BT-Drucksache 18/9503

Entschädigungsrechtliche Anerkennung von "Zwangsgermanisierten" als NS-Opfer

Vom 30. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9503
18. Wahlperiode 30.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Dr. André Hahn, Jan Korte,
Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigungsrechtliche Anerkennung von „Zwangsgermanisierten“
als NS-Opfer

Während der Nazi-Herrschaft wurden Zehntausende von Kindern im besetzten
Europa gewaltsam ihren Eltern weggenommen, sofern sie als „rassebiologisch
wertvoll“ galten. Andere Kinder wurden aus Kinderheimen in den besetzten Län-
dern ins Reichsgebiet gebracht. Ein hoher Prozentsatz der Betroffenen hatte nach
dem Krieg keine Chance mehr, zu den leiblichen Eltern zurückzukehren. Viele
Betroffene haben gar erst im hohen Alter erfahren, dass ihre vermeintlichen
Eltern – in der Regel überzeugte Nazis – lediglich Pflegeeltern waren.
Die Folgen für die damals betroffenen Kinder sind gravierend. Einige von ihnen
wurden von Pflegeeltern oder Betreuungspersonal misshandelt. Insbesondere
jene, die nicht zu ihren leiblichen Eltern zurückkonnten, leiden bis heute unter
dem sprichwörtlichen Raub ihrer Identität. Die Überlebenden berichten über Ver-
lustängste, Schwierigkeiten, dauerhafte Partnerschaften einzugehen, und seeli-
sche Traumata (vgl. z. B. „Blond, blauäugig, entführt“, Deutschlandfunk, 8. Au-
gust 2016, sowie die Ausstellung „geraubte Kinder – vergessene Opfer“,
www.geraubte.de).
Trotz des Unrechts, das diesen Menschen durch die Nazis angetan wurde, sind sie
bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt und haben keine Entschädigung als Ver-
folgte von NS-Unrecht erhalten. Aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller
ist dies geradezu eine weitere Ungerechtigkeit, die ihnen, diesmal von der Bun-
desrepublik Deutschland, angetan wird.
Die Bundesregierung hat im Februar 2013 in ihrer Antwort auf eine Kleine An-
frage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/12433) klargestellt,
dass sie keine spezielle Wiedergutmachungsleistung für Fälle von „Zwangsger-
manisierung“ plane, und darauf verwiesen, die Betroffenen könnten „unter Um-
ständen“ Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz stellen. Dieses Gesetz
dient allerdings im Wesentlichen der Versorgung der Opfer von Kampfhandlun-
gen bzw. Kriegsdienst. Die Entführung der Kinder stellte aber in der Regel keine
militärische Maßnahme dar, sondern beruhte originär auf den rassistischen Ideo-
logien der Nazis.
Anders als die Bundesregierung hat das Land Nordrhein-Westfalen mittlerweile
in wenigstens einem den Fragestellerinnen und Fragestellern bekannten Fall dem
Opfer einer Zwangsgermanisierung eine Entschädigung gewährt. Im den Frage-
stellern vorliegenden Sachbericht des Härtefonds NRW wird ausgeführt, dass der
Betroffene, der mittlerweile 83-jährige Karl Vitovec de Gereben, „sogar mehr als
während seines Berufslebens unter der gefühlten Entwurzelung zu leiden“ habe.

Drucksache 18/9503 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

„Besonders erbost ihn hierbei die aus seiner Sicht mangelnde Gleichberechti-
gung mit anderen Opfergruppen.“ Der Sachbericht empfiehlt die Auszahlung ei-
ner Entschädigung, denn dies stelle „die letzte verbleibende Möglichkeit dar,
auch ihm die Anerkennung als Opfer spezifisch nationalsozialistischen Unrechts
zuteilwerden zu lassen“.
Die Abgeordnete Ulla Jelpke hat dem Bundesministerium der Finanzen diesen
Vorgang per E-Mail am 8. Juli 2016 zukommen lassen. Die Fragestellerinnen und
Fragesteller hoffen, dass auch die Bundesregierung nun zu einer Neubewertung
kommen möge. Es liegt auf der Hand, dass die entführten und zwangsgermani-
sierten Kinder Opfer der NS-Rassenpolitik geworden sind. Sie sollten deswegen
auch als NS-Opfer anerkannt werden und eine Entschädigung erhalten. Das ist
ihnen Deutschland schuldig.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Hat die Bundesregierung die genannte Entscheidung des NRW-Härtefonds

sowie den zugehörigen Sachbericht mittlerweile zur Kenntnis genommen,
und nimmt sie ihn zum Anlass, ihre eigene Haltung bzgl. einer Entschädi-
gung für die betroffene Opfergruppe zu überprüfen (bitte ggf. ausführen und
begründen)?

