BT-Drucksache 18/9856

Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranker Eltern

Vom 29. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9856
18. Wahlperiode 29.09.2016
Antrag
der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Maria Klein-Schmeink,
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, Tabea Rößner, Corinna
Rüffer, Elisabeth Scharfenberg, Ulle Schauws, Kordula Schulz-Asche,
Dr. Harald Terpe, Doris Wagner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In Deutschland leidet jedes Jahr rund ein Drittel der Bevölkerung an mindestens ei-
ner psychischen Störung zu denen auch Suchterkrankungen zählen (DEGS – Studie
zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 2012). Dennoch ist dieses Thema häu-
fig und immer noch tabuisiert. Lediglich Erkrankungen wie Depressionen und Burn-
Out werden in den letzten Jahren verstärkt auch öffentlich erklärt und diskutiert.
Vergessen wird meist, dass viele psychisch kranke Menschen auch Kinder haben,
die, wenn sie im gleichen Haushalt leben, unmittelbar von der Erkrankung der Eltern
betroffen sind. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass jedes vierte Kind,
also ca. drei bis vier Millionen, einen vorübergehend, wiederholt oder dauerhaft psy-
chisch erkrankten Elternteil hat (Lenz & Brockmann, 2013).
Die psychische Erkrankung eines Elternteils und die Krankheitsfolgen haben Aus-
wirkungen auf das gesamte innerfamiliäre System. Viele Familien finden geeignete
Wege, mit den Belastungen umzugehen und negative Folgen für die Kinder zu ver-
meiden. Unterstützend wirken Angehörige, Freunde und andere soziale Netze, die
Sicherheit durch Beziehungskonstanz, Halt und Wertschätzung geben, und Kinder
stärken und helfen ihre schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Trotzdem lei-
den Kinder und Jugendliche oft unter den Auswirkungen. Häufig erfahren sie nicht
nur unzureichende emotionale Unterstützung und Fürsorge, sondern sind auch elter-
lichen Verhalten ausgesetzt, das sich kritisch auf ihre Entwicklung auswirken kann.
Zudem haben die Kinder psychisch kranker Eltern statistisch gesehen je nach Art
der Erkrankung eine drei- bis vierfach höhere Disposition für psychische Erkrankun-
gen. Verantwortlich für dieses erhöhte Risiko ist ein Zusammenspiel aus sozialen
Komponenten, besonders schwierigen Lebens- und Entwicklungsbedingungen so-
wie genetischen Faktoren (Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen
Bundestages, Kommissionsdrucksache, 17.WP, 17/26).
Besonders belastend ist für Kinder, wenn die psychische Erkrankung der Eltern ta-
buisiert wird und dies zu Isolation und Ausgrenzung führt. Hinzu kommen vielfäl-
tige psychosoziale Belastungen, die mit der psychischen Erkrankung von Eltern ver-
bunden sind. Familien mit einem psychisch kranken Elternteil haben häufig finanzi-

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elle Probleme und wenig soziale Unterstützung bzw. kein tragfähiges soziales Netz-
werk. Als Folge können die Kinder unter Desorientierung, sozialem Rückzug, Ängs-
ten und Schuldgefühlen leiden.
Kinder psychisch kranker Eltern sind deshalb ganz besonders auf ein unterstützendes
soziales Umfeld sowie auf fachlich qualifizierte Hilfe und Versorgung angewiesen.
Sie und ihre Familien benötigen gegebenenfalls sowohl alltagspraktische Unterstüt-
zung als auch klinische bzw. psychotherapeutische Versorgung. Ihr Hilfsbedarf um-
fasst ein breites Spektrum, das von niedrigschwelliger und gegebenenfalls punktuel-
ler Unterstützung über familienunterstützende Maßnahmen bis hin zu Interventionen
im Falle von (drohender) Kindeswohlgefährdung reicht.
Lokale Initiativen und ehrenamtliches Engagement sind wichtige Elemente in der
Versorgung psychisch kranker Eltern und ihrer Kinder geworden. Sie können jedoch
keine strukturelle und flächendeckende Versorgung gewährleisten, da sie in der Re-
gel zeitlich, personell, finanziell und regional begrenzt sind. Erprobte Modelle müs-
sen deshalb systematisch in ihrer Wirkung analysiert und dann in die Regelversor-
gung überführt und verstetigt werden. Insbesondere hat sich das Hometreatment be-
währt. Es ermöglicht Hilfe vor Ort, ohne das bestehende Familiengefüge durch sekt-
orale Behandlungs- und Zuständigkeitsgrenzen auseinanderzureißen.
Besonders im Fokus sollte der Ausbau von Präventionsangeboten stehen. Ein früh-
zeitiges Erreichen der Familien zu Beginn der Behandlung der Eltern sowie indivi-
duell ausgerichtete Hilfen unterstützen die Bewältigung der spezifischen familiären
Belastungen, fördern die Entwicklung der Kinder, stärken die psychische Wider-
standsfähigkeit, fördern die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und dabei auf persönli-
che und soziale Ressourcen zurückzugreifen und sichern damit das Kindeswohl. Ent-
wicklungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten können so verhindert oder zumin-
dest abgeschwächt werden.
Weder die Kinder- und Jugend-, noch die Erwachsenenpsychiatrie, noch die ambu-
lanten psychotherapeutischen und psychiatrischen Angebote, noch die Kinder- und
Jugendhilfe können jedoch die nötigen, umfassenden und komplexen Maßnahmen
allein gewährleisten. Familien mit psychisch kranken Eltern benötigen häufig paral-
lel Hilfen aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern. Dies bringt Schnittstellenprob-
leme mit sich.
Bislang kooperieren die verschiedenen Professionen aus unterschiedlichen Syste-
men nicht strukturiert und verbindlich miteinander, um Kinder psychisch kranker
Eltern zu unterstützen. Eine planvolle und abgestimmte Hilfe für die Familien ist
vielmehr von der individuellen Kooperationsbereitschaft und dem Engagement ein-
zelner beteiligter Personen abhängig. Dies gilt es zu überwinden. Den betroffenen
Familien müssen individuell angepasste, bedarfsorientierte, niedrigschwellige Maß-
nahmen und interdisziplinär erarbeitete Lösungsangebote unterbreitet werden.
Sehr häufig sind die Betroffenen aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage, alle
verfügbaren Informationen und Hilfeleistungen selbst anzufordern und einzuholen
und für sich und ihre Kinder nutzbar zu machen. So haben sich auch „Kommstruk-
turen“ in der Praxis nicht bewährt.
Verschiedene Studien und Vereine bestätigen die hohe Aktualität des Themas und
den dringenden Handlungsbedarf. Die Kinderkommission des Deutschen Bundesta-
ges befasste sich bereits Anfang 2013 intensiv mit der Situation von Kindern psy-
chisch kranker Eltern. In ihrer Stellungnahme vom 4. Juni 2013 weist sie ausdrück-
lich auf die Bedeutung einer flächendeckenden Versorgung mit vernetzten Hilfen
hin.
Fachleute und Verbände haben bereits in der Neuköllner Erklärung darauf hingewie-
sen, dass „der Hilfebedarf von Kindern psychisch kranker Eltern vielfältig [ist]
und … ein breites Spektrum von niedrigschwelligen Hilfen bis zu hochschwelligen
und spezifischen Versorgungsangeboten aus unterschiedlichen Leistungssystemen“
umfasst.

