Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.11.2022, Az. 1 StR 228/22

1. Strafsenat | REWIS RS 2022, 7645

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Tenor

1. Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 27. Januar 2022 wird verworfen.

2. Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Bedrohung zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn vom Vorwurf des versuchten Totschlags zum Nachteil des [X.] freigesprochen. Der Nebenkläger wendet sich mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen den [X.]. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

2

1. a) Nach den Feststellungen des [X.]s hielt sich der Angeklagte am 28. Juni 2021 gegen 17.40 Uhr mit Freunden im [X.]in [X.]     auf. Am Nachmittag hatte er in einem Drogeriemarkt einer Kundin eine sich auf das bevorstehende Fußballeuropameisterschaftsspiel zwischen [X.] und [X.] beziehende Bemerkung zugerufen. Die Kundin verstand dies als „Anmache“ und erzählte ihrer Freundin und dem Nebenkläger hiervon. Später begaben sie sich in den [X.] und liefen an dem Angeklagten sowie seinen Freunden vorbei. Der Angeklagte rief ihr erneut etwas zu, vermutlich, dass [X.] gewinnen würde. Darauf entgegnete der Nebenkläger, der Angeklagte möge „sein Maul halten“. Nun lachten der Angeklagte und seine Freunde. Dies fasste der sportliche, 1,77 Meter große Nebenkläger als Provokation auf. Er drehte um und ging zu dem schmächtigen, 1,55 Meter messenden Angeklagten zurück, der sich mit seinen Freunden auf einer Erhöhung mit dort angebrachten Parkbänken aufhielt. Er forderte den Angeklagten auf, zu ihm auf den Fußweg herunterzukommen; dann werde man sehen, wer der Größere und Stärkere von ihnen sei. Der Angeklagte fragte ihn daraufhin, was sein Problem sei, er habe ihm doch nichts getan. Nun stieg der Nebenkläger zu ihm hinauf, legte seine Brille, seine Mütze und sein Mobiltelefon demonstrativ auf die neben dem Angeklagten stehende Parkbank und gab ihm zu verstehen, man könne ja nun klären, wer der Größere und Stärkere sei. Dann stieß er den Angeklagten mit den Händen nach hinten. Ein Freund des Angeklagten versuchte zu schlichten, wurde jedoch von dem Nebenkläger beiseitegestoßen.

3

Daraufhin zückte der Angeklagte sichtbar sein Einhandmesser und hielt es mit der Klinge nach unten in der rechten Hand. Ihm war bewusst, dass der Nebenkläger entschlossen war, ihn zu verprügeln, und hoffte, diesen durch das Ziehen des Messers in die Flucht zu schlagen. Der Nebenkläger kommentierte dies mit den Worten: „[X.]´ doch, wenn du [X.] bist“, zog sein T-Shirt nach oben und verschränkte seine Hände auf dem Rücken. Dann ging er Schritt für Schritt auf den Angeklagten zu. Der Angeklagte wich seinerseits Schritt für Schritt nach hinten zurück. Der Nebenkläger versuchte wiederholt, ihm durch Fußtritte das Messer aus der Hand zu schlagen. Als der Angeklagte nach etwa 20 Metern mit dem Rücken gegen eine Mauer stieß und nicht mehr weiter nach hinten ausweichen konnte, griff der Nebenkläger an die Schulter des Angeklagten. Nun sah der Angeklagte keine andere Möglichkeit, sich aus dem Griff zu lösen und Schlägen auszuweichen, und stach mit dem Messer in [X.] viermal auf den Nebenkläger ein, wobei er aufgrund der Wucht der Stiche und deren Position dessen Tod zumindest billigend in Kauf nahm. Die Wirkung der Treffer setzte erst zeitverzögert ein. Aus Sicht des Angeklagten waren deshalb alle vier Stiche notwendig, weil der Nebenkläger von den ersten Stichen unbeeindruckt schien und den Angeklagten weiter an der Hand festhielt. Nachdem der Nebenkläger die Hand des Angeklagten losgelassen hatte, ergriff der Angeklagte die Flucht.

4

Das Leben des [X.] wurde durch eine Notoperation gerettet; ein Stich in den linken Oberbauch hatte den [X.] durchtrennt und die [X.] eröffnet; ein weiterer Stich in den linken seitlichen Oberkörper hatte die linke Brusthöhle und ein dritter Stich in den rechten mittleren Rücken die rechte Brusthöhle eröffnet.

5

b) Zur Begründung des Freispruchs hat das [X.] ausgeführt, der Angeklagte sei durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen.

6

2. Die auf die Sachrüge veranlasste revisionsrechtliche Prüfung des Freispruchs von dem Vorwurf des versuchten Totschlags zeigt keinen Rechtsfehler auf. Die Erwägungen, mit denen das [X.] eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr (§ 32 StGB) dargelegt hat, begegnen keine Bedenken:

7

Am Bestehen einer Notwehrlage zum Zeitpunkt des Messereinsatzes besteht kein Zweifel.

8

Die geführten Messerstiche waren zur Abwehr des Angriffs erforderlich. Der Angeklagte durfte das Messer zu seiner Verteidigung in der festgestellten Weise einsetzen. Auf einen weniger gefährlichen Messereinsatz, dessen Wirkung zweifelhaft gewesen wäre, brauchte er sich nicht einzulassen.

9

[X.], [X.] des Angeklagten, das zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen könnte, liegt auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen fern. Soweit der Nebenkläger beanstandet, das [X.] habe den Zeitpunkt, zu dem der Nebenkläger den Angeklagten erstmals gestoßen habe, rechtsfehlerhaft, nämlich im Widerspruch zu den im Urteil dargelegten Ergebnissen der Beweisaufnahme, festgestellt, kommt es darauf nicht an. Denn es ist für das Bestehen einer Notwehrlage zum Zeitpunkt der Messerstiche tatsächlich bedeutungslos, ob der Nebenkläger den Angeklagten – deutlich zuvor – vor oder nach Ziehen des Messers geschubst hatte. Der Nebenkläger hatte die Auseinandersetzung begonnen.

Jäger     

  

Fischer     

  

[X.]

  

Leplow     

  

Allgayer     

  

Meta

1 StR 228/22

15.11.2022

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Tübingen, 27. Januar 2022, Az: 3 KLs 55 Js 14747/21 jug

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.11.2022, Az. 1 StR 228/22 (REWIS RS 2022, 7645)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7645

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