BT-Drucksache 18/9352

Kriterien der EU-Kommission zur Identifizierung von hormonell wirksamen Stoffen

Vom 4. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9352
18. Wahlperiode 04.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Peter Meiwald,
Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Dr. Julia Verlinden,
Annalena Baerbock, Matthias Gastel, Bärbel Höhn, Oliver Krischer,
Markus Tressel, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kriterien der EU-Kommission zur Identifizierung von hormonell wirksamen Stoffen

Sogenannte endokrine Disruptoren sind hormonell wirksame Stoffe, die in das
empfindliche Hormonsystem eingreifen und so die gesunde Entwicklung von
Menschen und Tieren stören können. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ste-
hen diese Substanzen unter anderem im Zusammenhang mit Unfruchtbarkeit,
Krebs, Diabetes und neurologischen Beeinträchtigungen wie bspw. ADHS (Auf-
merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Vor allem Föten im Mutterleib,
Kleinkinder und Pubertierende sind durch endokrine Disruptoren gefährdet. Syn-
thetisch hergestellte Chemikalien mit hormonähnlicher Wirkung sind u. a. in Pes-
tiziden, Bioziden, Kosmetika, Spielzeug, Kleidung und Verpackungen zu finden.
Die Europäische Kommission hat nach langen Verzögerungen und erst nach einer
Verurteilung durch das Gericht der Europäischen Union (EuG – Urteil vom
16. Dezember 2012, Rechtssache T-521/14, http://curia.europa.eu/jcms/upload/
docs/application/pdf/2015-12/cp150145de.pdf) am 15. Juni 2016 einen Entwurf
für Kriterien zur Identifizierung solcher Stoffe sowie entsprechende Rechtsakte
jeweils für die Biozid- und Pestizid-Verordnung vorgelegt (COM(2016) 350 fi-
nal). Diese Kriterien und deren Ausgestaltung bilden nach Auffassung der Frage-
steller eine wichtige Grundlage für die weitere Regulierung dieser Substanzen.
Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen (vgl. unter anderem www.europarl.
europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2016/586629/EPRS_BRI(2016)586629_EN.pdf,
S. 6, sowie www.pan-germany.org/download/presse/PAN%20Germany-WECF-
PI_KOM-Entwuerfe_EDC-Kriterien_160615_F.pdf), die Regierungen mehrerer
EU-Mitgliedsländer (www.regeringen.se/globalassets/regeringen/dokument/miljo
--och-energidepartementet/pdf/vytenisandriukaitis.pdf) sowie eine Reihe un-
abhängiger Wissenschaftler wie der Präsident der Endokrinologischen Gesell-
schaft (Endocrine Society), Dr. Henry Kronenberg (www.endocrine.org/news-
room/current-press-releases/european-commissions-overreaching-decision-fails-
to-protect-public-health), haben sich kritisch zu dem genannten Entwurf geäu-
ßert.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass mit der Anwendung der vor-

geschlagenen Kriterien Substanzen mit endokrinen Eigenschaften in ausrei-
chend umfassendem Maße regulatorisch erfasst werden und der Schutz von
Gesundheit – vor allem von Schwangeren und Kindern – und Umwelt ge-
währleistet ist, und wenn ja, warum ist dies der Fall?

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2. Stimmt die Bundesregierung mit der Einschätzung der Regierungen von
Frankreich, Dänemark und Schweden überein, dass die vorgeschlagenen Kri-
terien die Identifizierung von endokrinen Disruptoren erst dann ermöglichen,
wenn bereits irreparabler Schaden an der menschlichen Gesundheit und der
Umwelt entstanden ist (vgl. www.regeringen.se/globalassets/regeringen/
dokument/miljo--och-energidepartementet/pdf/vytenisandriukaitis.pdf)?

3. Wie bewertet die Bundesregierung die von der EU-Kommission vorgelegte
Änderung des Texts der Pestizidverordnung 1107/2009/EG zugunsten einer
Risikoabschätzung anstelle der bisher im Pestizidrecht verankerten Vorgabe,
dass endokrin wirkende Substanzen nur dann zugelassen werden dürfen,
wenn ein Kontakt mit Menschen ausgeschlossen ist?

4. Unterstützt die Bundesregierung das Vorhaben der EU-Kommission, den in
der EU-Pestizidverordnung 1107/2009/EG und in der EU-Biozidverordnung
528/2012/EG vorgesehenen Ausschluss von endokrinen Substanzen mit ver-
muteten schädigenden Auswirkungen außer Kraft zu setzen?

5. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass dies die Einfüh-
rung einer extrem hohen Beweislasthürde zur Folge hat und somit Verbote
bzw. Anwendungsausschlüsse oder -beschränkungen verdächtiger Stoffe
massiv erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht werden?

6. Welche Rückschlüsse und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
aus Sicht der Fragesteller bestehenden Widerspruch zwischen den von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Kriterien und der bestehenden Regulie-
rung zur Identifizierung und Einstufung einer Chemikalie als krebserzeu-
gend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsgefährdend, welche auch vermu-
tete Schadwirkungen auf den Menschen einschließt und drei Kategorien um-
fasst?

7. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der im Entwurf der EU-Kom-
mission geforderte definitive Nachweis einer konkreten Schädigung beim
Menschen inklusive Darlegung der genauen Wirkweise (mode of action) als
Voraussetzung für einen Verwendungsausschluss eines endokrinschädlichen
Wirkstoffs mit dem im EU-Recht verankerten Vorsorgeprinzip (entspre-
chend der Mitteilung der Kommission zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprin-
zips vom 2. Februar 2000) vereinbar ist (wenn ja, bitte begründen)?

8. Wie bewertet die Bundesregierung die aus Sicht der Fragesteller bestehenden
wesentlichen Abweichungen des Kommissionsentwurfs von der Definition
der Weltgesundheitsorganisation für endokrine Disruptoren aus dem Jahr
2002, die u. a. keine Nachweisanforderung für schädliche Effekte an Men-
schen voraussetzt, sondern Tierstudien akzeptiert, wie das z. B. auch bei der
Identifizierung krebserzeugender Stoffe der Fall ist?

9. a) Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus den Vorgaben des Kom-
missionsvorschlages, wonach 1. für die Evaluierung eines Stoffes keine
Erkenntnisse zu analogen Substanzen bzw. Stoffkategorien herangezogen
werden sollen und 2. eine bevorzugte Berücksichtigung von Studien nach
Studienprotokollen (GLP-Standard, GLP – Gute Laborpraxis, etc.) vorge-
sehen ist, obwohl diese zum Teil veraltet sind und bestimmte toxikologi-
sche Endpunkte nicht erfassen?

b) Wie bewertet die Bundesregierung die von Wissenschaftlern in einem offe-
nen Brief an Kommissar Vytenis Andriukaitis vom 6. Juli 2016 dargelegte
Kritik einer solchen A-priori-Bevorzugung (vgl. http://policyfromscience.
com/wp-content/uploads/2016/07/Open-Letter-to-Andriukaitis-about-EDC-
Criteria.pdf)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9352

10. Teilt die Bundesregierung die Kritik des renommierten Toxikologen Profes-

sor Dr. Andreas Kortenkamp, wonach der Kommissionsvorschlag keinen
Einheitlichen Bewertungsmaßstab für endokrine Disruptoren darstellt und
damit von Fall zu Fall eine hohe Varianz und Inkonsistenz bezüglich der Re-
gulierungsentscheidungen zu erwarten ist (vgl. www.theguardian.com/
environment/2016/jun/16/new-rules-to-regulate-europes-hormone-disrupting-
chemicals)?
Wenn nein, warum nicht?

11. Teilt die Bundesregierung die Bewertung des juristischen Gutachtens der
Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse Darmstadt, wonach die jetzt
vorgelegten Kommissionsvorschläge nicht mit den in der Pestizid- und Bio-
zidverordnung festgelegten normativen Zielen übereinstimmen (vgl. Schen-
ten, J., Führ, M. (2016), The European Commission Proposals and Legal Re-
quirements Concerning the Determination of Scientific Criteria to Identify
Endocrine Disruptive Properties of Active Substances, sofia-Studien 16-3,
Darmstadt 2016)?
Wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Wenn nein, warum
nicht?

12. Teilt die Bundesregierung die Schlussfolgerung des juristischen Gutachtens
der Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse Darmstadt, wonach die
EU-Kommission mit den vorgelegten Vorschlägen ihr in der Pestizid- und
Biozidverordnung eingeräumtes Mandat für einen „Entwurf der Maßnahmen
in Bezug auf konkrete wissenschaftliche Kriterien zur Bestimmung der en-
dokrinschädlichen Eigenschaften“ überschreitet?
Wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Wenn nein, warum nicht?

13. Teilt die Bundesregierung die Kritik mehrerer Mitglieder des Europäischen
Parlaments, dass die EU-Kommission mit den vorgelegten Kriterien ihr
Mandat überschritten hat, weil die für endokrine Disruptoren geplanten Ab-
weichungen von der EU-Pestizidrichtlinie Eingriffe auf regulativer Ebene
darstellen und weder wissenschaftlich noch technisch begründet sind (vgl.
Brief von fünf Mitgliedern des Europaparlaments an Mitglieder des Standing
Committee on Plants, Animals, Food and Feed, 21. Juni 2016)?
Wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, warum nicht?

14. Teilt die Bundesregierung die Feststellungen des juristischen Gutachtens der
Sonderforschungsgruppe Institutionenanalyse Darmstadt, wonach wissen-
schaftliche Kriterien zur Identifizierung von Substanzen mit endokriner Wir-
kung das Vorsorgeprinzip widerspiegeln müssen sowie ausschließlich auf
Gefahrenidentifizierung basieren dürfen, was expositionsbezogene Ansätze
ausschließt (vgl. Zusammenfassung, S. 4 und 5)?
Wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Wenn nein, warum nicht?

