BT-Drucksache 18/9566

Reformbedarf in der Krankenversicherung für Selbständige

Vom 6. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9566
18. Wahlperiode 06.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Tabea Rößner, Ulle Schauws,
Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, Doris Wagner,
Beate Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Reformbedarf in der Krankenversicherung für Selbständige

Die Arbeitswelt verändert sich, neue Formen selbständiger Tätigkeit entstehen.
Gerade kreative Berufe bekommen dadurch die Chance für ein selbstbestimmtes
und flexibles Arbeiten. Der Wandel führt aber auch zu Brüchen in der Erwerbs-
biographie vieler Menschen. Die Zeiten selbständiger Tätigkeit und abhängiger
Beschäftigung wechseln häufig, die Grenzen werden fließender (vgl. Bögenhold,
Fachinger: Selbständigkeit im System der Erwerbstätigkeit. In: Sozialer Fort-
schritt 11-12/2012. S. 277 f.).
Zwar geht aktuell die Zahl der Solo-Selbständigen leicht zurück (vgl. DIW Wo-
chenbericht Nr. 36/2015), gleichwohl hält beispielsweise das Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung eine weitere Bedeu-
tungszunahme der Solo-Selbständigkeit für „wahrscheinlich“ (Policy Brief WSI
Nr. 4, 03/2016). Das hat Konsequenzen für die soziale Absicherung insbesondere
von sogenannten Solo-Selbständigen ohne eigene Beschäftigte. Die bestehende
Vorstellung, dass Selbständige nicht des kollektiven Schutzes der Solidargemein-
schaft bedürfen, ist aus Sicht der Fragesteller nicht mehr zeitgemäß. Das betrifft
sowohl die bestehende stark pauschalisierende Beitragsregelung für freiwillig
versicherte Selbständige in der gesetzlichen Krankenversicherung als auch ganz
grundsätzlich die fehlende Versicherungspflicht für Selbständige.
Ergebnisse von aktuellen Untersuchungen sowohl der Bertelsmann Stiftung
(Albrecht et al.: Krankenversicherungspflicht für Beamte und Selbständige. Teil-
bericht Selbständige, Gütersloh 2016) sowie des Wissenschaftlichen Instituts der
AOK (WIdO, Haun, Jacobs: Die Krankenversicherung von Selbständigen: Re-
formbedarf unübersehbar, Berlin 2016) auf Basis von Daten des Sozio-oekono-
mischen Panels (SOEP) zeigen, dass sich ein erheblicher Teil der Selbständigen
in prekären Einkommenssituationen befindet und deswegen eine soziale Absiche-
rung insbesondere im Krankheitsfall benötigt. So sind beispielsweise etwa 10 Pro-
zent der Selbständigen auch unter der Berücksichtigung der Bruttojahresein-
künfte aller Haushaltsmitglieder in einer prekären Einkommenslage (Haun und
Jacobs, a. a. O., S. 28).
Haun und Jacobs kommen daher zu dem Schluss, dass es mit der Arbeitsmarkt-
und Einkommensrealität nicht mehr vereinbar sei, die Krankenversicherungs-
pflicht am Kriterium der Selbständigkeit festzumachen. Um die Solidargemein-
schaft allerdings vor einer Überforderung zu schützen, müssten sich an der soli-
darischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes alle Bürgerinnen und
Bürger entsprechend ihren finanziellen Möglichkeiten beteiligen, so Haun und

Drucksache 18/9566 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Jacobs (ebenda). Die bestehenden Beitragsregelungen für Selbständige in der ge-
setzlichen Krankenversicherung (GKV) würden „der konkreten Situation vieler
Selbständiger“ nicht gerecht werden. Zwar haben die Selbständigen in der priva-
ten Krankenversicherung (PKV) die Möglichkeit, ihren Beitrag zu reduzieren; al-
lerdings nur um den Preis eines schlechteren Versicherungsschutzes und einer
höheren finanziellen Belastung im Krankheitsfall. Das Geschäftsmodell der PKV
sei hingegen schon vom Grundsatz nicht in der Lage, „auf die sich ändernden
individuellen Erwerbs- und Lebenslagen“ der Selbständigen zu reagieren, schrei-
ben Haun und Jacobs. Die Bertelsmann Stiftung schlägt vor diesem Hintergrund
in dem von ihr in Auftrag gegebenen o. g. Gutachten vor, die Versicherungs-
pflicht auf Selbständige auszuweiten und die bestehenden Beitragsregelungen für
Selbständige in der gesetzlichen Krankenversicherung zu modifizieren, indem die
bestehende Mindestbemessungsgrenze deutlich abgesenkt oder ganz angeschafft
wird.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie bewertet die Bundesregierung die genannten Analysen auf Basis von

Daten des Sozio-oekonomischen Panels, wonach sich 10 Prozent der Selb-
ständigen in einer prekären Einkommenssituation befinden?

