Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.08.2023, Az. AK 53/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 5659

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Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem [X.] übertragen.

Gründe

I.

1

Der Angeklagte ist am 9. Februar 2023 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 6. Februar 2023 ([X.]) festgenommen worden. Seither wird gegen ihn ununterbrochen Untersuchungshaft vollzogen.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich seit Januar 2014 vornehmlich im Gebiet M.     , aber auch an anderen Orten in der [X.] und im Ausland als Mitglied an einer [X.] im Ausland ([X.] - [X.]) beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.

3

Nach mündlicher Haftprüfung hat der Ermittlungsrichter am 28. April 2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

4

Die [X.] hat am 14. Juni 2023 Anklage zum [X.] erhoben. Mit Beschluss vom 31. Juli 2023 hat der mit der Sache befasste Strafsenat unter Anordnung der [X.] das Hauptverfahren eröffnet.

II.

5

Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft und ihre Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.

6

1. Der Angeklagte ist der ihm angelasteten Tat dringend verdächtig.

7

a) Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

8

aa) Die hierarchisch und zentralistisch aufgebaute Gruppierung [X.] verfolgt das Ziel, durch „bewaffneten Kampf“ einen Umsturz der politischen Verhältnisse in der [X.] herbeizuführen und dort eine marxistisch-leninistisch ausgerichtete Gesellschaftsordnung unter ihrer Kontrolle zu schaffen. Sie verübte seit dem [X.] zahlreiche Brand- und Sprengstoffanschläge, die insbesondere gegen Repräsentanten des [X.], Angehörige [X.] Justizbehörden und der [X.], aber auch gegen angebliche „Verräter“ sowie - getreu ihrer Zielsetzung, den „[X.]“ bekämpfen zu wollen - gegen die [X.] Botschaft gerichtet waren.

9

Die [X.] ist außerhalb der [X.] ebenfalls aktiv, vor allem in Westeuropa. Hier bestehen in erster Linie ihrer [X.]führung untergeordnete, nach [X.], Regionen und Gebieten strukturierte Organisationseinheiten, die von Parteifunktionären oder -komitees geleitet werden. Dabei ist [X.] in drei Regionen eingeteilt. Die Aufgabe der innerhalb dieser „Rückfront“ aktiven [X.]personen ist es insbesondere, finanzielle Mittel zu beschaffen und auf diese Weise die terroristischen Anschläge in der [X.] zu unterstützen. Daneben obliegt es ihnen, in [X.] Kämpfer zu rekrutieren, für deren Ausstattung zu sorgen und einen Rückzugsraum für Mitglieder der Gruppierung zu schaffen. Zudem sind sie für den Nachrichtenaustausch zwischen der von Westeuropa aus agierenden [X.]-Führung und den Einheiten in der [X.] zuständig. Bei alledem bedienen sie sich einer äußerst konspirativen Arbeitsweise und bewegen sich in einem klandestinen Netzwerk aus Organisationsmitgliedern und -unterstützern.

bb) Der Angeklagte betätigte sich von Januar 2014 bis zu seiner Festnahme am 9. Februar 2023 als Mitglied des Komitees der [X.] für das Gebiet M.     . Im [X.] 2019 übernahm er in dem Gremium die führende Funktion. In Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Organisation sowie unter Einordnung in deren hierarchische Strukturen übte er für [X.] dieser Hierarchieebene typische Aktivitäten aus. Im Einzelnen:

Der Angeklagte war jedenfalls ab [X.] 2019 faktischer Vorsitzender der „[X.] („M.     Halk Cephesi“), einem informellen Zusammenschluss von Anhängern und Sympathisanten der [X.]. Im Mai 2022 wurde unter seiner Mitwirkung das „H.                      “ („                 “) in M.     als örtlicher Stützpunkt der „Rückfront“ der [X.] eröffnet. Er fungierte als Leiter dieser Einrichtung, organisierte die dortigen Veranstaltungen und kümmerte sich um die Mietzahlungen für das Objekt.

