Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.12.2023, Az. 10 AZR 395/20

10. Senat | REWIS RS 2023, 9610

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Tenor

1. Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] - [X.] - vom 17. Juli 2020 - 12 [X.] - aufgehoben.

2. Auf die Berufung des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 29. Januar 2020 - 9 [X.]/19 - abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.701,01 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 637,13 Euro seit dem 20. Juli 2019 und aus weiteren 1.063,88 Euro seit dem 14. Januar 2020 zu zahlen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher [X.].

2

Der Kläger leistete im streitgegenständlichen [X.]raum Nachtarbeit im Rahmen von [X.] bei der [X.], einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Er ist Mitglied der [X.] ([X.]). Die Beklagte ist durch den mit der [X.] geschlossenen [X.] „Geltung von Manteltarifverträgen“ ([X.]) an den [X.] für die Arbeitnehmer der Ernährungsindustrie in [X.] vom 31. März 2000 ([X.]), den Zusatz-Tarifvertrag für die Erfrischungsgetränkeindustrie in [X.] vom 26. April 1989 ([X.]) und den [X.] zum [X.] vom 9. März 1992 ([X.][X.]) gebunden.

3

Der Kläger verrichtete von Dezember 2018 bis Juni 2019 in der [X.] zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr Nachtarbeit in Wechselschicht, für die er einen Zuschlag in Höhe von 25 % des [X.] erhielt. Es handelt sich um 18 Stunden im Dezember 2018, 66 Stunden im Januar 2019, 56 Stunden im Februar 2019, 45,5 Stunden im März 2019, 55,57 Stunden im April 2019, 48 Stunden im Mai 2019 und 72 Stunden im Juni 2019. Der Stundenlohn des [X.] betrug bis 31. Dezember 2018 18,16 Euro brutto, ab 1. Januar 2019 18,88 Euro brutto.

4

Mit seiner Klage begehrt der Kläger - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer [X.] in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Schichtarbeit in der Nachtzeit in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit, die nicht Schichtarbeit ist, in Höhe von 50 %.

5

Am Standort [X.] der [X.], an dem der Kläger beschäftigt ist, gab es im streitgegenständlichen [X.]raum keinen Aushang am [X.], mit dem auf die tariflichen Ausschlussfristen hingewiesen wurde.

6

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a [X.] iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge für Nachtarbeit von nur 20 %, für sonstige Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am [X.] Leben auch bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr als auch bei Nachtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 20 % für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt. Er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für [X.] der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der [X.] ([X.]) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 [X.] zu messen seien.

7

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn als Differenzlohn für Nachtschichtzuschläge für die Monate Dezember 2018 bis Juni 2019 1.701,01 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

8

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein [X.], weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der [X.] überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten und zur bezahlten Essenspause. Der Zuschlag von 50 % solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am [X.] Leben, etwa die [X.], bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.

9

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das [X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seine Zahlungsansprüche weiter.

Der Senat hat das Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der [X.] ([X.]) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.]) ausgesetzt. Der [X.] hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom 7. Juli 2022 geantwortet (- [X.]/21 und [X.]/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]).

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts für die während der Nachtschichten geleisteten Arbeitsstunden Anspruch auf einen höheren [X.]. Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Klage ist begründet, was der Senat selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).

I. Der Rechtsstreit war nicht in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen der gegen das Urteil des Senats vom 24. Mai 2023 - 10 [X.] - eingelegten Verfassungsbeschwerde (- 1 BvR 1823/23 -) auszusetzen (vgl. zur entsprechenden Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde [X.] 10. September 2020 - 6 [X.] (A) - Rn. 42 ff., [X.]E 172, 175).

1. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf (vgl. [X.] 22. März 2023 - 10 [X.] - Rn. 20 mwN; 10. September 2020 - 6 [X.] (A) - Rn. 45 mwN, [X.]E 172, 175).

2. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. [X.]) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.

a) [X.] sind vorliegend Ansprüche des [X.] auf höhere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum von Dezember 2018 bis Juni 2019. Die der Beklagten am 19. Juli 2019 zugestellte Klage ist seit über vier Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom 7. Juli 2022 (- [X.]/21 und [X.]/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]) entfallen.

b) Eine weitere Aussetzung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem [X.] würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, dessen Abschluss nicht valide abzuschätzen ist, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen. Mit Blick darauf war dem Interesse des [X.] an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor einem Aussetzungsinteresse der Beklagten der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit zurück.

II. Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte hat an den Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum für seine Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag für Nachtarbeit nach § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a [X.] in Höhe von 50 % des [X.] abzüglich der nach § 3 Abschn. II Nr. 4 [X.] geleisteten Zuschläge zu zahlen.

1. Dem Kläger stehen höhere Nachtarbeitszuschläge zu, weil die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge für sonstige Nachtarbeit (§ 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a [X.]) und Nachtschichtarbeit (§ 3 Abschn. II Nr. 4 [X.]) einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhält. [X.] werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von [X.] leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann nur dadurch genügt werden, dass der Kläger für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Arbeitnehmer, der sonstige Nachtarbeit iSv. § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a [X.] leistet, behandelt wird. Daher hat der Kläger - wie beantragt - ergänzend zu dem gezahlten Zuschlag nach § 3 Abschn. II Nr. 4 [X.] Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % zu seinem jeweiligen Stundenentgelt für die von ihm geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit. Das hat der Senat zu den hier maßgeblichen Tarifnormen bereits entschieden ([X.] 24. Mai 2023 - 10 [X.] - Rn. 37 ff.). Das Vorbringen im Streitfall entspricht dem Vorbringen in dem bereits entschiedenen Verfahren und führt zu keiner anderen Bewertung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird daher auf die Erwägungen im vorstehenden Urteil verwiesen.

2. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat zur Folge, dass der Kläger Anspruch auf Zahlung des höheren [X.]s von 50 % des [X.] für die von ihm geleistete streitgegenständliche Nachtarbeit hat. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung kann für die im Streit stehende Vergangenheit nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom 24. Mai 2023 (- 10 [X.] - Rn. 65 ff.) verwiesen.

3. Die Ansprüche des [X.] sind nicht wegen Versäumung der tariflichen Ausschlussfrist verfallen. Der Kläger war nicht gehalten, die streitgegenständlichen Ansprüche innerhalb der tariflichen Ausschlussfristen geltend zu machen, weil die Beklagte es unterlassen hat, auf diese am Standort [X.] durch einen Aushang am [X.] hinzuweisen. Bei § 13 Nr. 3 Satz 1 [X.] handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung keine Rechtsfolgen nach sich zieht (näher [X.] 24. Mai 2023 - 10 [X.] - Rn. 70).

4. Danach stehen dem Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für die Monate Dezember 2018 bis Juni 2019 in Höhe von insgesamt 1.701,01 Euro brutto zu. Diese ergeben sich wie folgt:

        

Abrechnungsmonat

Nachtarbeit in Std.

Bruttostundenlohn in Euro

Prozentsatz

Bruttoanspruch in Euro

        

Dezember 2018

18    

18,16 

25    

81,72 

        

Januar 2019

66    

18,88 

25    

311,52

        

Februar 2019

56    

18,88 

25    

264,32

        

März 2019

45,5   

18,88 

25    

214,76

        

April 2019

55,57 

18,88 

25    

262,29

        

Mai 2019

48    

18,88 

25    

226,56

        

Juni 2019

72    

18,88 

25    

339,84

5. Die geforderten [X.] stehen dem Kläger ab dem 20. Juli 2019 bzw. dem 14. Januar 2020 zu. Die Klage, mit der der Kläger Ansprüche für die Monate Dezember 2018 bis Februar 2019 geltend gemacht hat, ist der Beklagten am 19. Juli 2019 zugestellt worden, die [X.], mit der er weitere Zahlungen für die Monate Januar und Februar 2019 sowie (erstmalig) Zahlungen für die Monate März bis Juni 2019 verlangt hat, am 13. Januar 2020. Die Pflicht zur Verzinsung beginnt bei [X.] nach §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2, § 187 Abs. 1 BGB mit dem Folgetag der Rechtshängigkeit (st. Rspr., vgl. nur [X.] 10. November 2021 - 10 [X.] - Rn. 58).

III. [X.] folgt mit Rücksicht auf die geringfügige Rücknahme der Klageforderung für den Monat Dezember 2018 (0,23 Euro brutto) aus § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO (vgl. [X.] 15. November 2022 - 3 [X.] - Rn. 44).

        

    W. Reinfelder    

        

    Nowak    

        

    Pessinger    

        

        

        

    Rudolph    

        

    Gratzer    

                 

Meta

10 AZR 395/20

14.12.2023

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Mannheim, 29. Januar 2020, Az: 9 Ca 122/19, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.12.2023, Az. 10 AZR 395/20 (REWIS RS 2023, 9610)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9610

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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