2. Ist der Hinweis der Bundesregierung auf das Bundesversorgungsgesetz so zu
verstehen, dass sie die Entführungen von Kindern und ihre Zwangsgermani-
sierung als militärische Maßnahme bzw. als unmittelbare Kriegseinwirkung
betrachtet?
Wenn ja, wie ist das in Übereinstimmung zu bringen mit ihrer Einschätzung
als „Ausdruck der rassistischen Volkstumspolitik der Nationalsozialisten“
(Antwort zu Frage 1 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/12433), und ist sie sich darüber im Klaren, dass eine
solche Einschätzung im Widerspruch steht zur Einschätzung als NS-typi-
sches Unrecht (auf die Antwort zu Frage 3 der Kleinen Anfrage auf Bundes-
tagsdrucksache 17/12433 und auf die Tatsache, dass die Bezeichnung seines
Schicksals als „Kriegsfolgenschicksal“ bei dem Betroffenen für große Em-
pörung sorgte, wird verwiesen)?
Wenn nein, wie ist der Hinweis dann gemeint?

3. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Entführungen und Zwangs-
germanisierungen von Kindern als Ausdruck der rassistischen Volkstumspo-
litik der Nazis als NS-Unrecht anzusehen ist, und wenn ja, warum sperrt sie
sich dann dagegen, diese NS-Opfer auch entschädigungsrechtlich als solche
zu behandeln, und wenn nein, warum nicht?

4. Ist sich die Bundesregierung darüber im Klaren, dass die Betroffenen dezi-
diert ihre Anerkennung als NS-Opfer wünschen und einen Verweis auf Leis-
tungen „im Rahmen der allgemeinen Sozialgesetze“ angesichts ihres NS-ty-
pischen Verfolgungsschicksals nicht für angemessen halten, und wenn ja,
welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

5. Ist der Bundesregierung bewusst, dass die Verweigerung einer Entschädi-
gung bei vielen Betroffenen auf Unverständnis stößt und Verbitterung her-
vorruft, und wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9503
6. Was spricht aus Sicht der Bundesregierung dagegen, bestehende Regelungen
zur Entschädigung von NS-Opfern dahingehend zu erweitern, dass auch die
Opfer der „Zwangsgermanisierungen“ darin eingebunden würden, wie zum
Beispiel den sog. Wiedergutmachungs-Dispositions-Fonds oder die Härte-
leistungen zugunsten von Opfern nationalsozialistischer Unrechtsmaßnah-
men (Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes)?
Was spricht gegen die (Neu-)Einführung eines Härtefonds, der jene NS-Ver-
folgten entschädigt, denen bislang Entschädigung verwehrt wird (bitte so-
wohl politische als auch rechtliche Einwände anführen)?

7. Inwiefern hat sich die Bundesregierung seit Beantwortung der Kleinen An-
frage auf Bundestagsdrucksache 17/12433 mit der angesprochenen Thematik
befasst?

8. Hat die Bundesregierung seither aktiv nach weiteren Informationen zum
Schicksal der Betroffenen und ihrem Wunsch nach Anerkennung gesucht
oder solche Informationen entgegengenommen, und wenn ja, welcher Art
waren diese Informationen, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

9. Inwiefern hat die Bundesregierung Forschungen zur Thematik gefördert
bzw. selbst Forschungen in Auftrag gegeben?

10. Inwiefern fördert die Bundesregierung konkrete Maßnahmen zur Erinnerung
an diesen Aspekt der NS-Verbrechen (bitte möglichst konkret entsprechende
Maßnahmen seit dem Januar 2013 aufzählen)?

Berlin, den 30. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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