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Es gilt nun Lösungsansätze auszuarbeiten um zukünftig eine optimale interdiszipli-
näre Versorgung betroffener Familien zu gewährleisten und die betroffenen Kinder
umfassend und flächendeckend zu unterstützen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine interdisziplinäre, verbändeübergreifende Expertenkommission einzuset-
zen, unter Beteiligung der zuständigen Bundesministerien (BMFSFJ, BMG,
BMAS) und Parlamentarier, die eine Expertise zur Verbesserung der Situation
von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen ein Elternteil psychisch
erkrankt ist, erarbeitet. Dabei soll vor allem der bundesrechtliche Handlungsbe-
darf geklärt werden, um die derzeitige Situation zu verbessern und effektive
multiprofessionelle Hilfen einführen und verstetigen zu können;

2. diese Expertenkommission zu beauftragen, Empfehlungen zu folgenden Eck-
punkten vorzulegen:
a) Der Entwicklung einer verbindlichen interdisziplinäre Kooperations- und

Vernetzungsstruktur der beteiligten professionellen Akteure und Hilfssys-
teme, z. B. Gesundheitswesen, Kindertagesbetreuung, Schule oder Jugend-
hilfe, sowie bundesrechtlicher Regelungen zur Mischfinanzierung von kom-
plexen Hilfebedarfen in Familien mit psychisch kranken Eltern.

b) Der Optimierung von Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern, vor
allem dem SGB II, III, V, VIII, IX und XII, um die gesamte Familie im
Blick zu behalten und alle bereits bestehenden Hilfsangebote möglichst ef-
fektiv und umfänglich ausschöpfen zu können.

c) Der Entwicklung von verbindlichen Standards der Versorgung, um Verant-
wortlichkeiten und Zuständigkeiten in der fallbezogenen interdisziplinären
Zusammenarbeit zu vereinbaren, jedoch immer unter Einbeziehung der Be-
teiligungsrechte von Eltern und Kindern.

d) Positive Erkenntnisse sowie Mängel und Schwachstellen der modellhaften
Kooperationsangebote hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den verbindli-
chen bundesrechtlichen Regelungsbedarf auszuwerten.

e) Dem Potenzial von Präventionsangeboten und den Möglichkeiten der ge-
setzgeberischen Ausgestaltung;

3. eine Aufklärungskampagne zu starten, mit der
a) die Bevölkerung – und psychisch erkrankte Eltern im Besonderen – über

psychische Erkrankungen sowie über Beratungsangebote und Therapie-
möglichkeiten informiert wird sowie der Stigmatisierung psychisch Er-
krankter entgegengewirkt und eine Enttabuisierung in Gang gesetzt wird,

b) bei Fachleuten, Ärztinnen und Ärzten, Lehrerinnen und Lehrern und ande-
ren Gruppen, die mit Kindern psychisch kranker Eltern in Kontakt kommen,
ein Bewusstsein für das Thema und Unterstützungsmöglichkeiten geschaf-
fen wird,

c) Kinder psychisch kranker Eltern explizit angesprochen werden und Materi-
alen entwickelt und verbreitet werden, die diese altersgemäß aufklären;

4. in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von
Kindern und deren psychisch kranken Eltern beteiligt sind, sind verbindliche
Aufklärung und Sensibilisierung für das Thema als festen Bestandteil zu integ-
rieren. Hierzu zählen unter anderem Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen
und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte;

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5. weitere wissenschaftliche Studien in Auftrag zu geben, um spezifische Belas-

tungen und die daraus entstehenden Bedürfnisse von Kindern psychisch kranker
Eltern besser einschätzen und angemessen darauf reagieren zu können.

Berlin, den 15. Dezember 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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