BT-Drucksache 18/9676

Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen

Vom 21. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9676
18. Wahlperiode 21.09.2016
Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
Oliver Krischer, Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Peter Meiwald,
Dr. Julia Verlinden, Harald Ebner, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden),
Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Markus Tressel, Dr. Valerie Wilms
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Weiterbetrieb der Urananreicherungsanlage Urenco in Gronau und der
Brennelementefabrik Advanced Nuclear Fuels GmbH (ANF) in Lingen protegiert die
Bundesregierung trotz beschlossenen Atomausstiegs nicht nur weiterhin Atomkraft im
eigenen Land, sie sorgt auch dafür, dass sich das Atomkarussell weltweit weiterdrehen
kann. In Deutschland selbst verursacht der Betrieb der beiden Atomfabriken den Groß-
teil der besonders gefährlichen Nukleartransporte.
Die in der Atomfabrik ANF hergestellten Brennelemente werden unter anderem in die
belgischen Atomkraftwerke (AKW) Doel und Tihange, in die französischen Atom-
kraftwerke Fessenheim und Cattenom sowie die Schweizer Atomkraftwerke Beznau
und Leibstadt geliefert. Sie sind die wichtigste Zutat für den Betrieb der Anlagen. Da
die genannten Anlagen alle in Grenznähe zu Deutschland stehen, wären Teile der deut-
schen Bevölkerung von einem Super-GAU massiv betroffen. Sowohl die Bundesum-
weltministerin wie auch die Landesregierungen der Bundesländer, die am stärksten
betroffen wären, stufen einzelne dieser Meiler als so sicherheitsgefährdend ein, dass
sie deren Abschaltung gefordert haben. Aktuell liegen Ausfuhrgenehmigungen für die
Atomkraftwerke Doel und Tihange in Belgien vor.
Der Export von Brennelementen aus Deutschland zu diesen Anlagen ist politisch äu-
ßerst widersprüchlich. Nach einem Gutachten im Auftrag der Ärzteorganisation
IPPNW verstößt er sogar gegen geltendes Recht. Dazu wird im Gutachten ausgeführt:
„Im Unterschied zur Anlagenbetriebsgenehmigung nach § 7 Atomgesetz und zur Be-
förderungsgenehmigung nach § 4 Atomgesetz ist im Rahmen der Erteilung einer Aus-
fuhrgenehmigung nach § 3 Atomgesetz nämlich auch und gerade die beabsichtigte
Verwendung der zu exportierenden Brennelemente relevant. Zwingende Genehmi-
gungsvoraussetzung ist es nach § 3 Abs. 3 Nr. 2 Atomgesetz, dass die auszuführenden
Kernbrennstoffe nicht in einer die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland gefährdenden Weise verwendet werden. Dabei werden grundsätzlich alle
aus der „Anwendung von Kernenergie“ resultierenden Risiken erfasst. Eine Beschrän-
kung auf eine militärische Perspektive gibt es nicht. Etwas anderes wäre auch mit den

Drucksache 18/9676 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Zwecksetzungen des § 1 Atomgesetz, an denen § 3 Abs. 3 Nr. 2 Atomgesetz ausge-
richtet ist, nicht vereinbar“ (vgl. Dr. Cornelia Ziehm, 2016: „Anordnung eines Export-
stopps für Brennelemente aus der Brennelementefabrik Lingen in die Atomkraftwerke
Doel (Belgien), Fessenheim und Cattenom (beide Frankreich)“, S. 1).
Dies stimmt mit der Rechtsauffassung des Deutschen Bundestages überein. Der Export
gefertigter Brennelemente und deren Nutzung in den Atomkraftwerken Doel und
Tihange sowie Fessenheim, Cattenom, Beznau und Leibstadt tragen direkt zur Sicher-
heitsgefährdung Deutschlands bei. Weitere Ausfuhrgenehmigungen, die für die grenz-
überschreitende Verbringung der Brennelemente grundlegend sind, dürfen vom dafür
zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle daher nicht mehr erteilt
werden. Eventuell müssen auch bereits erteilte Ausfuhrgenehmigungen widerrufen
werden (zur rechtlichen Zulässigkeit der Nichterteilung und des Widerrufs auf Basis
des geltenden Atomgesetzes siehe ebenfalls Ziehm, a. a. O).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen sofortigen Exportstopp für die Brennelementelieferungen mit aktuellen
Ausfuhrgenehmigungen der ANF Lingen zu den belgischen Atomkraftwerken
Doel und Tihange anzuordnen, da Ausfuhrgenehmigungen für Brennelemente in
diese AKW gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 des Atomgesetzes nicht mehr erteilt werden
dürfen;