15. Wie hoch ist laut Kenntnis der Bundesregierung die Gesamtzahl der indust-
riell hergestellten Substanzen, die über endokrine Eigenschaften verfügen
oder potentielle endokrine Disruptoren sind?

16. Wie viele endokrin wirkende Substanzen werden nach Einschätzung der
Bundesregierung unter Anwendung des genannten Kommissionsvorschlags
bis einschließlich zum Jahr 2018 voraussichtlich identifiziert werden, weil
sie die Kriterien erfüllen?

Drucksache 18/9352 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

17. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Kriterien der EU-Kommis-

sion zur Identifizierung von endokrinen Disruptoren dem aktuellen wissen-
schaftlichen Kenntnisstand über die negativen Auswirkungen endokriner Dis-
ruptoren auf Mensch und Umwelt gerecht werden (wenn ja, bitte begründen)?

18. Teilt die Bundesregierung die Aussage von EU-Kommissar Vytenis
Andriukaites, dass die „wissenschaftlichen Kriterien, die die Kommission
[…] vorlegt, garantieren, dass das hohe Schutzniveau für die menschliche
Gesundheit und die Umwelt, das in unseren Vorschriften über Pflanzen-
schutzmittel und Biozidprodukte verankert ist, aufrechterhalten wird“, sowie
die Aussage des Kommissionsvizepräsidenten Jyrki Katainen, wonach die
Kriterien dazu beitragen werden, „die Exposition gegenüber endokrinen Dis-
ruptoren zu minimieren“ (vgl. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-
2152_de.htm)?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Folgeauswirkungen der vorgelegten
Kommissionsvorschläge für andere Regelungsbereiche (REACH – Europäi-
sche Chemikalienverordnung –, Wasserrahmenrichtlinie, Kosmetika und
Medizinprodukte) vor dem Hintergrund der Kommissions-Roadmap „Defi-
ning criteria for identifying Endocrine Disruptors in the context of the imple-
mentation of the Plant Protection Product Regulation and Biocidal Products
Regulation“, wonach die Kriterien in der Weise entwickelt werden sollen,
dass sie die „horizontale“ Anwendung in der weiteren Gesetzgebung bezüg-
lich endokriner Disruptoren ermöglichen (vgl. S. 4, http://ec.europa.eu/
smart-regulation/impact/planned_ia/docs/2014_env_009_endocrine_
disruptors_en.pdf)?

20. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die vorgeschlagenen Kriterien
bei Anwendung für kosmetische Mittel ein ausreichendes Schutzniveau errei-
chen, zumal gemäß Artikel 15 der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 nicht nur
CMR-Stoffe (CMR – karzinogen, mutagen, reproduktionstoxisch) der Katego-
rie 1A oder 1B, sondern auch CMR-Stoffe der Kategorie 2 verboten sind (je-
weils mit speziellen Ausnahmeregelungen), die EU-Kommission aber keiner-
lei Kriterien für endokrine Stoffe vorschlägt, die der Kategorie 2 entsprechen?

21. Wann ist mit dem Abschluss der fachlichen Prüfung der Kommissionsvor-
schläge zur Identifizierung von endokrinen Disruptoren durch die Bundesre-
gierung zu rechnen?

22. Welche Bundesministerien, Bundesbehörden sowie bundeseigenen Institute
sind in die fachliche Prüfung des Kommissionsvorschlags (zur Identifizie-
rung von endokrinen Disruptoren) eingebunden?

23. Erwägt die Bundesregierung hinsichtlich der Schlussfolgerung des genann-
ten juristischen Gutachtens der Sonderforschungsgruppe Institutionenana-
lyse Darmstadt, wonach die EU-Kommission bei der Ausgestaltung der Kri-
terien zur Identifizierung von endokrinen Disruptoren ihr Mandat klar über-
schritten hat und die vorgelegten Kriterien dem bestehenden EU-Recht wi-
dersprechen, im Ständigen Ausschuss gegen den Kommissionsvorschlag zu
Pestiziden zu stimmen?
Wenn nein, warum nicht?
Falls die Bundesregierung überstimmt werden sollte, erwägt die Bundesre-
gierung eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof?
Wenn nein, warum nicht?

24. Plant die Bundesregierung eine eigene juristische Prüfung der vorgelegten
Kriterien im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem EU-Vorsorgeprinzip
und anderen Vorgaben des EU-Rechts?
Wenn nein, warum nicht?

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25. Wie viele Gespräche wurden im Zeitraum von 2011 bis 2016 seitens der

Bundesregierung, ihrer Vertreter oder von zuständigen Bundesbehörden mit
Vertretern der Chemieindustrie (einschließlich Akteuren zu deren Interes-
sensvertretung) zur Regulierung von endokrinen Disruptoren und den ent-
sprechenden Auswirkungen auf die EU-Pestizidrichtlinie geführt (bitte in-
klusive Daten, teilnehmender Akteure und Gesprächsthemen auflisten)?

Berlin, den 4. August 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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