BT-Drucksache 18/9247

Mögliche Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen durch die Deutsche Marine in der Ägäis

Vom 8. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9247
18. Wahlperiode 08.07.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Annette Groth, Andrej Hunko,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Verletzung unionsrechtlicher Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen
durch die Deutsche Marine in der Ägäis

Die Deutsche Marine beteiligt sich an einem NATO-Einsatz in der Ägäis, in des-
sen Rahmen die griechische und türkische Küstenwache mit Informationen über
Bewegungen von Flüchtlingsbooten versorgt werden sollen.
Fraglich ist dabei, wie ein Schiff der Deutschen Marine, das im Zuge einer etwa-
igen Seenotrettung Flüchtlinge an Bord nähme, mit diesen umginge. Nach An-
sicht der Fragesteller müssen zumindest jene Flüchtlinge, die in griechischen Ho-
heitsgewässern aufgegriffen werden, auch aufs griechische Festland gebracht
werden, sofern sie die Absicht äußern, einen Antrag auf Asyl oder internationalen
Schutz zu stellen. Sie fürchten allerdings, dass die Bundesregierung dies anders
sieht und die Deutsche Marine Anweisungen hat, die in völker- und unionsrechts-
widrigen kollektiven Zurückweisungen von Schutzsuchenden münden könnten.
Die Bundesministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen hat am 11. Feb-
ruar 2016 (AFP-Meldung) erklärt, es sei mit der Türkei „fest verabredet“, dass
Flüchtlinge, die im Rahmen der Standing NATO Maritime Group 2 (SNMG2)
aus Seenot gerettet würden, „zurück in die Türkei gebracht werden“. Die Bun-
desregierung bestätigte in einer Antwort auf eine Mündliche Frage der Abgeord-
neten Ulla Jelpke vom 17. Februar 2016, die NATO-Verteidigungsminister hät-
ten beschlossen, in Seenot geratene Flüchtlinge aus der Türkei sollten in sichere
Häfen in der Türkei verbracht werden. Gegen diese Vereinbarung bestünden sei-
tens der Bundesregierung „keine grundlegenden völker- oder europarechtlichen
Einwände.“
In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (Bundestagsdruck-
sache 18/8654) wiederholte die Bundesregierung am 2. Juni 2016: „Aus der Tür-
kei kommende aus Seenot gerettete Personen sollen in Abstimmung mit den tür-
kischen Behörden grundsätzlich in die Türkei zurückgeführt werden.“ Eine Ein-
zelfallprüfung sei dabei lediglich für solche Personen, „die aus der Türkei stam-
men“ und Schutz vor Verfolgung dortselbst fürchten, erfolgen.
Sollte dies tatsächlich so geschehen, läge hierin nach Ansicht der Fragesteller ein
Verstoß gegen völkerrechtliche, insbesondere unionsrechtliche Verpflichtungen.
In einer Ausarbeitung der Unterabteilung Europa des Deutschen Bundestages (PE
6-3000-30/16) hält diese fest, es erscheine „mit den Grundsätzen des gemeinsa-
men europäischen Asylsystems nicht vereinbar, wenn eine direkte Überstellung
der in griechischen Hoheitsgewässern an Bord genommenen Personen an einen
Drittstaat ohne Ansehung der persönlichen Umstände im Einzelfall erfolgt.“ Die
Ausarbeitung hält fest: „Gemäß Art[ikel] 19 Abs[atz] 1 [der Grundrechtecharta –]

