern bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die beabsichtige Betriebsänderung gerichtet. Wegen des lediglich als Beratungsrecht ausgestalteten Beteiligungsrechts des Betriebsrats hinsichtlich der Durchführung der Betriebsänderung ist die Einigungsstelle insoweit auf eine moderierende Funktion zwischen den Betriebspartnern beschränkt, während der Betriebsrat bei der [X.]ufstellung eines Sozialplans ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hat, das durch einen Einigungsstellenspruch durchgesetzt werden kann.

bb) Der Normzweck des § 111 Satz 1 [X.] gebietet keine andere [X.]uslegung.

(1) Für die mit der individual-rechtlichen Sanktion des § 113 [X.]bs. 3 [X.] bewirkte Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats bedarf es keiner förmlichen Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern der [X.]. Hat der Unternehmer den Betriebsrat über die beabsichtigte Betriebsänderung nur ungenügend unterrichtet oder sich nicht ausreichend mit dem Betriebsrat argumentativ auseinandergesetzt, liegt kein ausreichender Versuch eines Interessenausgleichs iSv. § 113 [X.]bs. 3 [X.] vor. Dies gilt auch bei einer vorzeitigen Durchführung der Betriebsänderung.

(2) Eine verfahrensbeendende Entscheidung des [X.] nach § 112 [X.]bs. 2 [X.] ist auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit oder Rechtsklarheit geboten. Gegenstand eines solchen Einigungsstellenspruchs wäre eine Rechtsfrage, über die von der Einigungsstelle außer in den im [X.] (zB § 37 [X.]bs. 6 und [X.]bs. 7, § 38 [X.]bs. 2, § 109 [X.]) keine Entscheidung mit Bindungswirkung für die Betriebspartner getroffen werden könnte (vgl. für einen von der Einigungsstelle getroffenen Zwischenbeschluss: B[X.]G 22. November 2005 - 1 [X.]BR 50/04 - Rn. 21, B[X.]GE 116, 235; 28. Mai 2002 - 1 [X.]BR 37/01 - zu [X.] 2 c aa [2] der Gründe, B[X.]GE 101, 203). Weder die am Einigungsstellenverfahren Beteiligten noch die von der Betriebsänderung betroffenen [X.]rbeitnehmer würden durch eine Entscheidung der Einigungsstelle über das Scheitern des [X.] Gewissheit über die Erfüllung des Verhandlungsanspruchs aus § 111 Satz 1 [X.] erlangen. Denn selbst bei einem entsprechenden Spruch bliebe ungeklärt, ob die Mehrheit der Einigungsstellenmitglieder zu Recht von einer ausreichenden Unterrichtung des Betriebsrats und Beratung der beabsichtigten Betriebsänderung ausgegangen ist.

c) Danach ist die Klage unbegründet. Die Beklagte hat den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs über die Schließung der Filiale [X.] ausreichend versucht. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass in der Einigungsstelle Verhandlungen über den [X.]bschluss eines Interessenausgleichs stattgefunden haben, die jedoch ergebnislos geblieben sind. [X.]nhaltspunkte, dass die Beklagte dabei den Verhandlungsanspruch des Betriebsrats nicht erfüllt hat, sind weder ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen.

        

    Schmidt    

        

    Linck    

        

    Koch    

        

        

        

    Platow    

        

    [X.]    

                 

Meta

1 AZR 44/10

16.08.2011

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Weiden, 22. Juli 2003, Az: 6 Ca 146/03 A, Urteil

§ 113 Abs 3 BetrVG, § 111 S 1 BetrVG, § 76 Abs 3 BetrVG, § 76 Abs 5 BetrVG, § 112 Abs 3 BetrVG, § 112 Abs 4 BetrVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.08.2011, Az. 1 AZR 44/10 (REWIS RS 2011, 4023)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4023

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 AZR 102/18 (Bundesarbeitsgericht)

Tarifvertrag - verkürzte Kündigungsfrist - Sozialplan - Technischer Angestellter in den Stückgut-Kaibetrieben - Nachteilsausgleich


1 AZR 713/16 (Bundesarbeitsgericht)


1 AZR 708/16 (Bundesarbeitsgericht)


1 AZR 719/16 (Bundesarbeitsgericht)


1 AZR 716/16 (Bundesarbeitsgericht)


Referenzen
Wird zitiert von

7 Sa 95/17

1 Ca 1653/11

1 Ca 1523/11

1 Ca 1521/11

1 Ca 1520/11

5 Sa 303/11

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.