BT-Drucksache 18/9339

Aktuelle asylpolitische Fragen in Bezug auf die Türkei

Vom 3. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9339
18. Wahlperiode 03.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth,
Andrej Hunko, Inge Höger, Kerstin Kassner, Katrin Kunert, Niema Movassat,
Martina Renner, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Aktuelle asylpolitische Fragen in Bezug auf die Türkei

Die Türkei hat seit dem Abschluss des EU-Türkei-Abkommens Mitte März dieses
Jahres eine Schlüsselrolle in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik über-
nommen. Bereits im Vorfeld zum Abkommen ist die Türkei wegen massiver Ver-
stöße gegen das Asylrecht und die Menschenrechte von Flüchtlingen in die
Kritik geraten (www.proasyl.de/news/vor-dem-eu-tuerkei-gipfel-illegale-rueck-
fuehrungen-an-der-syrischen-grenze-sind-bereits-alltag/). Seit dem Inkrafttreten
des Abkommens gab es ebenfalls zahlreiche Berichte von unabhängigen Organi-
sationen zu solchen Rechtsverletzungen und Gewalt gegenüber Flüchtlingen in der
Türkei bzw. im Rahmen der Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens
(vgl. etwa www.huffingtonpost.de/wolfgang-laub/auch-uno-besorgt-tuerkei-
_b_9887198.html). Dazu kommen die Klagen von Menschenrechtsorganisationen
aufgrund fortgesetzter schwerer Menschenrechtsverletzungen im Zusammen-
hang mit dem Krieg in den kurdischen Landesteilen der Türkei (www.stuttgarter-
nachrichten.de/inhalt.human-rights-watch-untersuchung-zu-getoeteten-zivilisten-in-
suedosttuerkei-gefordert.445171d2-17aa-4bae-8833-cc1b29bf61e1.html). Seit
dem Putschversuch in der Nacht zum 16. Juli 2016 hat die AKP-Regierung etwa
50 000 Soldaten, Polizeiangehörige, Justizangestellte und Lehrpersonal festneh-
men oder suspendieren lassen. Für Universitätslehrkräfte sowie Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler wurde eine Ausreisesperre verhängt (www.spiegel.de/
politik/ausland/tuerkei-regierung-verhaengt-ausreiseverbot-fuer-akademiker-a-
1103850.html). Dazu kommen Meldungen über das Lynchen von Wehrpflichti-
gen in der Putschnacht sowie Misshandlungen von unter Putschvorwurf in-
haftierten Armeeangehörigen (www.welt.de/politik/ausland/article157149902/
Video-zeigt-gnadenlose-Demuetigung-von-Putschisten.html; www.fr-online.de/
tuerkei/nach-umsturzversuch-in-tuerkei-mehrere-putschisten-offenbar-gelyncht,
23356680,34509034.html). Zudem wurde auch die politische Debatte um
die Wiedereinführung der Todesstrafe aufgenommen (www.br.de/nachrichten/
eu-aussenminister-tuerkei-100.html).

Drucksache 18/9339 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit hält die Bundesregierung angesichts der aktuellen Ereignisse in der

Türkei weiterhin an ihrer Auffassung fest, die Türkei könne als sicherer Her-
kunftsstaat angesehen werden (vgl. zuletzt Bundestagsdrucksache 18/9128, Ant-
wort zu Frage 14, S. 10, bitte begründen), und ist die Antwort des Staatsekretärs
Stephan Steinlein vom 28. Juli 2016 auf eine entsprechende Schriftliche Frage
des Abgeordneten Andrej Hunko als ein Abrücken von der bisherigen klaren
Zustimmung der Bundesregierung zu dieser Frage zu werten, oder warum wurde
diese Frage nicht mehr wie in der Vergangenheit eindeutig bejaht (bitte ausfüh-
ren)?

2. Falls die Bundesregierung an ihrer Einschätzung festhält, wie ist dies zu
rechtfertigen, angesichts der sich offensichtlich weit über den engen Kreis
der Putschisten generell gegen politische Gegnerinnen und Gegner richten-
den repressiven Reaktion auf den gescheiterten Putsch, angesichts der vom
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in diesem Zusammenhang an-
gekündigten sogenannten Säuberungen und der Debatte um die Wiederein-
führung der Todesstrafe; wie ist dies weiterhin vereinbar z. B. mit der Kritik
des EU-Kommissars Günther Oettinger (AFP vom 19. Juli 2016), es könne
„nicht sein, dass Immunität von Abgeordneten aufgehoben wird, um sie
drangsalieren zu können“, es dürfe nicht sein, dass Journalisten eingeschüch-
tert würden und „es kann nicht sein, dass missliebige Richter zu Tausenden
aus dem Verkehr gezogen werden“?