2. grundlegend keine Ausfuhrgenehmigungen in die deutsche Sicherheit gefähr-
dende Risiko-AKW wie Doel und Tihange in Belgien, Fessenheim und Cattenom
in Frankreich oder Beznau und Leibstadt in der Schweiz zu erteilen;

3. im Sinne der Vollendung eines konsequenten und glaubwürdigen Ausstiegs aus
der Nutzung der Atomenergie die gesetzlichen Voraussetzungen zur Stilllegung
aller Anlagen des Kernbrennstoffkreislaufs (außer den für die inländische Entsor-
gung erforderlichen) zu schaffen. Dies gilt insbesondere für die Urananreiche-
rungsanlage Urenco in Gronau und die Brennelementefabrik ANF in Lingen (vgl.
auch Bundesratsdrucksachen 147/12 und 390/15).

Berlin, den 20. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9676

Begründung

Die weitere Ausfuhr von Brennelementen in die betreffenden Atomkraftwerke ist aus Sicherheitsgründen zu un-
terlassen und nicht weiter durchzuführen.
Das Atomkraftwerk Cattenom steht in Lothringen, Frankreich und erfüllt wichtige Sicherheitsanforderungen
nicht. So gibt es Defizite bei sicherheitstechnischen Einrichtungen zur Wärmeabfuhr sowie der Notstromversor-
gung. Mehrere sicherheitstechnische Einrichtungen sind nicht unabhängig und voneinander getrennt. Die Anlage
verfügt lediglich über einen unzureichenden Überflutungsschutz, ungenügende Erdbebensicherheit wichtiger Si-
cherheitskomponenten, fehlende Nachweise über die Auswirkungen extremen Schneefalls sowie erhebliche
Zweifel an der Zuverlässigkeit elektrischer Einrichtungen, Kabelführungen, Pumpen und Wasserzuleitungen.
Im elsässischen Fessenheim steht das älteste Atomkraftwerk Frankreichs, gleichzeitig auch eines der gefährlichs-
ten. Das Pannen-AKW liegt nur 1 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Im Erdbebenrisikogebiet Fes-
senheim werden seismische Risiken auf fatale Weise unterschätzt und sicherheitsrelevante Einrichtungen sind
nicht erdbebensicher ausgeführt. Es gibt auch diverse Mängel bei der Zuverlässigkeit der Reaktornachwärmeab-
fuhr und bei der Energieversorgung bei Störfällen. Außerdem genügt die Anlage nicht den nötigen Hochwasser-
anforderungen und ist nur völlig unzureichend gegen Flugzeugabstürze ausgelegt. Prof. Dr. Manfred Mertins hat
im Auftrag der grünen Bundestagsfraktion sowohl für Fessenheim als auch für Cattenom Gutachten erstellt, die
aufzeigen, dass eine ausreichend zuverlässige Störfallbeherrschung in den AKW nicht gegeben ist und beide
umgehend abgeschaltet gehören (vgl. Mertins: „Risiken des grenznahen AKW Fessenheim“, Oktober 2015 und
„Risiken des grenznahen AKW Cattenom“, Februar 2016).
Im Jahr 2012 wurden in den belgischen Atomkraftwerken Doel 3 und Tihange 2 zahlreiche Ultraschallanzeigen
bzw. Risse im Grundmaterial der geschmiedeten Reaktordruckbehälter, dem Herzstück eines Reaktors, festge-
stellt. Hier findet die nukleare Kettenreaktion statt. Die Risse im Reaktordruckbehälter sind ein massives Sicher-
heitsproblem. Nachdem der Betreiber Electrabel SA mehrere Untersuchungen durchgeführt hatte, beschloss die
belgische Atomaufsichtsbehörde, die beiden Anlagen ab Dezember 2015 weiterzubetreiben. Nach Einschätzung
der Experten der Reaktorsicherheitskommission stellen die im Reaktordruckbehälter gefundenen Wasserstoffflo-
cken eine signifikante Abweichung von der geforderten Fertigungsqualität dar. Aus Sicht der AntragstellerInnen
ist der Weiterbetrieb unverantwortlich. Der Reaktor Doel 4 musste im August 2014 wegen Sabotage abgeschaltet
werden. Eine Dampfturbine im nichtnuklearen Teil der Einheit überhitzte und schaltete sich automatisch ab,
nachdem eine oder mehrere Personen ca. 65.000 Liter Turbinenöl hatten auslaufen lassen. Die Ermittlungen der
Staatanwaltschaft laufen immer noch an. Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben wegen der unterlas-
senen Umweltverträglichkeitsprüfungen für die Entscheidung zur Laufzeitverlängerung der Reaktoren Doel 1
und Doel 2 Beschwerde bei der EU-Kommission und beim ESPOO-Sekretariat eingelegt.
Drei Jahre nach den Befunden in Belgien wurden ähnliche Materialschäden auch im dienstältesten AKW der
Welt gefunden: Das Schweizer AKW Beznau liegt nur 8 Kilometer hinter der deutschen Grenze. Bis zum Späth-
erbst will der Betreiber einen Sicherheitsnachweis für Beznau 1 einreichen und den Reaktor Ende des Jahres
wieder hochfahren. Der zweite Reaktor wurde bereits im Dezember 2015 trotz der gefundenen Anzeigen im
Reaktordruckbehälter von der Schweizer Atomaufsicht zum Weiterbetrieb freigegeben. Im Schweizer AKW
Leibstadt, das nur 500 Meter von der deutschen Grenze entfernt ist, wurde erst Anfang dieses Jahres bekannt,
dass 2014 eines der Notstandskühlsysteme für zehn Tage ausgefallen war. Das Vorkommnis, das auf unzu-
reichende Wartung zurückzuführen ist, war bei einer regelmäßigen Überprüfung aufgefallen. Bereits 2014 war
das AKW Leibstadt in den Fokus gerückt, da fahrlässigerweise ein Feuerlöscher in das Primärcontainment des
Reaktors gebohrt wurde.
Es ist für den Deutschen Bundestag nicht nachvollziehbar, dass die Bundesregierung – entgegen eingehenden
anderen rechtlichen Bewertungen (vgl. Ziehm a. a. O.) - davon ausgeht, dass die Bundesrepublik Deutschland
einfachgesetzlich durch das Atomgesetz dazu verpflichtet sein soll, die Lieferung von Brennstoffen an atomare
zivile Anlagen zuzulassen, auch wenn es den fundamentalen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutsch-
land zum Schutz der Bevölkerung, der Umwelt und des Staates widerspricht. Der Deutsche Bundestag geht –
anders als die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 18/9636 – davon aus, dass das Atomgesetz schon
derzeit die Möglichkeit bietet, zum Schutz vor unverhältnismäßigen atomaren Gefährdungen, die von zivilen
atomaren Anlagen (in Nachbarstaaten) ausgehen, beizutragen. Das gilt auch, wenn es sich um die Zulieferung