2. Unterstützt die Bundesregierung die Aussage, dass auch Selbständige im Be-
reich der Krankenversicherung den kollektiven Schutz der Solidargemein-
schaft benötigen?
Wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?
Wenn nein, warum nicht?

3. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass eine generelle Einbezie-
hung von Selbstbeständigen mit Einkommen unterhalb der Versicherungs-
pflichtgrenze in die Versicherungspflicht nach § 5 des Fünften Buches Sozi-
algesetzbuch (SGB V) aus Sicht der Bundesregierung zu einer besseren so-
zialen Absicherung von Selbständigen im Krankheitsfall führt?
Wenn ja, inwieweit wäre dann aus Sicht der Bundesregierung eine Modifi-
zierung der Beitragsbemessungsregelungen für Selbständige notwendig?
Wenn nein, warum nicht?

4. Inwieweit sieht die Bundesregierung unabhängig von der o. g. Ausweitung
des Versichertenkreises der gesetzlichen Krankenversicherung Reformbe-
darf hinsichtlich der Regelungen zur Beitragsbemessung von gesetzlich ver-
sicherten Selbständigen?

5. Wie bewertet die Bundesregierung eine generelle Absenkung der Mindest-
bemessungsgrenze für gesetzlich versicherte Selbständige
a) auf das Niveau der Mindestbemessungsgrenze bei einem Härtefall (aktu-

ell rund 1 452 Euro),
b) auf das Niveau der Mindestbemessungsgrenze nach § 3 Absatz 3 der Ein-

heitlichen Grundsätze zur Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder der
gesetzlichen Krankenversicherung (aktuell rund 968 Euro),

c) auf das Niveau der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro?
6. Wie bewertet die Bundesregierung eine generelle Abschaffung der Mindest-

bemessungsgrenze für Selbständige?
7. Inwieweit ist aus Sicht der Bundesregierung für eine Abschaffung der Min-

destbemessungsgrenze bei der Beitragsbemessung eine generelle Umstel-
lung aller GKV-Versicherten auf das steuerliche Netto- bzw. auf das Brut-
toprinzip notwendig?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9566
8. Wenn dies aus Sicht der Bundesregierung notwendig ist, welche Vorschläge
sind der Bundesregierung bekannt, bei Selbständigen ein sozialversiche-
rungspflichtiges Einkommen zu ermitteln, das dem bei der Beitragsbemes-
sung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugrunde gelegten Brutto-
einkommen vergleichbar ist?

9. Trifft es zu, dass die Bundesregierung (speziell das damalige Bundesminis-
terium für Wirtschaft und Technologie) von 2008 bis 2009 ein Projekt geför-
dert hat, das in einem Gutachten dahingehende Vorschläge unterbreitet hat
(„Entwicklung eines Berechnungsmodells für die Sozialversicherungsbei-
träge von Neugründern und jungen Unternehmern mit geringem Einkom-
men“ – Bearbeitungsnummer: ID4-020815-18/08)?
Wenn ja, von welcher Problemeinschätzung zur sozialen Absicherung von
Selbständigen mit geringen Einkommen ausgehend ist dies geschehen?

10. Wenn die Bundesregierung das Projekt gefördert hat, aus welchen Gründen
hat die Bundesregierung die in dem Projekt erarbeiteten Vorschläge nicht
weiter verfolgt?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung der ASSEKURATA
Assekuranz Rating-Agentur GmbH, wonach die Bezahlbarkeit der Beiträge
in der PKV ein Problem sei, das „vor allem Selbständige und Freiberufler
betrifft“ (vgl. Assekurata, Marktausblick zur privaten Krankenversicherung
2016/2017, S. 6)?

12. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die durchschnittliche Höhe
der Beitragsrückstände bei gesetzlich versicherten Selbständigen (wenn
möglich bitte einzeln für die Jahre 2010 bis 2015 darstellen)?

13. Hat die Bundesregierung inzwischen Kenntnisse über die Gesamtanzahl der
nicht in einem Notlagentarif versicherten Nichtzahler in der PKV (s. Bun-
destagsdrucksache 18/8590)?
Wenn sie hierzu bislang keine Kenntnisse besitzt, wie kann sie dann die Wir-
kungen der Einführung des Notlagentarifs bewerten?

14. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung zum Anteil der Selbständi-
gen an den nicht in einem Notlagentarif versicherten Nichtzahlern in der
PKV?

15. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung zur durchschnittlichen Höhe
der Prämien von Selbständigen in der PKV?

16. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die durchschnittlich ge-
zahlte Versicherungsprämie im so genannten Basistarif der PKV?

17. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die durchschnittlich ge-
zahlte Versicherungsprämie im so genannten Standardtarif der PKV, und
welche Leistungen fehlen hier in der Regel im Vergleich zum Leistungska-
talog der gesetzlichen Krankenversicherung?

Berlin, den 6. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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