3. Inwieweit räumt die Bundesregierung ein, dass ihre bisherige Haltung, die
Türkei könne als sicherer Herkunftsstaat angesehen werden, unzutreffend
war, da die Annahme eines sicheren Herkunftsstaates voraussetzt, dass „eine
gewisse Stabilität der allgemeinen politischen Verhältnisse eine hinrei-
chende Kontinuität auch für die Rechtslage und Rechtsanwendung in dem
betreffenden Staat gewährleistet erscheinen lässt“ (BVerfGE 94, 115,
Rn. 83), wovon in Bezug auf die Türkei nach Auffassung der Fragestellerin-
nen und Fragesteller nicht die Rede sein konnte und nicht sein kann, wie
(nicht erst) der gescheiterte Putschversuch und die anschließende Repression
eindeutig zeigen (bitte begründen)?

4. Inwieweit kann die Bundesregierung die für die Einstufung als sicheren Her-
kunftsstaat erforderliche „hinreichende Kontinuität auch für die Rechtslage
und Rechtsanwendung in dem betreffenden Staat“ (BVergGE 94, 115,
Rn. 83) in der Türkei angesichts der Tatsache erkennen, dass bereits wenige
Stunden nach dem gescheiterten Putsch 2 700 Richterinnen und Richter so-
wie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte unter dem Vorwurf der Beteiligung
an dem Staatsstreich vom Dienst suspendiert wurden (www.tagesschau.de/
ausland/tuerkei-festnahmen-109.html)?

5. Wie viele Asylsuchende aus der Türkei wurden bislang im Jahr 2016 im
EASY-System registriert (bitte nach Monaten differenziert auflisten), und
wie waren die entsprechenden Asylentscheidungen im Monatsverlauf (bitte
möglichst nach Monaten differenziert in absoluten und relativen Zahlen die
unterschiedlichen Entscheidungen sowie die bereinigte und die unbereinigte
Schutzquote darstellen)?

6. Welche Angaben lassen sich zum Anteil kurdischer Asylsuchender an allen
Asylsuchenden aus der Türkei machen, sowohl bei der Erstregistrierung bzw.
Befragung, bei der Asylantragstellung und bei den Entscheidungen (im Jahr
2015 und in den einzelnen Monaten des Jahres 2016, bitte auch die jeweili-
gen bereinigten und unbereinigten Schutzquoten darstellen), und welche An-
gaben lassen sich zu vorgebrachten Gründen der Asylsuchenden aus der Tür-
kei machen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9339
 

7. Ist der Bundesregierung bekannt, ob sich unter Asylsuchenden aus der Tür-
kei auch Anhängerinnen und Anhänger der Gülen-Bewegung befinden?

8. Inwieweit kann die Bundesregierung in der Türkei eine politische Verfol-
gung von Anhängerinnen und Anhängern der Gülen-Bewegung erkennen?

9. Wird die Türkei nach der Einschätzung der Bundesregierung ihre Antiterr-
orgesetzgebung und datenschutzrechtliche Vorschriften in dem von der Eu-
ropäischen Union geforderten Sinne ändern, und welche Konsequenzen wird
dies in Hinblick auf die im Rahmen der EU-Türkei-Vereinbarung nur unter
der Bedingung einer solchen Änderung in Aussicht gestellten Visabefreiun-
gen haben?

10. Welche Strategie und welche konkreten Vorschläge verfolgt nach Kenntnis
der Bundesregierung die EU-Kommission, um bei der Auseinandersetzung
mit der Türkei um die Änderung der Antiterrorgesetzgebung zu einer Eini-
gung zu kommen, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
daraus?

11. Welche Schlussfolgerung zieht die Bundesregierung aus den Entscheidun-
gen der griechischen Asyl-Berufungskommissionen, die in den meisten
Einzelfallprüfungen bei syrischen Flüchtlingen zu dem Ergebnis gekom-
men sind, die Türkei könne nicht als sicherer Drittstaat angesehen wer-
den – was ja auch schon das Ergebnis einer Ausarbeitung des Wissenschaft-
lichen Dienstes des Deutschen Bundestages (PE 6 – 3000 – 30/16; siehe:
www.tagesschau.de/inland/marine-einsatz-bundestag-101.html) und die
Kritik unabhängiger Menschenrechtsorganisationen war (www.proasyl.de/
pressemitteilung/pro-asyl-lehnt-zurueckweisungen-von-schutzsuchenden-
von-griechenland-in-die-tuerkei-ab/)?

