BT-Drucksache 18/9342

Hintergründe des parlamentarischen Amtsenthebungsverfahrens in Brasilien

Vom 19. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9342
18. Wahlperiode 19.07.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Sevim Dağdelen,
Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko,
Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Hintergründe des parlamentarischen Amtsenthebungsverfahrens in Brasilien

Am 12. Mai 2016 beschloss der Senat der Republik Brasilien, gegen die demo-
kratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei (PT)
ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten und Dilma Rousseff zunächst für ma-
ximal 180 Tage von ihrem Amt zu suspendieren. Ihr Vizepräsident Michel Temer
von der konservativ-wirtschaftsliberalen Partei Partido do Movimento De-
mocrático Brasileiro (PMDB) übernahm die Regierungsgeschäfte. Dilma Rouss-
eff war am 26. Oktober 2014 in einer Stichwahl mit 51,9 Prozent und 3,5 Millio-
nen Stimmen Vorsprung auf den sozialdemokratischen Kandidaten Aécio Neves
von der Bevölkerung in ihrem Amt bestätigt worden.
Dieses starke demokratische Votum wird durch das Amtsenthebungsverfahren
unterlaufen. Der Entscheidung des Senats gingen eine aggressive Kampagne gro-
ßer Medienkonzerne wie der Globo-Gruppe sowie politische Intrigen voraus, die
zur Spaltung der Regierungskoalition geführt hatten (www.sueddeutsche.de/
medien/brasilien-kampagne-gegen-rousseff-1.2949917?reduced=true). Große De-
monstrationen, an denen v. a. Angehörige der weißen Mittelschichten teilnahmen,
hatten zusätzlich Druck auf die Regierung ausgeübt.
Der Prozess zu ihrem Sturz gründet sich auf konstruierte Vorwürfe zu geschönten
Haushaltszahlen. Dazu erklärt die bisherige Regierungspartei PT „Brasilien be-
findet sich seit dem 12. Mai in einer neuen politischen Lage. Die alte politische
Oligarchie, die Monopolmedien und das Hochfinanzkapital haben die Macht im
Staate zurückerlangt“ (Beschluss der PT Brasiliens vom 17. Mai 2016). Die bis-
herige Staatspräsidentin Dilma Rousseff sagte in einem Interview der deutschen
Wochenzeitschrift DIE ZEIT: „Es war ein Staatsstreich“ und die „Opposition ma-
növriere sich an die Macht und plane eine Politik, für die das Volk bei den jüngs-
ten Wahlen nicht gestimmt hatte“ (DIE ZEIT, 11. Mai 2016). Zahlreiche Regie-
rungen in Lateinamerika verurteilten den Sturz von Dilma Rousseff und erklärten,
dass es Ziel der konservativen Eliten mit „Unterstützung der Medienunterneh-
men“ (DIE ZEIT vom 25. März 2016) sei, eine Wiederwahl des ehemaligen Prä-
sidenten Luiz Inácio Lula da Silva, ebenfalls von der PT, zu verhindern. Da ihm
die größten Chancen eingeräumt werden, als Präsidentschaftskandidat der PT die
Wahlen erneut zu gewinnen, solle er kriminalisiert und zumindest den Forderun-
gen eines Teils der Medien und rechter Parteien nach inhaftiert werden. Und dies
ungeachtet der Tatsache, dass gegen mehr als die Hälfte der Mitglieder des Ab-
geordnetenhauses und des Senats Ermittlungen wegen Käuflichkeit laufen
(www.heise.de/tp/artikel/47/47998/2.html).

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Mitschnitte vertraulicher Gespräche zwischen dem damaligen Planungsminister
Romero Jucá und einem hohen Funktionär des Erdölkonzerns Petrobras deuteten
darauf hin, dass hinter dem Amtsenthebungsverfahren tatsächlich andere Motiva-
tionen standen als vermeintliche Haushaltsfehler der Präsidentin. Demnach ging
es vor allem darum, laufen Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der
PMDB zu unterbinden, indem die Präsidentin aus ihrem Amt entfernt wird
(https://amerika21.de/2016/05/153079/brasilien-putsch-dilma-skandal).
Hinter dem Sturz der gewählten Präsidentin steht eine politische Auseinanderset-
zung und stehen wirtschaftliche Interessen. Politische Unterstützung für den Um-
sturz kommt v. a. aus den Teilen der Gesellschaft, insbesondere der Eliten, die
die Umverteilungspolitik und aktive Armutsbekämpfung der Regierungen da
Silva und Rousseff zugunsten einer stärker angebots- und exportorientierten libe-
ralen Wirtschaftspolitik beenden wollen, dabei in der Bevölkerung aber keine
Mehrheit gefunden haben. Zu den Unterstützern von Dilma Rousseff und Luic
Inácio Lula da Silva gehören nach wie vor v. a. diejenigen Bevölkerungsgruppen,
die von der Umverteilungspolitik profitiert haben: Menschen mit niedrigen oder
ohne Einkommen.
In Brasilien bleibt die innenpolitische Lage daher äußerst angespannt. Das
Land ist polarisiert und hunderttausende Menschen gehen auf die Straße
(https://amerika21.de/2016/05/152737/demonstrationen-gegen-putsch). Ein brei-
tes Bündnis von Basisorganisationen und Gewerkschaften ist auf der Straße und
protestiert gegen die seiner Meinung nach unrechtmäßige Regierung Temer.
Ungeachtet der massiven Kritik in Brasilien selbst und aus den lateinamerikani-
schen Nachbarstaaten hat die Bundesregierung erklärt, mit der neuen brasiliani-
schen Regierung ohne Einschränkungen zusammenarbeiten zu wollen. Die Amts-
enthebung wird als ein mit der brasilianischen Verfassung in Übereinstimmung
stehendes Verfahren angesehen. Diese Auffassung unterstrich Regierungsspre-
cher Steffen Seibert bei der Bundespressekonferenz am 18. Mai 2016 mit den
Worten: „Es ist sogar ein wichtiger strategischer Partner Deutschlands. Es ist das
Land Lateinamerikas. Wir haben sehr enge und sehr vertrauensvolle Beziehungen
mit Brasilien, wirtschaftlich sowieso sehr eng, aber auch politisch.“

