Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.02.2024, Az. 10 AZR 177/21

10. Senat | REWIS RS 2024, 1560

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Tenor

1. Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 23. Februar 2021 - 10 Sa 403/20 - aufgehoben.

2. Auf die Berufung des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 5. Februar 2020 - 2 [X.]/19 - abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger

137,11 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2019,

210,78 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. März 2019 und

184,85 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2019 zu zahlen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher [X.].

2

Der Kläger leistete im streitgegenständlichen [X.]raum Nachtarbeit im Rahmen von [X.] bei der [X.], einem Unternehmen aus dem Bereich der [X.]. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, der Fruchtsaftindustrie und der Mineralbrunnen für [X.] und [X.] vom 23. August 2005 (MTV).

3

Der Kläger verrichtete im Dezember 2018 sowie im Januar und März 2019 in der [X.] zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr Nachtarbeit in Wechselschicht, für die er einen Zuschlag in Höhe von 25 % des Stundenentgelts erhielt.

4

Mit seiner Klage begehrt der Kläger - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer [X.] in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Schichtarbeit zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit in Höhe von 50 %.

5

Er hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 5 Nr. 2 Buchst. b [X.]. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge für Nachtarbeit von nur 25 %, für Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am [X.] Leben auch bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr als auch bei Nachtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 25 % für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt. Er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für [X.] der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der [X.] ([X.]) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 [X.] zu messen seien.

6

Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn Nachtzuschläge in Höhe von

        

1.    

137,11 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2019,

        

2.    

210,78 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. März 2019 und

        

3.    

184,85 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2019

        

zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein [X.], weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der [X.] überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten und zu den bezahlten Pausen sowie den Umstand, dass der Zuschlag von 50 % für Nachtarbeit typischerweise Mehrarbeit betreffe und daher den Mehrarbeitszuschlag enthalte. Er solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am [X.] Leben, etwa die [X.], bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das [X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seine Zahlungsansprüche weiter.

9

Der Senat hat das Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der [X.] ([X.]) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] ([X.]) ausgesetzt. Der [X.] hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom 7. Juli 2022 geantwortet (- [X.]/21 und [X.]/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]).

Entscheidungsgründe

Die Revision des [X.] ist begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen [X.]raum entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts für die während der Nachtschichten geleisteten Arbeitsstunden Anspruch auf einen höheren [X.]. Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Klage ist begründet, was der Senat selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).

I. Der Rechtsstreit war nicht in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen der gegen Urteile des Senats zur streitgegenständlichen Thematik eingelegten Verfassungsbeschwerden - die andere Tarifverträge betreffen - auszusetzen (vgl. zur entsprechenden Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde [X.] 10. September 2020 - 6 [X.] (A) - Rn. 42 ff., [X.]E 172, 175).

1. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf (vgl. [X.] 22. März 2023 - 10 [X.] - Rn. 20 mwN; 10. September 2020 - 6 [X.] (A) - Rn. 45 mwN, [X.]E 172, 175).

2. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. [X.]) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.

a) [X.] sind vorliegend - wie die Auslegung der Klageanträge und die Klagebegründung ergeben - Ansprüche des [X.] auf höhere [X.] für die Monate Dezember 2018 sowie Januar und März 2019. Die der [X.] im Juli 2019 zugestellte Klage ist seit über vier Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom 7. Juli 2022 (- [X.]/21 und [X.]/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]) entfallen.

b) Eine weitere Aussetzung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem [X.] würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, dessen Abschluss nicht valide abzuschätzen ist, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen. Mit Blick darauf war dem Interesse des [X.] an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor einem Aussetzungsinteresse der [X.] der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit zurück.

II. Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte hat an den Kläger für den streitgegenständlichen [X.]raum für seine Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Nr. 2 Buchst. b [X.] in Höhe von 50 % des tatsächlichen [X.] abzüglich der geleisteten Zuschläge zu zahlen.

