Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.07.2023, Az. 6 StR 275/23

6. Strafsenat | REWIS RS 2023, 4907

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Gegenstand

Täter-Opfer-Ausgleich bei Sexualdelikten: Wiedergutmachungsangebot eines intelligenzgeminderten Täters; Intelligenzminderung als Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 14. Februar 2023 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der [X.] ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s sprach der zur Tatzeit 39 Jahre alte, an dem Klinefelter-Syndrom leidende und erheblich alkoholisierte Angeklagte auf einem Spielplatz die zehnjährige Nebenklägerin an, deren kindliches Alter er erkannte. Er versuchte, sie zu küssen, fasste unter ihrem T-Shirt an ihre Brust und lockte sie in einen angrenzenden [X.]. Dort zog er ihre Leggings und Unterhose herunter und leckte an ihrer Vagina. Als er auch seine Unterhose herunterziehen wollte, hörte er Rufe des Stiefvaters der Nebenklägerin, der diese suchte, und zog daraufhin ihre Hose wieder hoch.

3

Das [X.] hat das Verhalten des Angeklagten als sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB) gewertet. [X.] beraten ist es davon ausgegangen, dass er an einer leichten Intelligenzminderung leide, die im Zusammenhang mit dem Klinefelter-Syndrom stehe und in Verbindung mit dem am Tattag konsumierten Alkohol, der wie ein Katalysator gewirkt habe, zu einer erheblichen Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit geführt habe.

4

1. Während der Schuldspruch keine Rechtsfehler aufweist, unterliegt der Strafausspruch der Aufhebung. Die Begründung, mit der das [X.] das Zustandekommen eines Täter-Opfer-Ausgleichs, der zu einer Strafrahmenverschiebung nach § 46a [X.]. § 49 Abs. 1 StGB hätte führen können, abgelehnt hat, hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand. Die diesbezüglichen Erwägungen des [X.]s erweisen sich in zweifacher Hinsicht als lückenhaft.

5

a) Dies gilt zunächst mit Blick darauf, dass es die vom Angeklagten in der Hauptverhandlung geäußerte Entschuldigung mit der Begründung als unzureichend erachtet hat, er habe diese nicht ausdrücklich an die Nebenklägerin selbst gerichtet und sich auch außerhalb der Hauptverhandlung weder an die Nebenklägerin noch an deren Mutter gewandt.

6

Denn abgesehen davon, dass ein persönlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer nicht zwingend erforderlich (vgl. [X.], Urteil vom 15. Januar 2020 – 2 [X.]) und bei Sexualdelikten aus [X.] vielfach nicht ratsam ist (vgl. [X.], Urteil vom 24. August 2017 – 3 [X.] mwN), hat die [X.] bei ihrer Wertung die Besonderheiten in der Persönlichkeit des Angeklagten – namentlich die von ihr angenommenen massiven Einschränkungen seiner kognitiven Fähigkeiten – nicht hinreichend berücksichtigt. Sie hat nicht erörtert, ob der Angeklagte überhaupt in der Lage war zu erkennen, an [X.] er seine Entschuldigung zu richten hatte und ob er – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme anderer Personen – zur Abfassung eines Briefs an die Nebenklägerin oder deren Mutter imstande war.

7

b) Lückenhaft sind die Erwägungen der [X.] auch insoweit, als sie die Höhe der vom Angeklagten geleisteten Zahlung wegen der zugleich vereinbarten Abgeltungsklausel für unzureichend gehalten hat. Zwar ist sie im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass die Prüfung erforderlich ist, ob die konkret angebotenen Leistungen des [X.] nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle oder immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können (vgl. [X.], Urteil vom 15. Januar 2020 – 2 [X.]; [X.]R StGB § 46a Nr. 1 Ausgleich 13). Sie hätte aber bei ihrer Beurteilung sowohl die eingeschränkten finanziellen Verhältnisse des in einer Behindertenwerkstatt beschäftigten Angeklagten als auch den Umstand, dass es sich um einen Vergleichsabschluss handelte, näher in den Blick nehmen müssen (vgl. [X.], Beschlüsse vom 5. Mai 2021 – 6 StR 200/21; vom 21. Mai 2019 – 1 [X.], NStZ-RR 2019, 305). Es steht der Annahme der Voraussetzungen des § 46a StGB nicht entgegen, dass ein Opfer dem Täter den Täter-Opfer-Ausgleich leicht macht, indem es an das Maß seiner Wiedergutmachungsbemühungen keine hohen Anforderungen stellt und schnell zu einer Versöhnung bereit ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 22. Februar 2001 – 3 StR 41/01, [X.], 457; vom [X.] 2016 – 4 StR 419/16).

8

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand.

9

a) Die Urteilsgründe belegen bereits nicht hinreichend, dass der Angeklagte an einer Intelligenzminderung im Sinne des § 20 StGB leidet.