Drucksache 18/9676 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
für atomare Anlagen handelt, die in europäischen Nachbarstaaten zwar genehmigt sind, bei denen die Bundesre-
gierung aber selbst davon ausgeht, dass sie so gefährlich sind, dass sie vom Netz genommen werden sollten (vgl.
Pressemitteilung BMUB 083/16 vom 20.04.2016).
Will die Bundesregierung auch „weiterhin alle […] rechtlichen Möglichkeiten nutzen, [um] sich für die Interes-
sen der deutschen Bevölkerung auch in Fragen der kerntechnischen Sicherheit einzusetzen“ (Antwort zu den
Fragen 9 und 10 auf Bundestagsdrucksache 18/9636), hält aber entgegen Vorstehendem ihrer Ansicht nach das
gesetzliche Instrumentarium zum Schutz der Bevölkerung, der Umwelt und des Staates auch weiterhin nicht für
ausreichend, wird auf das Recht der Bundesregierung zur Einbringung von Gesetzentwürfen nach Art. 76 Abs. 1
des Grundgesetzes verwiesen. Eine solche Regelungslücke im Atomgesetz, die Ausfuhrgenehmigungen bei ato-
maren Gefahren für Staat, Umwelt und Bevölkerung nicht verhindert, wird auch die Bundesregierung – will sie
alle Möglichkeiten nutzen – für nicht tragbar halten können.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.