1. Dem Kläger stehen höhere [X.] zu, weil die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge für Nachtarbeit (§ 5 Nr. 2 Buchst. b [X.]) - in der [X.] zwischen 21:00 Uhr und 06:00 Uhr (§ 5 Nr. 1 Buchst. c [X.]) - (im Folgenden sonstige Nachtarbeit) und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr (§ 5 Nr. 2 Buchst. c [X.]) (im Folgenden Nachtschichtarbeit) einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhält. [X.] werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von [X.] leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann nur dadurch genügt werden, dass der Kläger für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Arbeitnehmer, der sonstige Nachtarbeit iSv. § 5 Nr. 2 Buchst. b [X.] leistet, behandelt wird. Daher hat der Kläger ergänzend zu dem gezahlten Zuschlag nach § 5 Nr. 2 Buchst. c [X.] Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % zu seinem jeweiligen Stundenentgelt für die von ihm geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit. Das hat der Senat zu den hier maßgeblichen Tarifnormen bereits entschieden ([X.] 22. März 2023 - 10 [X.] - Rn. 34 ff.). Das Vorbringen im Streitfall entspricht dem Vorbringen in dem bereits entschiedenen Verfahren und führt zu keiner anderen Bewertung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird daher auf die Erwägungen im vorstehenden Urteil verwiesen.

Diese Differenz von 25 Prozentpunkten ist entgegen der Ansicht der [X.] auch nicht - unabhängig von der Frage des fachlichen Geltungsbereichs (§ 1 Nr. 2 Buchst. a oder b [X.]) - um den Anspruch auf Schichtfreizeiten nach § 4 Nr. 2 Satz 1 [X.] zu reduzieren. Denn es handelt sich - was der Senat ebenfalls bereits entschieden hat - nicht um einen spezifischen Ausgleich für Nachtarbeit ([X.] 22. März 2023 - 10 [X.] - Rn. 31).

2. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat zur Folge, dass der Kläger Anspruch auf Zahlung des höheren [X.]s von 50 % des [X.] für die von ihm geleistete streitgegenständliche Nachtarbeit hat. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung kann für die im Streit stehende Vergangenheit nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom 22. März 2023 (- 10 [X.] - Rn. 62 ff.) verwiesen.

3. Der Kläger hat die tarifliche Ausschlussfrist für die geforderten [X.] für die Monate Dezember 2018 sowie Januar und März 2019 gewahrt. Der älteste Anspruch auf [X.] aus Dezember 2018 war Ende Januar 2019 fällig, die Ausschlussfrist begann am 1. Februar 2019 zu laufen. Dem Vortrag des [X.], er habe seine Ansprüche mit Schreiben vom 25. März 2019 und somit innerhalb von drei Monaten geltend gemacht, ist die Beklagte nicht entgegengetreten. Diese Geltendmachung genügt nach § 14 [X.] auch für später entstandene Ansprüche (näher zum Ganzen [X.] 22. März 2023 - 10 [X.] - Rn. 68 ff.).

4. Danach stehen dem Kläger weitere [X.] für die Monate Dezember 2018 sowie Januar und März 2019 in Höhe von insgesamt 532,74 Euro brutto zu. Die Höhe der Zuschläge ist zwischen den Parteien unstreitig und zutreffend berechnet.

5. Nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB schuldet die Beklagte Verzugszinsen, die dem Kläger gemäß § 187 Abs. 1 BGB ab dem Tag nach Eintritt der Fälligkeit zustehen (vgl. [X.] 19. Mai 2021 - 5 [X.] - Rn. 38 mwN). Fällig sind die Ansprüche auf [X.] am Ende des Folgemonats. Zinsen sind damit jeweils nach Ablauf dieses Monats zu zahlen.

III. [X.] folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

        

    [X.]    

        

    Pessinger    

        

    Günther-Gräff    

        

        

        

    Schumann    

        

    Schurkus    

                 

Meta

10 AZR 177/21

21.02.2024

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Oldenburg (Oldenburg), 5. Februar 2020, Az: 2 Ca 307/19, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.02.2024, Az. 10 AZR 177/21 (REWIS RS 2024, 1560)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1560

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