Unabhängig davon, dass eine Intelligenzschwäche als Krankheitsfolge zur Gruppe der krankhaften seelischen Störungen gehört (vgl. [X.], Beschluss vom 5. September 1996 – 1 [X.], [X.] 1997, 61; Streng in [X.], 4. Aufl., § 20 Rn. 38; [X.] in Satzger/Schluckebier/[X.], StGB, 5. Aufl., § 20 Rn. 70; [X.]/[X.]/Leygraf/[X.], Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2, [X.]; [X.]/[X.]/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl., [X.]) und nur die Intelligenzminderung ohne [X.] diesem Merkmal unterfällt (vgl. zur früheren Gesetzesfassung [X.], Beschluss vom 3. Dezember 2020 – 4 [X.], NStZ-RR 2021, 41, 42), ist ein Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB nicht ausreichend belegt.

Der [X.]e, dessen Wertung die [X.] gefolgt ist, hat sich maßgeblich auf das Ergebnis eines [X.] bei dem Angeklagten durchgeführten Intelligenztests gestützt. Dies allein vermag eine relevante Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht zu begründen. Schon wegen des Zeitablaufs (vgl. BeckOK-StGB/[X.], 57. Edition, § 20 Rn. 45 ff.), aber auch wegen der mit dem Klinefelter-Syndrom verbundenen Entwicklungsverzögerungen und der vom [X.]en benannten leichten Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten hätte es der Erhebung und Mitteilung aktueller und aussagekräftiger Befundtatsachen bedurft. Der Hinweis auf weiterhin vorhandene „massive intellektuelle Defizite“ genügt nicht, zumal nähere Ausführungen dazu fehlen, ob sie bei wertender Betrachtung ein solches Ausmaß erreichen, dass die Annahme eines Eingangsmerkmals des § 20 StGB gerechtfertigt ist (vgl. [X.], Beschluss vom 3. Dezember 2020 – 4 [X.]).

b) Die Gefährlichkeitsprognose begegnet gleichfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Das [X.] hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von dem Angeklagten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

aa) Zwar hat die [X.] in den Blick genommen, dass der Angeklagte vor der [X.] strafrechtlich nicht erheblich in Erscheinung getreten ist. Ihre Einschätzung, dass gleichwohl „ein hohes Risiko für weitere solcher Straftaten“ bestehe, ist indessen nicht tragfähig begründet. Der Hinweis auf die eingeschränkte Fähigkeit, aufsteigenden Impulsen zu widerstehen und diese „ohne Rücksicht auf die Folgen auszuagieren“, ist schon im Hinblick darauf unzulänglich, dass der Angeklagte nur einmal und zudem unter erheblichem Alkoholeinfluss derartig in Erscheinung getreten ist. Hinzu kommt, dass sich das [X.] mit Blick auf die vermeintlich eingeschränkte Fähigkeit des Angeklagten zur Impulskontrolle nicht mit dem Umstand auseinandersetzt, dass er sich während der gesamten bisherigen Dauer seiner einstweiligen Unterbringung „freundlich, zugewandt und kooperativ“ verhalten hat.

bb) Soweit das [X.] auf „niederschwellige sexuelle Verfehlungen im Jahr 2014“ hingewiesen hat, durfte es hieraus im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose keine Schlüsse ziehen, weil es zu diesen Vorfällen keine näheren Feststellungen getroffen hat (vgl. [X.], Beschlüsse vom 11. März 2020 – 4 [X.]; vom 8. September 2020 – 6 [X.]/20).

cc) Auch eine zeitlich erheblich verzögert stattfindende Pubertät des Angeklagten und ein damit [X.] gestiegenes Interesse an Sexualität sind nicht hinreichend belegt und vermögen daher seine Gefährlichkeit nicht zu begründen. Insoweit weisen die Urteilsgründe zudem einen unauflösbaren Widerspruch auf. Während der von der [X.] gehörte [X.]e nur die Hypothese aufgestellt hat, die Entwicklungsverzögerung im psychosozialen Bereich „könne zur Folge haben, dass der Sexualtrieb sich erst jetzt entwickele, so dass der Angeklagte sich im Stadium der Pubertät befinde“, ist die [X.] an anderer Stelle im Urteil davon ausgegangen, der [X.]e habe diese Entwicklungsphase „nachvollziehbar dargelegt“.

3. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung, naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen [X.]en, neuer Verhandlung und Entscheidung.

Feilcke     

      

Wenske     

      

Ri[X.] Fritsche ist urlaubsbedingt
an der Unterschriftsleistung gehindert

      

      

      

      

Feilcke

        

von Schmettau     

        

Arnoldi     

        

Meta

6 StR 275/23

12.07.2023

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Magdeburg, 14. Februar 2023, Az: 22 KLs 19/22

§ 20 StGB, § 21 StGB, § 46a StGB, § 49 Abs 1 StGB, § 176 Abs 1 Nr 1 StGB, § 177 Abs 1 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.07.2023, Az. 6 StR 275/23 (REWIS RS 2023, 4907)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4907

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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4 StR 556/19

4 StR 175/20

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1 StR 178/19

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