BT-Drucksache 18/9686

Gentherapie bei Wiskott-Aldrich-Syndrom und Wahrnehmung der Aufsichtsfunktion durch das Paul-Ehrlich-Institut

Vom 16. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9686
18. Wahlperiode 16.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Kai Gehring,
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Ulle Schauws, Tabea Rößner,
Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gentherapie bei Wiskott-Aldrich-Syndrom und Wahrnehmung der
Aufsichtsfunktion durch das Paul-Ehrlich-Institut

Im April 2016 berichtete das „SZ-Magazin“ über eine experimentelle Studie
zur Gentherapie bei Kindern mit Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS), die im
Zeitraum von 2006 bis 2009 durch eine Forschergruppe um Prof. Dr. med.
Dr. sci. nat. Christoph Klein an der medizinischen Hochschule Hannover durch-
geführt wurde (SZ-Magazin vom 22. April 2016, „Arzt ohne Grenzen“). Die
Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft e. V. (DFG) und dem
Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Die an der Studie teilnehmenden Kinder, die aus verschiedenen Ländern kamen,
litten unter der lebensgefährlichen genetischen Erkrankung WAS, die standard-
mäßig mit einer Stammzelltransplantation und Chemotherapie behandelt wird. Je
nach Übereinstimmung zwischen Spender und Empfänger hatten die Kinder bei
der herkömmlichen Behandlung eine Überlebenswahrscheinlichkeit zwischen 50
und 95 Prozent.
Im Rahmen der Gentherapie-Studie verwandte die Forschergruppe um Prof. Dr.
Dr. Christoph Klein ein Verfahren, das zum Zeitpunkt der Studie bereits im Ver-
dacht stand, in einigen Fällen Leukämie auszulösen. Dabei schlossen sie auch
solche Kinder in die Studie ein, für die außerhalb der Familie ein passender
Stammzellspender zur Verfügung gestanden hätte.
Insgesamt wurden im Rahmen der Studie zehn Kinder gentherapeutisch behan-
delt; bei einem dieser Kinder wurde die Behandlung abgebrochen. Acht der neun
Kinder, die die vollständige Gentherapie erhielten, erkrankten in den Folgejahren
an Leukämie, drei von ihnen starben.
Da Prof. Dr. Dr. Christoph Klein den Antrag auf Zulassung der Studie nur wenige
Tage vor Inkrafttreten der 12. AMG-Novelle (AMG: Arzneimittelgesetz) bei der
zuständigen Ethikkommission einreichte, galten die dadurch verschärften Vor-
schriften für Klinische Studien für sein Forschungsvorhaben nicht. Mit Inkraft-
treten der 12. AMG-Novelle wurden gentherapeutische Studien unter Genehmi-
gungsvorbehalt des Paul-Ehrlich-Instituts gestellt. Die AMG-Novelle setzte eine
EU-Richtlinie zu Klinischen Prüfungen um; die Umsetzung erfolgte allerdings

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verspätet (die Richtlinie hätte bereits zum 1. Mai 2003, spätestens jedoch zum
1. Mai 2004 in deutsches Recht übernommen werden müssen). Obwohl die Vor-
gaben der 12. AMG-Novelle auf Prof. Dr. Dr. Christoph Kleins Studie nicht an-
wendbar war, gab es in den Folgejahren diverse Kontakte des Instituts mit den
Verantwortlichen der Studie.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Handelte es sich bei der o. g. Studie nach Einschätzung der Bundesregierung

um eine klinische Studie im Sinne des Arzneimittelgesetzes oder um einen
sog. Heilversuch (Antwort bitte begründen)?

2. a) Wie viele der an der o. g. Studie teilnehmenden Kinder sind nach heuti-
gem Stand (5. September 2016) an Blutkrebs erkrankt?

b) Wie viele dieser Kinder erlitten nach heutigem Stand (5. September 2016)
einen Rückfall?

3. Wie viele der an der o. g. Studie teilnehmenden Kinder sind nach heutigem
Stand (5. September 2016) an dieser Erkrankung verstorben?

4. Wie viele der an der o. g. Studie teilnehmenden Kinder erhielten, ohne zu
erkranken, prophylaktisch eine Stammzelltransplantation nebst Chemothera-
pie?