12. Welche anderen EU-Mitgliedstaaten haben auf dem Treffen des Rates der
Innen- und Justizminister der EU am 7./8. Juli 2016 in Bratislava das von
deutscher Seite vorgebrachte Anliegen unterstützt, die „Methode Türkei“
(Bundesminister des Innern Dr. Thomas de Maizière) auf Libyen und andere
nordafrikanische Länder zu übertragen (vgl. www.tagesschau.de/ausland/
fluechtlinge-eu-129.html und http://derstandard.at/2000040587480/EU-
Innenminister-beraten-ueber-Grenzsicherung-und-Asylreform), und wie ist
nach Kenntnis der Bundesregierung die Haltung der EU-Kommission
hierzu?

13. Wie sollen konkret „sichere Lager“ (Bundesminister des Innern Dr. Thomas
de Maizière, http://derstandard.at/2000040587480/EU-Innenminister-beraten-
ueber-Grenzsicherung-und-Asylreform) in Libyen oder anderen nordafrikani-
schen Ländern beschaffen sein, wer soll diese Lager betreiben und sichern,
wer soll Asylanträge unter welchen rechtlichen und tatsächlichen Bedingun-
gen bearbeiten, welche effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten werden beste-
hen und sollen alle in solchen Lagern anerkannte Flüchtlinge in die EU über-
nommen werden (bitte zu allen Unterpunkten differenziert antworten)?

14. Inwieweit haben die Bundesregierung oder nach deren Kenntnis der Juristi-
sche Dienst des Rates oder die EU-Kommission geprüft, ob eine solche Ko-
operation mit Libyen oder anderen nordafrikanischen Staaten mit internatio-
nalem Flüchtlingsrecht und mit EU-Asylrecht vereinbar wäre (bitte darlegen
und begründen, warum die Bundesregierung trotz des „Hirsi-Urteils“ des Eu-
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. Februar 2012 der Auf-
fassung ist, dass Zurückweisungen von Schutzsuchenden auf Hoher See ohne
faire Einzelfallprüfung und ohne effektiven Rechtsschutz in ein Land wie
Libyen mit internationalem und EU-Recht und insbesondere mit dem refou-
lement-Verbot und dem Verbot von Kollektivausweisungen vereinbar
wäre)?

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15. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Stellung-
nahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom 20. Juni 2016 „Die
EU-Türkei-Vereinbarung vom 18. März 2016: Umsetzung und Konsequen-
zen aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Perspektive“ mit „Empfehlun-
gen an die Bundesregierung“, und wie steht sie insbesondere zu folgenden
Schlussfolgerungen bzw. Handlungsempfehlungen (a. a. O., S. 23 ff., bitte
auf alle Unterfragen gesondert antworten):
a) Die EU-Türkei-Vereinbarung stelle einen „fundamentalen Einschnitt in

der Europäischen Asylpolitik dar“, weil die EU „erstmalig ausdrücklich
das Ziel [verfolge], die Verantwortung für in der EU Schutz suchende
Menschen weitreichend auf einen Drittstaat abzuschieben“?

b) Die Vereinbarung sei mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Ver-
einbarungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten nicht vereinbar?

c) Die Gesamtumstände der Unterbringungs- bzw. Haftbedingungen in den
„Hot Spots“ auf den griechischen Inseln könnten eine verbotene un-
menschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen?

d) Die Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat sei „nicht haltbar“?
e) So genannte push-backs, gleich durch welche Akteure (EU, Mitgliedstaa-

ten, FRONTEX, NATO), seien unzulässig (vgl. Hirsi-Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte)?

f) Die Schließung der „Balkanroute“ sei ein „sehr unsolidarischer Akt“, um
das „unsolidarische Dublin-System auf Kosten Griechenlands zu erzwin-
gen“, was die Lage der Flüchtlinge in Griechenland, das angesichts der
extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation nur begrenzte Aufnahme-
kapazitäten habe, grundsätzlich verschlechtert habe?

g) Die Türkei, aber auch Jordanien und der Libanon, sollten durch entspre-
chende Aufnahmeprogramme („Resettlement“) effektiv entlastet werden.
In welcher Größenordnung müssten nach Ansicht der Bundesregierung
aus den genannten Ländern Flüchtlinge in die EU übernommen werden,
um von einer effektiven Entlastung mit entsprechender Wirkung reden zu
können?

h) Die Aufnahme nach Deutschland müsse aufgestockt werden; die Bot-
schaften müssten in die Lage versetzt werden, den Familiennachzug zu in
Deutschland anerkannten Flüchtlingen zu gewährleisten; in Griechenland
festsitzende Verwandte müssten ein Visum zur Weiterreise nach Deutsch-
land erhalten?

Berlin, den 3. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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