BT-Drucksache 18/9338

Aktuelle asylpolitische Fragen in Bezug auf Ungarn

Vom 3. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9338
18. Wahlperiode 03.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Martina Renner, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Aktuelle asylpolitische Fragen in Bezug auf Ungarn

In der Vergangenheit ist Ungarn wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen immer
wieder in die Kritik geraten (www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-urteilt-
fluechtlinge-im-schnellverfahren-ab-a-1055892.html). Am 5. Juli 2016 entschied
nun der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH), dass ein syrischer
Flüchtling wegen drohender unmenschlicher Behandlung in Ungarn nicht dorthin
zurücküberstellt werden darf. Im konkreten Fall hatte ein heute 28-Jähriger
aus Syrien dagegen geklagt, auf der Grundlage der Dublin-Verordnung der Euro-
päischen Union von Deutschland nach Ungarn überstellt zu werden. Der VGH
stellte in seinem Urteil (Az.: A 11 S 974/16) klar, dass das ungarische Abschie-
behaftsystem bereits im Jahr 2014 stark mangelhaft gewesen sei und es keinen
effektiven Rechtsschutz gegen eine willkürliche Inhaftierung gegeben habe
(www.focus.de/regional/mannheim/urteile-gericht-asylverfahren-in-ungarn-
unzumutbar_id_5739693.html).
Aktuell berichten Flüchtlinge vermehrt, in Ungarn aufgegriffen, verprügelt und
nach Serbien zurückgeschickt worden zu sein. Ein Anfang Juli 2016 in Ungarn in
Kraft getretenes neues Gesetz erlaubt es den ungarischen Behörden, Flüchtlinge,
die bis zu 8 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt aufgegriffen werden,
wieder in Transitzonen an den serbisch-ungarischen Grenzübergängen zurückzu-
schieben. Diese Personen gelten für die ungarischen Behörden als nicht einge-
reist, da sich die Transitzonen auf serbischem Gebiet befinden. Dieser Umgang
mit Schutzsuchenden wird von Menschenrechtsorganisationen als illegale soge-
nannte „Push Backs“ und damit als Verstoß gegen das Völkerrecht kritisiert
(http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/5048367/Ungarn-misshandelt-
offenbar-Fluchtlinge-und-schiebt-sie-ab).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass Ungarn

für den 2. Oktober 2016 ein Referendum angesetzt hat zu der Frage: „Wollen
Sie, dass die Europäische Union auch ohne Konsultierung des (ungarischen)
Parlaments die Einwanderung nichtungarischer Staatsbürger nach Ungarn
vorschreibt?“ (vgl. DIE WELT vom 5. Juli 2016)?

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2. Welche Schlussfolgerungen ziehen nach Kenntnis der Bundesregierung an-
dere Mitgliedstaaten der EU und die EU-Kommission aus diesem Vorgehen
der ungarischen Regierung, mit dem unter anderem ein verbindlicher Be-
schluss der Europäischen Union zur Umverteilung von Schutzsuchenden aus
den Ländern Griechenland und Italien (ursprünglich war auch Ungarn als
begünstigtes Land vorgesehen) durch eine nationale Volksbefragung in
Zweifel gezogen wird – wie wird in den Ratsgremien über diesen Vorgang
debattiert?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass in Un-
garn Asylregelungen in Kraft getreten sind (vgl. z. B. FAZ vom 11. Juli
2016: „Die Umgehung des Grenzzauns“), wonach Schutzsuchende ohne Ge-
richtsverfahren nach Serbien und Kroatien zurückgeschickt werden können,
sie ihr Asylbegehren an der ungarischen Grenze in sogenannten „Transitzo-
nen“ stellen und dort (unter Bedingungen der faktischen Haft) „beweisen“
sollen, dass ihr Asylgesuch in Serbien nicht bearbeitet wird?
Stehen diese Regelungen nach Auffassung der Bundesregierung im Einklang
mit EU-Recht, und welche genaueren Informationen hat die Bundesregie-
rung zu den in Ungarn beschlossenen Regelungen?

4. Wie werden die in Ungarn neu beschlossenen Asylregelungen nach Kenntnis
der Bundesregierung in den EU-Gremien debattiert und bewertet, wie rea-
giert die EU-Kommission auf diese Maßnahmen, deren Vereinbarkeit mit
internationalem und EU-Recht von diversen Seiten kritisch hinterfragt wird
(die serbische Regierung hält das ungarische Gesetz für „völkerrechtswid-
rig“, ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zeigte sich be-
sorgt, dass das Völkerrecht verletzt und die Menschenrechte von Migranten
nicht geachtet werden könnten; FAZ vom 11. Juli 2016: „Die Umgehung des
Grenzzauns“)?