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GRCh sind Kollektivausweisungen unzulässig. Dies betrifft mithin solche Aus-
weisungen, bei denen eine Einzelfallprüfung nicht stattfindet und Personen nach
generellen Kriterien wie beispielsweise ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer eth-
nischen Zugehörigkeit ausgewiesen werden.“
Ausdrücklich bekräftigt die Ausarbeitung: „Im Hinblick auf das unionsrechtliche
Verbot der Kollektivausweisung dürfen sich Schiffe des SNMG2 aus EU-Mit-
gliedstaaten nicht an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beteiligen, ohne dass
den an Bord genommenen Personen zuvor Zugang zu den unionsrechtlich garan-
tierten Rechten ermöglicht worden ist.“ Zudem müsse sichergestellt werden,
„dass die an Bord genommenen Personen ggf. ihr Recht auf einen wirksamen
Rechtsbehelf [...] effektiv wahrnehmen können.“
Eine kollektive Ausweisung aller Flüchtlinge zurück in die Türkei wäre demnach
ein Verstoß gegen das Unionsrecht; ebenso die Beschränkung einer Einzelfall-
prüfung lediglich auf türkischstämmige Flüchtlinge.
Eine parallele Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes (WD 2-3000-
040/16) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis aus völkerrechtlicher Sicht.
Bislang haben Schiffe der Deutschen Marine noch keine Schutzsuchenden aus
Seenot gerettet (Antwort der Bundesregierung zu Frage 19 der Kleinen Anfrage
auf Bundestagsdrucksache 18/8654). Die von der Bundesregierung vertretenen
Auffassungen legen allerdings die Befürchtung nahe, dass Kapitäne der Deut-
schen Marine Anweisungen haben, die den völker- und unionsrechtlichen Vor-
schriften nicht entsprechen. Die Fragesteller wollen sich vergewissern, dass die
Bundeswehr in ihrem Ägäis-Einsatz das Unionsrecht einhält und von der Bun-
desministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen eindeutige Anweisun-
gen dazu bekommt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Teilt die Bundesregierung die in der Ausarbeitung der Unterabteilung Europa

enthaltene und von den Fragestellern geteilte Auffassung, der Anwendungs-
bereich des Unionsrechts erstrecke sich grundsätzlich auch auf Handlungen
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der NATO (bitte
ggf. abweichende Meinung darstellen und begründen)?

2. Ist die Deutsche Marine nach Auffassung der Bundesregierung verpflichtet,
sich an die Konkretisierung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung in Ar-
tikel 4 Absatz 3 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 656/2014 zu halten („Bevor
die abgefangenen oder geretteten Personen [...] in einen Drittstaat ausge-
schifft, einzureisen gezwungen oder verbracht [...] werden, nutzen die betei-
ligten Einsatzkräfte [...] alle Möglichkeiten, um die Identität der abgefange-
nen oder geretteten Personen festzustellen, ihre persönliche Situation zu be-
werten, sie über ihren Zielort in einer Weise zu informieren, die die betref-
fenden Personen verstehen [...] und geben ihnen Gelegenheit, etwaige
Gründe vorzubringen, aufgrund derer sie annehmen, dass die Ausschiffung
an dem vorgeschlagenen Ort gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung
verstoßen würde.“)?
Wenn ja, inwiefern ist (auch personell und materiell) sichergestellt, dass
diese Verpflichtung an Bord der Deutschen Marine eingehalten wird?
Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9247
 

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, eine kollektive Zurückweisung
von aus Seenot in griechischen Hoheitsgewässern geretteten Schutzsuchen-
den in die Türkei sei ohne Ansehung der persönlichen Umstände und ohne
Rechtsbehelf im Einzelfall mit Unionsrecht nicht vereinbar?
Wenn ja, inwiefern wäre es ausreichend, eine solche Einzelfallprüfung nur
für türkischstämmige Flüchtlinge anzuwenden (bitte begründen)?
Wenn nein, warum nicht?

4. Sind an Bord der Deutschen Marine im Rahmen der SNMG2 die personellen
und materiellen Kapazitäten sowie einschlägige Kenntnisse (auch Sprach-
kenntnisse) vorhanden, um Einzelfallprüfungen einer größeren Anzahl ge-
retteter Personen durchzuführen (bitte ggf. genauere Angaben dazu ma-
chen)?

5. Teilt die Bundesregierung die in der Ausarbeitung vertretene Auffassung:
„Im Hinblick auf das unionsrechtliche Verbot der Kollektivausweisung dür-
fen sich Schiffe des SNMG2 aus EU-Mitgliedstaaten nicht an aufenthaltsbe-
endenden Maßnahmen beteiligen, ohne dass den an Bord genommenen Per-
sonen zuvor Zugang zu den unionsrechtlich garantierten Rechten ermöglicht
worden ist“?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, durch welche Vorkehrungen wird dies sichergestellt?

