BT-Drucksache 18/9335

Privilegierung der Entsorgungsbranche bei der Anwendung der Störfall-Verordnung

Vom 3. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9335
18. Wahlperiode 03.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Caren Lay, Herbert Behrens,
Eva Bulling-Schröter und der Fraktion DIE LINKE.

Privilegierung der Entsorgungsbranche bei der Anwendung der Störfall-
Verordnung

Mit der Störfall-Verordnung in Deutschland aus dem Jahr 1980 und der europäi-
schen Richtlinie 82/501/EG vom 24. Juni 1982 (Seveso-I-Richtlinie) wurden erst-
mals der Schutz vor Störfällen und die Begrenzung ihrer Auswirkungen umfas-
send geregelt. Die Störfall-Verordnung sieht umfangreiche Sicherheitsanforde-
rungen für Betriebe vor, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Sie stellt die na-
tionale Umsetzung der Seveso-Richtlinie dar, welche inzwischen zweimal grund-
legend novelliert wurde.
Ein Betrieb fällt unter den Geltungsbereich der Störfall-Verordnung, wenn in ihm
gefährliche Stoffe oder Stoffgruppen des Anhangs I der Verordnung vorhanden
sind oder vorhanden sein können und zwar in Mengen, die die unteren Mengen-
schwellen des Anhangs I der Verordnung erreichen oder überschreiten. Neben
den dort aufgeführten gefährlichen Stoffen, wie sie typischerweise bei industriel-
len Prozessen vorkommen, sind seit der 2005 geänderten Fassung der Störfall-
Verordnung gemäß Anmerkung 8 des Abschnitts „Anwendbarkeit der Verord-
nung“ des Anhangs I Abfälle explizit in den Anwendungsbereich der Störfall-
Verordnung einzubeziehen. Ihre Einstufung erfolgt nach den EU-Richtlinien
67/548/EWG (Stoffrichtlinie) und 1999/45/EG (Zubereitungsrichtlinie). Die Se-
veso-III-Richtlinie (2012/18/EU) sieht inzwischen eine Einstufung nach der CLP-
Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 1272/2008) vor.
Auch nach 2005 erfolgte in der Regel keine Einstufung von Abfällen seitens der
Betreiber, Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden, sodass insbesondere Entsor-
gungsbetriebe mit gefährlichen Abfällen nicht den Pflichten der Störfall-Verord-
nung unterworfen wurden. Dieses Vollzugsdefizit hielt bis zur Verabschiedung
des Leitfadens KAS-25 „Einstufung von Abfällen gemäß Anhang I der Störfall-
Verordnung“ der Kommission für Anlagensicherheit im Oktober 2012 an. Der
Leitfaden KAS-25 nimmt eine Einstufung der 405 Abfallschlüssel gefährlicher
Abfälle gemäß der Abfallverzeichnis-Verordnung und der Abfallrahmenrichtlinie
vor und ermöglicht so die Entscheidung, ob eine Abfallanlage unter den Gel-
tungsbereich der Störfall-Verordnung fällt. Der Leitfaden nimmt eine Einstufung
nach rein stofflichen Kriterien vor.
Während verschiedene Bundesländer den Leitfaden KAS-25 im Vollzug anwen-
den, wurde er von der Entsorgungsbranche abgelehnt. Bei ihr stand anfangs die
Forderung im Vordergrund, eine von den europarechtlichen Vorgaben abwei-
chende chemikalienrechtliche Einstufung vorzunehmen. Dies wurde von Umwelt-
verbänden kritisiert (vgl. www.bbu-online.de/presseerklaerungen/prmitteilungen/
PR%202014/17.02.14.pdf).

Drucksache 18/9335 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Inzwischen findet eine Debatte statt, ob neben den rein stofflichen Kriterien der
Störfall-Verordnung bei Betrieben mit gefährlichen Abfällen weitere Tatbe-
standsmerkmale zu betrachten sind, die einen Ausschluss aus dem Anwendungs-
bereich der Störfall-Verordnung rechtfertigen. Damit würden Entsorgungsbe-
triebe gegenüber Anlagen mit industriellen Prozessen privilegiert. Dies wird von
Umweltschützern aufgrund der dann entfallenden Sicherheitsanforderungen ab-
gelehnt (vgl. oben genannte Presseerklärung).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Gespräche hat es zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Bun-

desregierung oder von Bundesministerien mit Vertreterinnen und Vertretern
der Entsorgungswirtschaft über die Einstufung von Abfällen gemäß Anhang I
der Störfall-Verordnung oder über den Leitfaden KAS-25 gegeben (bitte auf-
schlüsseln nach Datum, Ort, Teilnehmern und Ergebnis)?