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welchen Standpunkt hat die Bundesregierung zu der Amtsenthebung der

brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef eingenommen?
2. Die Bundesregierung spricht von einer Normalität der Beziehungen zu Bra-

silien trotz der Dramatik der Ereignisse. Womit begründet sie diese Haltung?
3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Chancen, dass unter der Führung des

umstrittenen Interimspräsidenten Michel Temer die Untersuchungen wegen
Korruptionsvorwürfen gegen führende Politiker der jetzigen Regierung fort-
geführt werden?

4. Wie viele Minister des neuen Kabinetts Temer stehen nach Kenntnis der
Bundesregierung unter Korruptionsverdacht (bitte mit Namen, Partei und
Vorwürfen aufführen)?

5. Gegen wie viele Abgeordnete des brasilianischen Senats laufen nach Kennt-
nis der Bundesregierung Ermittlungsverfahren wegen Korruption, Verun-
treuung, Bestechung oder vergleichbaren Delikten (bitte mit Namen, Partei
und Vorwürfen aufführen)?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Vorwürfe, dass Michel Temer Agent
der CIA gewesen sei (www.youtube.com/watch?v=cIG9fPmDa28)?

7. Ist dieses Amtsenthebungsverfahren nach Auffassung der Bundesregierung
verfassungskonform?

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8. Wenn ja, womit begründet die Bundesregierung die Verfassungskonformität
dieses Vorganges?

9. Welche Informationen hat die Bundesregierung über die veröffentlichten Te-
lefonmitschnitte, die auf andere Motive zur Anstrengung des Amtsenthe-
bungsverfahrens deuten, als vermeintliche Fehler der Präsidentin?

10. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Inhalten der
veröffentlichten Telefonmitschnitte für die Bewertung der Verfassungskon-
formität des Amtsenthebungsverfahrens?

11. Haben die Bundesregierung bzw. die deutsche Botschaft in Brasilien mit der
bisherigen Regierungspartei PT, die das Amtsenthebungsverfahren als
Staatsstreich bewertet, über die Vorgänge gesprochen?

12. Wenn ja, welche Erkenntnisse und Einschätzungen hat die Bundesregierung
aus diesem Gespräch gewonnen?

13. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über die Versuche der
neuen brasilianischen Regierung vor, den früheren Präsidenten Luic
Inácio Lula da Silva und andere führende Kräfte der Arbeitspartei PT zu
kriminalisieren?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussichten, dass die gewählte Präsi-
dentin Dilma Rousseff nach dem Ende der vorläufigen Suspendierung am
18. September dieses Jahres wieder die Amtsgeschäfte als Präsidentin über-
nimmt?

15. Welche Auswirkungen haben die Ereignisse in Brasilien auf den geplanten
EU-Brasilien-Gipfel?

16. Welche Rolle spielen die Bewertungen anderer lateinamerikanischer Regie-
rungen bei der Einschätzung des Regierungswechsels in Brasilien durch die
Bundesregierung?

17. Mit welchen Regierungen hat sich die Bundesregierung darüber ausgetauscht
und in welchem Rahmen?

18. Beabsichtigt die Bundesregierung, mit der brasilianischen Regierung
über die Fortführung der bisherigen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung
zu sprechen und ihr eine Politik der sozialen Inklusion zu empfehlen?

19. Welche Informationen der Bundesregierung über den Korruptionsvorwurf
der Staatsanwaltschaft von Sao Paulo gegen den früheren Präsidenten Luic
Ignácio Lula da Silva vor?

20. Welche Ergebnisse haben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach
Kenntnis der Bundesregierung bisher erbracht?

21. Die Oppositionspartei PT spricht von einer politisch motivierten Kam-
pagne, um die bekannteste Persönlichkeit der PT auszuschalten (NZZ
vom 6. März 2016). Sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang
zwischen der medialen Kampagne gegen die Präsidentin Dilma Roussef,
den früheren Präsidenten Luic Inácio Lula da Silva und der PT insgesamt
und dem Handeln der Staatsanwaltschaft, die bisher keine Beweise hat
erbringen können, die eine Anklage Luic Inácio Lulas da Silva zuließen?

22. Schließt die Bundesregierung die Möglichkeit einer politisch motivierten
Kampagne der Kriminalisierung der Führungspersönlichkeiten der PT, durch
Staatsanwaltschaft, Medien und Eliten des Landes aus?

23. Wenn ja, bitte Gründe angeben.

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24. Beabsichtigt die Bundesregierung, mit der brasilianischen Regierung über

die Absichten eines Teils der Medien, der rechtsgerichteten Parteien und der
aktuellen Regierung zur Kriminalisierung der PT und Luic Inácio Lulas
da Silva durch die neue rechte Regierung in Brasilien zu reden?

25. Wenn ja, wird sie die Kriminalisierungsabsichten durch Medien, Justiz und
die Eliten des Landes, die damit Brasilien zu destabilisieren drohen, mit aller
Deutlichkeit kritisieren?

Berlin, den 18. Juli 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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