5. Wie hoch waren nach Kenntnis der Bundesregierung zum damaligen Zeit-
punkt (2006 bis 2009) die Überlebenschancen von an WAS erkrankten Kin-
dern
a) bei einer Stammzelltherapie durch Fremdspende mit Übereinstimmung

von zehn Merkmalen,
b) bei einer Stammzelltherapie durch Fremdspende mit Übereinstimmung

von neun Merkmalen?
6. Wurde nach Kenntnis der Bundesregierung für die im Rahmen der Studie

gentherapeutisch behandelten Kinder vorab nach einem geeigneten Fremd-
spender gesucht?
Bei welchen Kindern wurde nicht gesucht, und was waren nach Kenntnis der
Bundesregierung die Gründe dafür?

7. Inwieweit entsprach es nach Kenntnis der Bundesregierung dem damaligen
Stand der medizinischen Forschung, im Rahmen einer experimentellen kli-
nischen Studie auch solche Kinder als Probanden auszuwählen, für die eine
aussichtsreiche Standardtherapie mit hohen Überlebenschancen zur Verfü-
gung stand?

8. a) Wie war nach Kenntnis der Bundesregierung zu Beginn der Studie im Jahr
2006 der Erkenntnisstand über das Leukämierisiko durch den Einsatz sog.
retroviraler Vektoren in vergleichbaren Studien mit autologen, gentech-
nisch veränderten Stammzelltransplantationen?

b) Wie war nach Kenntnis der Bundesregierung im Jahr 2008 der Erkennt-
nisstand über das Leukämierisiko durch den Einsatz sog. retroviraler Vek-
toren in vergleichbaren Studien mit autologen, gentechnisch veränderten
Stammzelltransplantationen?

9. Ab wann befanden sich nach Kenntnis der Bundesregierung Vektoren der
„neuen“ Generation mit geringerem Risikoprofil in der klinischen Erpro-
bung?

10. Wie lauteten nach Kenntnis der Bundesregierung die Voten der Kommission
Somatische Gentherapie vom 27. April 2005 und vom 15. November 2005
zur o. g. Studie, und wie begründete die Kommission ihre Haltung?

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11. Wer war nach Kenntnis der Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt Mit-

glied der Kommission Somatische Gentherapie?
12. In welcher Höhe und über welchen Zeitraum wurde die Studie durch das

Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, und was waren die
Gründe für diese Förderung?

13. Über welche Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten verfügte das Paul-
Ehrlich-Institut im Hinblick auf die Studie?

14. Über welche Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten verfügten nach Kenntnis
der Bundesregierung die zuständigen Landesbehörden im Hinblick auf die
Studie?

15. Welche zusätzlichen Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten hätten für das
Paul-Ehrlich-Institut bestanden, wenn die Studie nach Inkrafttreten der
12. AMG-Novelle beantragt worden wäre?

16. Welche zusätzlichen arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen hätte die Stu-
die erfüllen müssen, wenn sie nach Inkrafttreten der 12. AMG-Novelle be-
antragt worden wäre?

17. Inwieweit wäre die Studie nach diesen verschärften Voraussetzungen geneh-
migungsfähig gewesen (Ansicht bitte begründen)?

18. Inwieweit hätte das Paul-Ehrlich-Institut die Möglichkeit gehabt, die Geneh-
migung der Studie aufgrund einer Veränderung der Nutzen-Risiko-Bewer-
tung nachträglich zu widerrufen, wenn die Studie unter den Vorgaben der
12. AMG-Novelle gefallen wäre?

19. Inwieweit verstieß die o. g. Studie nach Ansicht der Bundesregierung gegen
die Vorgaben der Richtlinie 2001/20/EG zur Angleichung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten
klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Hu-
manarzneimitteln (Einschätzung bitte begründen), und wie verbindlich wa-
ren diese Vorgaben für die Studie?

20. Welche Beratungen, Korrespondenzen, Maßnahmen oder sonstige Kontakte
gab es seit dem Jahr 2004 im Zusammenhang mit der Studie zwischen dem
Paul-Ehrlich-Institut und den Verantwortlichen für die Studie, und was war
deren jeweiliger wesentlicher Inhalt (bitte einzeln auflisten)?

21. a) Trifft es zu, dass das Paul-Ehrlich-Institut im Jahr 2008 eine Neubewer-
tung des Risiko-Nutzen-Verhältnisses für die Studie gefordert hat
(SZ-Magazin vom 22. April 2016), und falls ja, was waren die Gründe
dafür?

b) Falls ja, wie haben die Verantwortlichen der Studie auf diese Forderung
reagiert, und welche Gründe führten sie dafür an?