5. Welche Schlussfolgerung zieht die Bundesregierung aus den vom Förderver-
ein PRO ASYL e. V. und von bordermonitoring.eu vorgelegten Bericht über
systemische Mängel des Asylsystems in Ungarn („Gänzlich unerwünscht:
Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn“;
www.proasyl.de/news/fluechtlinge-gaenzlich-unerwuenscht-neuer-bericht-
zur-situation-in-ungarn), insbesondere auch im Hinblick auf rücküberstellte
Schutzsuchende, und welche konkreten Konsequenzen zieht sie hieraus, vor
allem für die Überstellungspraxis nach Ungarn?
Welche Schlussfolgerungen zieht sie insbesondere aus den folgenden in dem
Bericht enthaltenen Aussagen (bitte auf alle Unterpunkte getrennt eingehen):
a) in Ungarn gebe es keinen politischen Willen, Asylsuchenden ein faires

Verfahren zu ermöglichen, diese seien vielmehr – selbst als anerkannte
Flüchtlinge – unerwünscht;

b) nahezu alle Asylanträge würden quasi automatisch als „unzulässig“ ein-
gestuft mit dem Argument, Serbien sei ein „sicherer Drittstaat“, was aber
im Widerspruch zur Beurteilung durch den UNHCR stehe;

c) es gebe eine „Strategie der Vertreibung“, indem Asylsuchende, die sich
nicht in Haft befänden, in zwei Zeltcamps untergebracht würden, und in-
dem sämtliche Integrationsbeihilfen für anerkannte Flüchtlinge gestrichen
würden;

d) auch besonders schutzbedürftige Asylsuchende würden inhaftiert ohne ef-
fektive gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9338
 

6. Wie haben die Bundesregierung und nach ihrer Kenntnis andere EU-Mit-
gliedstaaten sowie die EU-Kommission auf den Bericht von Human
Rights Watch vom 13. Juli 2016 (www.hrw.org/de/news/2016/07/13/
ungarn-migranten-grenze-misshandelt) reagiert, wonach Migranten an der
ungarischen Grenze misshandelt und teilweise mit brutaler Gewalt gezwun-
gen würden, ohne Prüfung ihres Schutzgesuchs nach Serbien zurückzukeh-
ren (auch Frauen und Kinder würden geschlagen, gefangene Migranten seien
zwei Stunden lang geschlagen worden, absichtlich seien ihnen schwere Ver-
letzungen zugefügt worden, man habe Hunde auf Migranten gehetzt usw.)?

7. Wie nehmen die Bundesregierung und nach ihrer Kenntnis andere EU-Mit-
gliedstaaten sowie die EU-Kommission Einfluss auf die ungarische Regie-
rung, um diese auf einen fairen und menschlichen Umgang mit Schutzsu-
chenden und Flüchtlingen zu verpflichten (bitte konkret darlegen), und wie
ist der aktuelle Stand der von der EU-Kommission eingeleiteten Vertrags-
verletzungsverfahren gegen Ungarn (bitte einzeln auflisten)?

8. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des
VGH Mannheim vom 5. Juli 2016, mit dem eine Überstellung eines allein-
stehenden Asylsuchenden nach Ungarn wegen systematischer Mängel im
Asylsystem (insbesondere wegen drohender willkürlicher Inhaftierung und
unmenschlicher Behandlung), und welche Schlussfolgerungen zieht die Bun-
desregierung daraus, dass im Jahr 2015 nahezu die Hälfte aller Rechtsschut-
zersuchen gegen eine Überstellung nach Ungarn erfolgreich war (47,3 Pro-
zent, vgl. Bundestagsdrucksache 18/8450, Frage 11)?

9. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 5. Juli 2006 im Fall
O. M. gegen Ungarn (Az.: 9912/15), mit dem Ungarn wegen Menschen-
rechtsverletzungen gegenüber einem iranischen Flüchtling verurteilt wurde,
weil dieser zur Klärung der Identität und Fluchtgründe inhaftiert worden war,
obwohl er sich kooperativ gezeigt und gegen keine rechtliche Bestimmung
verstoßen hatte, so dass die Inhaftierung nicht gerechtfertigt gewesen sei, und
welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zur diesbezüglichen Rechtslage
und Praxis in Ungarn (bitte im Detail darlegen, unter welchen Umständen
Schutzsuchende inhaftiert werden dürfen bzw. in der Praxis inhaftiert wer-
den, und welche effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten in der Praxis diesbe-
züglich gegeben sind)?

10. Welche Probleme gibt es aus Sicht des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge bei der Überstellungen nach Ungarn, und welche Vorgaben
macht Ungarn diesbezüglich?

11. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, dass Österreich seit
September 2015 keine Schutzsuchenden nach Ungarn mehr überstellt, weil
dieses Land nicht als „sicher“ angesehen werden könne, und welche weiteren
Mitgliedstaaten überstellen nach Kenntnis der Bundesregierung Asylsu-
chende oder besondere Teilgruppen Asylsuchender nicht mehr nach Ungarn
(bitte mit Datum auflisten)?

Drucksache 18/9338 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

12. Inwieweit plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund der obigen Fra-
gen einen Überstellungsstopp nach Ungarn zu erlassen, und inwieweit be-
rücksichtigt die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung, dass Flüchtlingen
in Ungarn nicht nur für die Dauer des Verfahrens, sondern auch nach einer
Anerkennung gesellschaftlicher Rassismus entgegenschlägt und ihnen dann
mangels Unterstützung Mittel- und Obdachlosigkeit droht, was in Ungarn
strafbar ist?

Berlin, den 3. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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