6. Welche Personen genau (bitte Funktionsangaben, Titel) an Bord eines Schif-
fes der Deutschen Marine im SNMG2-Einsatz sind dafür verantwortlich, dar-
über zu entscheiden, ob allfällig aus Seenot gerettete Personen in die Türkei
zurückverbracht oder nach Griechenland gebracht werden?
a) Inwiefern sind diese Personen über die verfassungs-, unions- und völker-

rechtlichen Grundlagen informiert worden (bitte ggf. Dokumente benen-
nen)?

b) Ist diesen Personen die Ausarbeitung zugeleitet worden?
c) Handelt es sich bei diesen Personen ausschließlich um Bundeswehrange-

hörige oder sind auch nicht der Bundeswehr angehörige Personen, wie
etwa Juristen oder sachkundige Mitarbeiter des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge, darunter (bitte ausführen), und wenn Letzteres, wel-
che Kompetenzen haben diese in Abgrenzung zu den Bundeswehrange-
hörigen?

7. Durch welche Anweisungen, Unterrichtungen, materiellen Vorkehrungen
usw. ist derzeit sichergestellt, dass alle (nicht nur türkischstämmige) Flücht-
linge, die in griechischen Hoheitsgewässern aus Seenot gerettet und an Bord
eines Schiffes der Deutschen Marine genommen werden, die Gelegenheit er-
halten, die Absicht zu äußern, in der Europäischen Union einen Antrag auf
Schutz zu stellen, und daraufhin nach Griechenland gebracht werden oder
das Verfahren inklusive etwaiger Rechtsbehelfe an Bord des Schiffes durch-
laufen können (bitte den Inhalt von Anweisungen usw. darstellen)?

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8. Welche Auffassung über die hier aufgeworfene Problematik vertreten nach
Kenntnis der Bundesregierung die anderen EU-Staaten, die sich mit Schiffen
am SNMG2-Einsatz beteiligen?
Sind von diesen seit Beginn des Einsatzes bereits Personen aus Seenot in
griechischen Hoheitsgewässern gerettet worden, und wenn ja, was ist mit
diesen Personen geschehen?
Hatten sie Gelegenheit, die Absicht zu äußern, in Griechenland einen Schutz-
antrag zu stellen?
Wurden jene Personen, die eine solche Absicht äußern könnten, allesamt
nach Griechenland gebracht?

9. Welche Auffassung über die hier aufgeworfene Problematik vertreten nach
Kenntnis der Bundesregierung jene am SNMG2-Einsatz beteiligten NATO-
Staaten, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind, und über welche
Erfahrungswerte hinsichtlich deren Umgangs mit in griechischen Hoheitsge-
wässern aus Seenot geretteten Personen verfügt sie?

10. Inwiefern sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, die verantwortli-
chen Personen an Bord der Deutschen Marine entsprechend mit aktualisier-
ten Anweisungen über den rechtmäßigen Umgang mit Flüchtlingen zu unter-
richten?

11. Ist der Bundesregierung die Ausarbeitung bekannt, und wenn ja,
a) in welchen Punkten weicht die Haltung der Bundesregierung von den in

der Ausarbeitung vertretenen Positionen ab (bitte begründen),
b) auf welche Rechtsquellen stützt sich die Bundesregierung bei ihrer An-

sicht (bitte benennen und kurz darstellen),
c) enthält die Ausarbeitung Positionen oder Stellungnahmen, deren Be-

kanntwerden aus Sicht der Bundesregierung die auswärtigen Interessen
der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen könnten, und wenn ja
welche (bitte begründen), und

d) welche weiteren Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der
Ausarbeitung?

12. Wie oft seit Beginn des Einsatzes haben die eingesetzten Schiffe der NATO
sowie der Deutschen Marine (bitte getrennt darstellen) Meldungen über auf-
gefundene Flüchtlingsboote jeweils an die türkische sowie griechische Küs-
tenwache abgesetzt, und in wie vielen dieser Fälle wurden dabei Boote, die
sich bereits in griechischen Gewässern aufgehalten haben, von den jeweili-
gen Küstenwachen an die türkische Küste zurückgebracht?

Berlin, den 8. Juli 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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