22. a) Trifft es zu, dass die Verantwortlichen für die Studie im Nachhinein einen
Antrag auf Erweiterung der Studie gestellt haben (SZ-Magazin vom
22. April 2016), und falls ja, was war Gegenstand dieser Erweiterung?

b) Wie wurde diese Erweiterung vom Paul-Ehrlich-Institut bewertet, und auf
welcher Begründung fußte diese Einschätzung?

23. a) Trifft es zu, dass das Paul-Ehrlich-Institut nach Auftreten der ersten Leu-
kämiefälle die prophylaktische Behandlung aller Studienteilnehmer mit
einer konventionellen Stammzelltransplantation einschließlich Chemo-
therapie vorgeschlagen hat (SZ-Magazin vom 22. April 2016), und falls
ja, was waren die Gründe dafür?

b) Falls ja, wie haben die Verantwortlichen der Studie auf diesen Vorschlag
reagiert, und welche Gründe führten sie dafür an?

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24. Wurde das Paul-Ehrlich-Institut von den für die Studie Verantwortlichen

zeitnah über das jeweilige Auftreten von Leukämie bei einzelnen Probanden
informiert?
Falls nicht, in welchen Fällen nicht, und wie hat das Paul-Ehrlich-Institut
dann davon erfahren?

25. a) Inwieweit trifft es zu, dass das Paul-Ehrlich-Institut von dem Tod einzel-
ner Probanden erst durch die Medien erfahren hat (SZ-Magazin vom
22. April 2016), und falls ja, handelt es sich dabei um einen Verstoß gegen
§ 67 Absatz 3 Satz 2 AMG?

b) Falls ein solcher Verstoß vorliegt, welche Maßnahmen hat das Paul-
Ehrlich-Institut daraufhin ergriffen?

26. Gab es seit der Veröffentlichung des Falls durch das „SZ-Magazin“ am
22. April 2016 Kontakte zwischen dem Präsidenten des Paul-Ehrlich-Insti-
tuts, Prof. Dr. Klaus Cichutek, und Prof. Dr. Dr. Christoph Klein als verant-
wortlichem Studienleiter?
Falls ja, welchen Inhalt hatten diese Kontakte?

27. a) Inwieweit stand nach Kenntnis der Bundesregierung für die an der o. g.
Studie teilnehmenden Kindern, die aus dem Ausland kamen, in ihren Hei-
matländern eine konventionelle Stammzelltransplantation zur Verfügung?

b) Falls für einige der Kinder keine solche Therapieoption in ihren Her-
kunftsländern bestand, was waren nach Kenntnis der Bundesregierung die
Gründe dafür (bitte für jedes Kind einzeln aufführen)?

28. Welche Kosten hat die von Prof. Dr. Dr. Christoph Klein mitgegründete Stif-
tung „Care for Rare“ nach Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen der
Studienteilnahme für diese Kinder und ihre Familien übernommen?

29. Hätte die Stiftung diese Kosten nach Kenntnis der Bundesregierung auch ge-
tragen, wenn sich die Eltern gegen eine Teilnahme an der gentherapeutischen
Studie entschieden und für eine konventionelle Stammzelltherapie entschie-
den hätten?

30. Falls es eine Kostenübernahme durch die „Care for Rare“-Stiftung gab, in-
wieweit sieht die Bundesregierung darin einen Verstoß gegen das Verbot der
Vorteilsgewährung nach § 40 Absatz 4 Nummer 5 AMG (Ansicht bitte be-
gründen)?

31. Inwieweit ist das Vorgehen der verantwortlichen Studienleiter im Rahmen
der o. g. Studie nach Einschätzung der Bundesregierung strafrechtlich rele-
vant (Ansicht bitte begründen)?

32. Inwieweit haben sich die verantwortlichen Studienleiter durch ihr Vorgehen
gegenüber den Geschädigten und ihren Familien nach Einschätzung der Bun-
desregierung zivilrechtlich schadensersatzpflichtig gemacht (Ansicht bitte
begründen)?

33. Inwieweit hat sich die Bundesrepublik Deutschland durch die verspätete
Umsetzung der EU-Richtlinie (2001/20/EG) zu klinischen Studien gegen-
über den Geschädigten und ihren Familien schadensersatzpflichtig gemacht
(Ansicht bitte begründen)?

Berlin, den 16. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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