Der Angeklagte hielt im Tatzeitraum Kontakt zu anderen Funktionären; gegenüber übergeordneten [X.]n war er berichtspflichtig. Zudem beteiligte er sich an 148 Versammlungen und anderen Veranstaltungen in [X.], die [X.]-Bezug hatten; vielfach war er nicht nur einfacher Teilnehmer, sondern Versammlungsleiter bzw. Veranstalter, Anmelder und/oder Redner. Darüber hinaus war er mit der Beschaffung von sog. Gefangenengeldern und deren Weiterleitung befasst, überwiegend über einen ausländischen Finanztransferdienstleister in die [X.]. Insgesamt übertrug er Geldbeträge in Höhe von 8.200 €, die im Zusammenhang mit der Betreuung von inhaftierten Angehörigen der [X.] standen. Des Weiteren nahm er an Schulungen teil. So besuchte er vielfach das jährlich stattfindende zweiwöchige Sommercamp der [X.] in [X.], das der Indoktrinierung und Rekrutierung von Mitgliedern sowie der Festigung des inneren Zusammenhalts der Organisation dient. Dabei wurde er selbst als [X.] geschult, führte aber auch - mindestens - einmal selbst Schulungen durch. Ferner war er in den Vertrieb zweier [X.]-Zeitschriften eingebunden. Schließlich beteiligte er sich daran, Nachwuchs für die Organisation zu rekrutieren. Beispielsweise förderte er ein zu diesem Zweck von der Jugendorganisation im Winter 2022/23 durchgeführtes zehntägiges Camp in [X.].

cc) Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und die Anklageschrift verwiesen.

b) Der dringende Verdacht ergibt sich hinsichtlich der [X.] als ausländischer terroristischer [X.] aus den [X.], die in den „Strukturakten“ zusammengetragen sind; überdies trafen in den zurückliegenden Jahren [X.]e wiederholt Feststellungen zur Geschichte, Organisation und Betätigung der [X.] in der [X.] sowie in [X.] als Grundlage rechtskräftiger Verurteilungen wegen Straftaten gemäß §§ 129a, 129b StGB.

Der Angeklagte hat sich bislang nur zu seinen persönlichen Verhältnissen eingelassen. Hinsichtlich seiner mitgliedschaftlichen Beteiligung an der [X.] beruht der dringende Tatverdacht auf den Ergebnissen der Ermittlungen der Kriminalpolizeidirektion He.     . Sie sind im Wesentlichen gewonnen worden durch die Telekommunikationsüberwachung des Mobiltelefonanschlusses des Angeklagten, gegen ihn gerichtete Observationsmaßnahmen, Nachforschungen bei Finanztransferdienstleistern, Recherchen in öffentlich zugänglichen Quellen des [X.], Erhebungen bei [X.] sowie die Auswertung von bei Durchsuchungsmaßnahmen sichergestellten Dokumenten und Datenspeichern. Sie werden gestützt durch die Ermittlungsergebnisse des [X.], die in dem abgeschlossenen Verfahren des [X.] gegen den [X.]verantwortlichen der [X.], den rechtskräftig verurteilten [X.], erzielt worden waren sowie durch gerichtsverwertbare Erkenntnisse des [X.] und des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das in der Anklageschrift dargelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen und den [X.]beschluss des Ermittlungsrichters Bezug genommen.

c) In rechtlicher Hinsicht ist der Angeklagte auf der Grundlage des ihm mit dem [X.] des § 112 Abs. 1 Satz 1 [X.] anzulastenden Sachverhalts der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen [X.] im Ausland nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB dringend verdächtig. Die [X.] stellt nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis insgesamt eine [X.] in diesem Sinne dar (vgl. [X.], Beschluss vom 28. September 2010 - 3 [X.], [X.]R StGB § 129b [X.] 1).

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Verfolgungsermächtigung liegt vor. Das [X.] hat mit Schreiben vom 24. Januar 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener oder künftiger Taten von Mitgliedern der ausländischen terroristischen [X.] [X.] erteilt, wenn die Tat durch eine im räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetzbuches ausgeübte Tätigkeit begangen wird (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 23. Januar 2014 - AK 25/13, juris Rn. 13). Das [X.] und für Verbraucherschutz hat diese Ermächtigung am 3. Juli 2015 dahin neu gefasst, dass sie keine Beschränkung mehr auf im Inland ausgeführte Taten enthält. Somit erstreckt sie sich auf die vom Angeklagten in [X.] und [X.] vorgenommenen Beteiligungshandlungen.

Für die Haftfrage kommt es nicht darauf an, ob die vom Angeklagten über einen ausländischen Finanztransferdienstleister in die [X.] getätigten Überweisungen als Zuwiderhandlungen gegen ein außenwirtschaftsrechtliches Bereitstellungsverbot der [X.] gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a [X.] i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 VO ([X.]) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 2001 sowie den jeweils gültigen unionsrechtlichen Durchführungsverordnungen (s. MüKoStGB/[X.], 4. Aufl., Vor § 17 [X.] Rn. 28) - seit Art. 1 [X.] ([X.]) Nr. 714/2013 vom 25. Juli 2013 und Punkt 2.23 der dort als Anlage angefügten Liste - zu werten sind (vgl. [X.], Urteil vom 29. Juni 2010 - [X.]/09, [X.]. 2010, [X.] Rn. 25, 41 f., 63 ff.; [X.], Urteil vom 29. Juli 2021 - 3 [X.], [X.], 423 Rn. 20).

