Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.08.2022, Az. 4 StR 215/22

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 9240

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Gegenstand

Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr: Verkehrsspezifische Gefahr durch Steinwürfe


Tenor

Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des [X.] vom 4. April 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Beschuldigten hat Erfolg.

2

1. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

a) Die rechtliche Würdigung der [X.]en durch das [X.] ist teilweise rechtsfehlerhaft. Nach den Urteilsfeststellungen warf die Beschuldigte in fünf Fällen jeweils [X.] gezielt auf fahrende Kraftfahrzeuge, um diese zu beschädigen. In vier dieser Fälle trafen die Steine die Fahrzeuge und beschädigten sie teils erheblich. In einem der Fälle gelangte [X.] durch ein geöffnetes Fahrzeugfenster in das Wageninnere und verfehlte nur knapp den Kopf des Fahrers. Das [X.] hat diese Fälle rechtlich jeweils als vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) in Tateinheit mit Sachbeschädigung (§ 303 StGB) - wobei es in einem Fall jeweils beim Versuch blieb - gewertet. Die Annahme gefährlicher Eingriffe in den Straßenverkehr wird von den Feststellungen indes nicht getragen.

4

Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB setzt den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr und - bei vorsätzlicher Begehung - einen hierauf gerichteten (natürlichen) Tatvorsatz voraus. Erforderlich ist daher in objektiver Hinsicht, dass die eingetretene konkrete Gefahr jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies ist der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten [X.] im Sinne eines „[X.]“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. [X.], Urteil vom 9. Dezember 2021 - 4 StR 167/21, [X.], 298, 299; Beschluss vom 15. März 2017 - 4 StR 53/17 Rn. 5 mwN). Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann aber auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung - wie jedenfalls in den Vollendungsfällen hier - unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht (grundlegend [X.], Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 [X.], [X.]St 48, 119, 124; vgl. ferner [X.], Urteil vom 9. Dezember 2021 - 4 StR 167/21, [X.], 298, 299; Beschluss vom 14. September 2021 - 4 StR 21/21 Rn. 6, je mwN). Die vom [X.] festgestellten Steinwürfe der Beschuldigten erfüllen diese Anforderungen, wie der [X.] in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, nicht. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass der (beabsichtigte) Schadenseintritt auf die für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen war.

5

Schon dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass die [X.] die Anordnung der die Beschuldigte außerordentlich belastenden Maßregel der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt unterlassen oder ihren Vollzug zur Bewährung ausgesetzt hätte, wenn sie den - gewichtigen - Straftatbestand des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in den Fällen [X.]) bis c) der Urteilsgründe nicht bejaht und insoweit lediglich (versuchte) Sachbeschädigungen sowie daneben eine versuchte gefährliche Körperverletzung (Fall II.2.d) der Urteilsgründe) angenommen hätte.

6

b) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf zudem nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der [X.] schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen ([X.], Beschluss vom 15. März 2022 - 4 StR 60/22 mwN). Schließt sich das Gericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit der Einschätzung eines Sachverständigen an, müssen die ihr zugrundeliegenden wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist ([X.], Beschlüsse vom 10. Mai 2022 - 5 StR 74/22; vom 23. Juni 2021 - 4 StR 81/21, je mwN).

7

Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Nach den Feststellungen und Wertungen der sachverständig beratenen [X.] leidet die Beschuldigte unter einer paranoiden Schizophrenie, die sich in Form von „paranoiden Ideen“ und akustischen Halluzinationen zeigt. Daneben liege bei ihr eine Grenzbegabung sowie ein pathologischer Konsum multipler Substanzen vor. Die [X.]en stellten sich im Kontext der seit Jahren bestehenden psychischen Störung als „auf Fehlbeurteilung der Realität beruhende krankheitsbedingte Fehlhandlungen“ dar. Bei Begehung der Taten sei die Einsichtsfähigkeit, jedenfalls aber die Steuerungsfähigkeit der Beschuldigten infolge der Erkrankung aufgehoben gewesen. Nach Ansicht des psychiatrischen Sachverständigen, dem das [X.] gefolgt ist, sei hinsichtlich einer der Taten ([X.]) der Urteilsgründe) deutlich, dass eine akute psychotische Symptomatik vorgelegen habe und diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auch handlungsleitend gewesen sei; dies werde auch durch klinische Epikrisen vom Tattag sowie vom Vortag der Tat belegt, die akut psychotische Symptome beschrieben. Angesichts der Gleichartigkeit der weiteren Vorfälle gelte diese Einschätzung auch für diese. Zudem deuteten auch die eigenen Angaben der Beschuldigten zum jeweiligen Tatgeschehen auf eine akute psychotische Symptomatik hin.

8

Diese Ausführungen belegen bereits die Annahme des [X.]s, dass die Beschuldigte alle [X.]en im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen habe, nicht tragfähig. Die mitgeteilte Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit und macht die konkretisierende Darlegung, auf welche Weise sich die festgestellte psychische Störung bei der Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat, nicht entbehrlich ([X.], Beschluss vom 15. März 2022 - 4 StR 60/22, juris Rn. 9 mwN). An einer solchen Darlegung fehlt es hier jedoch. Die äußerst knappe Wiedergabe der Anknüpfungstatsachen, auf die der psychiatrische Sachverständige seine von der [X.] geteilte Beurteilung gestützt hat, ermöglicht es dem Senat nicht, dieselbe nachzuvollziehen. So bleiben, worauf der [X.] in seiner Antragsschrift zu Recht hingewiesen hat, der Inhalt und die Aussagekraft der vom Sachverständigen herangezogenen Epikrisen ebenso unklar wie die Angaben der Beschuldigten zu dem „jeweiligen Tatgeschehen“, welche allein in Bezug auf eine der Taten - in groben Zügen - wiedergegeben, aber auch insoweit keiner eingehenden Würdigung unterzogen werden.

9

Zudem ist der erforderliche symptomatische Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Beschuldigten und den [X.]en (vgl. [X.], Urteil vom 25. Mai 2022 - 2 StR 257/21 mwN) nicht belegt. Denn nachdem der Sachverständige lediglich angenommen hat, dass die akute psychotische Symptomatik der Beschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit handlungsleitend gewesen sei, hätte es einer beweiswürdigenden Darlegung bedurft, worauf die [X.] ihre darüber hinausgehende sichere Überzeugung stützt, dass der krankhafte Zustand der Beschuldigten wenigstens mitursächlich für ihre Taten gewesen sei. Auch diese Darlegung lassen die Urteilsgründe vermissen.

2. Die vom Verteidiger der Beschuldigten beantragte Aufhebung des Unterbringungsbefehls des [X.] vom 17. September 2021 kommt nicht in Betracht. Die Voraussetzungen einer Entscheidung durch den Senat nach der durch § 126a Abs. 2 Satz 1 StPO angeordneten entsprechenden Anwendung des § 126 Abs. 3 Satz 1 StPO liegen nicht vor, denn aus dem Erfolg der Revision ergibt sich hier nicht ohne weiteres, dass der Unterbringungsbefehl entsprechend § 120 Abs. 1 StPO aufzuheben ist.

Quentin     

        

Bartel     

        

Rommel

        

Maatsch     

        

Messing     

        

Meta

4 StR 215/22

30.08.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 4. April 2022, Az: 534 KLs 1/22

§ 315b Abs 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.08.2022, Az. 4 StR 215/22 (REWIS RS 2022, 9240)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9240

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Zitiert

2 StR 257/21

4 StR 81/21

4 StR 21/21

4 StR 167/21

4 StR 53/17

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