2. Wie bewertet es die Bundesregierung im Hinblick auf den Vollzug der Stör-
fall-Verordnung bei Abfallanlagen, dass im „Bericht der Bundesrepublik
Deutschland gemäß Artikel 19 Absätze 1a und 4 der Richtlinie 96/82/EG des
Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährli-
chen Stoffen – Berichtszeitraum 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2014“
(Quelle: www.bmub.bund.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Luft/
seveso_ii_richtlinie_2015_bericht_bf.pdf) 132 Betriebsbereiche aus dem Seg-
ment „Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung und Beseiti-
gung von Umweltverschmutzungen“ gemeldet wurden, während das Statis-
tische Bundesamt in der Fachserie 19, Reihe 1, 2013 „Umwelt, Abfallentsor-
gung“ (Quelle: www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Umweltsta-
tistischeErhebungen/Abfallwirtschaft/Abfallentsorgung2190100137004.pdf
?__blob=publicationFile) für das Berichtsjahr 2013 3099 Abfallentsorgungs-
anlagen mit gefährlichen Abfällen identifizierte?

3. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Dunkelziffer von Anlagen der
Entsorgungsbranche, die unter den Anwendungsbereich der Störfall-Verord-
nung fallen müssten, bei denen die Betreiber jedoch keinen Betriebsbereich
bei der zuständigen Behörde gemeldet haben vor dem Hintergrund, dass im
„Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 19 Absätze 1a
und 4 der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei
schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen – Berichtszeitraum 1. Januar
2012 bis 31. Dezember 2014“ (Quelle: www.bmub.bund.de/fileadmin/
Daten_BMU/Download_PDF/Luft/seveso_ii_richtlinie_2015_bericht_bf.pdf)
132 Betriebsbereiche aus dem Segment „Wasserversorgung, Abwasser- und
Abfallbeseitigung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen“ gemeldet
wurden, während das Statistische Bundesamt in der Fachserie 19, Reihe 1,
2013 „Umwelt, Abfallentsorgung“ (Quelle: www.destatis.de/DE/Publikationen/
Thematisch/UmweltstatistischeErhebungen/Abfallwirtschaft/Abfallentsorgung
2190100137004.pdf?__blob=publicationFile) für das Berichtsjahr 2013
3099 Abfallentsorgungsanlagen mit gefährlichen Abfällen identifizierte?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine unterschiedliche stör-
fallrechtliche Bewertung oder Einstufung von gefährlichen Stoffen oder
Stoffgruppen gemäß der Stoffliste des Anhangs I der Störfall-Verordnung
(Spalte 2) und Abfällen gemäß Anmerkung 8 des Abschnitts „Anwendbar-
keit der Verordnung“ des Anhangs I der Störfall-Verordnung trotz identi-
scher stofflicher Zusammensetzung dem System der Störfall-Verordnung zu-
widerlaufen würde und naturwissenschaftlich nicht begründbar wäre?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9335
 

5. Wie bewertet die Bundesregierung Forderungen, gefährliche Stoffe oder
Stoffgruppen gemäß der Stoffliste des Anhangs I der Störfall-Verordnung
(Spalte 2) und Abfälle gemäß Anmerkung 8 des Abschnitts „Anwendbarkeit
der Verordnung“ des Anhangs I der Störfall-Verordnung trotz identischer
stofflicher Zusammensetzung unterschiedlich störfallrechtlich bewerten oder
einzustufen zu können vor dem Hintergrund, dass gemäß Nr. A-111 der von
der Europäischen Kommission veröffentlichten „Fragen und Antworten zur
Auslegung der Richtlinie 96/82/EG des Rates“ (Quelle: www.kas-bmu.de/
publikationen/andere/qa_feb2006d.pdf) Abfälle wie Zubereitungen behan-
delt werden, wenn ihre Inhaltsstoffe und deren Konzentrationen bekannt sind
und folglich in diesem Fall keine weiteren Kriterien zur Bestimmung, ob der
Abfall unter den Geltungsbereich der Seveso-II-Richtlinie fällt, einschlägig
sind?

6. Wie bewertet die Bundesregierung Forderungen, gefährliche Stoffe oder
Stoffgruppen gemäß der Stoffliste des Anhangs I der Störfall-Verordnung
(Spalte 2) und Abfälle gemäß Anmerkung 8 des Abschnitts „Anwendbarkeit
der Verordnung“ des Anhangs I der Störfall-Verordnung trotz identischer
stofflicher Zusammensetzung unterschiedlich störfallrechtlich bewerten oder
einstufen zu können, vor dem Hintergrund, dass der Leitfaden „Einordnung
von Abfällen in die Seveso III-Richtlinie“ des österreichischen Bundes-
ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (Quelle:
www.bmwfw.gv.at/Unternehmen/gewerbetechnik/Documents/Einordnung%20
von%20Abf%C3%A4llen%20in%20die%20Seveso%20III-Richtlinie.pdf)
Abfälle als Gemische nach der CLP-Verordnung ansieht und entsprechend
den für Gemische geltenden Bestimmungen eine Einstufung über gefahren-
relevante Eigenschaften erfolgen soll, wobei keine weiteren Kriterien An-
wendung finden?

7. Teilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Aussagen zur Einstufung
von Abfällen in Nr. A-111 der von der Europäischen Kommission veröffent-
lichten „Fragen und Antworten zur Auslegung der Richtlinie 96/82/EG des
Rates“ (Quelle: www.kas-bmu.de/publikationen/andere/qa_feb2006d.pdf
sowie im Leitfaden „Einordnung von Abfällen in die Seveso III-Richtlinie“ des
österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirt-
schaft (Quelle: www.bmwfw.gv.at/Unternehmen/gewerbetechnik/Documents/
Einordnung%20von%20Abf%C3%A4llen%20in%20die%20Seveso%20III-
Richtlinie.pdf) die Ansicht, dass bei Gemischen, in denen lediglich Stoffe ent-
halten sind, die nach der CLP-Verordnung eingestuft wurden und die Gefah-
renkategorien des Gemischs gemäß der CLP-Verordnung zu bestimmen
sind, die anschließende Einstufung gemäß der Seveso-III-Richtlinie und der
Störfall-Verordnung ausschließlich aufgrund dieser Gefahrenkategorien zu
erfolgen hat und dass für diesen Fall das Kriterium „unter den im Betrieb
angetroffenen Bedingungen hinsichtlich ihres Unfallpotenzials gleichwer-
tige Eigenschaften“ (Nr. 5 der Anmerkungen zu Anhang I der Seveso-III-
Richtlinie) keine eigenständige Bedeutung hat, da das störfallrechtliche Un-
fallpotential ausschließlich auf die stoffliche Zusammensetzung abstellt?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 18/9335 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass bei Gemischen das Kriterium
„unter den im Betrieb angetroffenen Bedingungen hinsichtlich ihres Unfall-
potenzials gleichwertige Eigenschaften“ (Nr. 5 der Anmerkungen zu An-
hang I der Seveso-III-Richtlinie) ausnahmsweise nur dann heranzuziehen ist,
wenn Stoffe relevant sind, die keine Einstufung nach der CLP-Verordnung
besitzen, aber trotzdem Gefahren hervorrufen können, beispielsweise endo-
krin aktive Substanzen?

Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass einzelne Abfallschlüssel, so-
weit sie einzelnen gefährlichen Stoffen oder Stoffkategorien der Seveso-III-
Richtlinie zugeordnet werden können, nur dann als Auslöser eines Störfalls,
sei es generell oder in einem konkreten Betrieb, ausgeschlossen werden kön-
nen, wenn dies in dem Verfahren nach Artikel 4 der Seveso-III-Richtlinie
festgestellt wurde?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

10. Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr eines europarechtlichen Ver-
tragsverletzungsverfahrens, wenn für gefährliche Abfälle pauschal oder im
Einzelfall lediglich national festgestellt wird, dass sie nicht Auslöser eines
Störfalls sein können?

11. Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, damit in den Fäl-
len, in denen das Kriterium „unter den im Betrieb angetroffenen Bedingun-
gen hinsichtlich ihres Unfallpotenzials gleichwertige Eigenschaften“ (Nr. 5
der Anmerkungen zu Anhang I der Seveso-III-Richtlinie) keine eigenstän-
dige Bedeutung besitzt, da der Abfall nach den Stoffkategorien des Anhangs I
der Seveso-III-Richtlinie eingestuft werden kann, keine Auslegung erfolgt,
die einen Ausschluss des Abfallschlüssels für die Entscheidung, ob ein Be-
triebsbereich im Sinne der Störfall-Verordnung vorliegt, zulässt?

12. Werden die Bundesregierung und die Bundesministerien in ihren Geschäfts-
bereichen dafür sorgen, dass keine Publikationen erscheinen, die einen Aus-
schluss von Abfallschlüsseln ermöglichen, obwohl das Kriterium „unter den
im Betrieb angetroffenen Bedingungen hinsichtlich ihres Unfallpotenzials
gleichwertige Eigenschaften“ (Nr. 5 der Anmerkungen zu Anhang I der Se-
veso-III-Richtlinie) keine eigenständige Bedeutung besitzt, da der Abfall
nach den Stoffkategorien des Anhangs I der Seveso-III-Richtlinie eingestuft
werden kann?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 3. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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