2. Es liegen die Haftgründe der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 [X.] und der [X.] nach § 112 Abs. 3 [X.] vor.

a) Bei Würdigung der Umstände bestünde, falls der Angeklagte auf freien Fuß gelangte, die Gefahr, dass er sich dem Strafverfahren entzieht.

Im Fall seiner Verurteilung hat er mit Blick auf seine mehr als neun Jahre währende [X.]tätigkeit eine empfindliche, einen hohen Fluchtanreiz begründende Strafe zu erwarten. Dem stehen keine hinreichenden fluchthindernden Faktoren gegenüber. Zwar ist er nicht vorbestraft und hat eine Ehefrau mit drei gemeinsamen minderjährigen Kindern. Jedoch handelt es sich bei seiner Ehefrau nach den Ermittlungsergebnissen zumindest um eine [X.]-Sympathisantin mit Kontakten in höhere Hierarchieebenen. Seinen ältesten Sohn hat er an die [X.] herangeführt; dies wird durch dessen Teilnahme an dem von deren Jugendorganisation in [X.] durchgeführten Camp im Winter 2022/23 belegt. Nach den von den Strafverfolgungsbehörden gewonnenen Erkenntnissen stellt die [X.] eine [X.] dar, die auf strikt [X.] Verhalten ausgerichtet ist, zu dem die Schleusung von [X.]personen und Kämpfern, die Ausstattung von Funktionären und Mitgliedern mit missbräuchlich genutzten oder falschen Ausweispapieren sowie die Unterbringung von im Untergrund agierenden Aktivisten in konspirativen Wohnungen zählt. Es ist anzunehmen, dass der Angeklagte und seine Ehefrau mit großer Wahrscheinlichkeit über geeignete Kontakte und Anlaufstellen verfügen, die ihm im Fall einer Flucht hilfreich sein würden (vgl. zum für die Annahme der Fluchtgefahr maßgebenden [X.] [X.], Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 11).

Ergänzend wird auf den Haftbefehl sowie den [X.]beschluss des Ermittlungsrichters verwiesen.

b) Außerdem kann die gegen den Angeklagten vollzogene Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 [X.] auf den dort geregelten Haftgrund der [X.] gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der jeweiligen Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. [X.], Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; [X.]/[X.], [X.], 66. Aufl., § 112 Rn. 37, jeweils mwN).

3. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 [X.] mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 [X.] analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

4. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 [X.] für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die weitere Vollstreckung des Haftbefehls. Die Ermittlungen sind bislang mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden:

Unmittelbar nach der Festnahme des Angeklagten am 9. Februar 2023 sind Durchsuchungsmaßnahmen gegen ihn vollzogen worden. Die Kriminalpolizeidirektion He.      hat unverzüglich mit der Auswertung der dabei sichergestellten schriftlichen Unterlagen und Augenscheinobjekte begonnen. Da zahlreiche Dokumente in [X.] Sprache verfasst sind, ist es immer wieder erforderlich gewesen, zur Erfassung des Inhalts Dolmetscher hinzuziehen oder Übersetzungsprogramme zu verwenden. Gleichzeitig hat die IT-forensische Abteilung der [X.] die auf ebenfalls sichergestellten elektronischen Speichermedien abgelegten Daten ausgelesen und aufbereitet. Auf dem Mobiltelefon des Angeklagten sind 1.751 Chats, 339 E-Mails, 9.464 Kontakte sowie 10.537 Audio-, 138.899 Bild- und 5.725 Videodateien festgestellt worden. Diese Inhalte sind bis zum 17. Mai 2023 ausgewertet worden.

Nach der Erhebung der Anklage und der Eröffnung des Hauptverfahrens ist nunmehr der Beginn der Hauptverhandlung für den 19. September 2023 mit 33 Fortsetzungsterminen bis zum 30. Januar 2024 vorgesehen.

Wegen näherer Einzelheiten wird auf die Vorlageschriften des Vorsitzenden des [X.]ssenats vom 31. Juli 2023 sowie der Generalstaatsanwaltschaft vom 1. August 2023 Bezug genommen.

5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]).

Schäfer                    Berg                    Anstötz

Meta

AK 53/23

23.08.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.08.2023, Az. AK 53/23 (REWIS RS 2023, 5659)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5659

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