BT-Drucksache 18/9003

Verfahrenspraxis des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerungen aus Gewissensgründen

Vom 24. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9003
18. Wahlperiode 24.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, Frank Tempel,
Jan van Aken, Christine Buchholz, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Jan Korte, Michael Leutert, Dr. Alexander S. Neu,
Kersten Steinke, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Verfahrenspraxis des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben
zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerungen aus Gewissensgründen

Seit Aussetzung der Wehrpflicht sind die Antragstellerinnen und Antragsteller
von Kriegsdienstverweigerungen (KDV) in der Regel Soldatinnen und Soldaten,
die in einem aktiven Dienstverhältnis mit der Bundeswehr stehen. Die unmittel-
bare Konfrontation mit militärischer Gewalt in Kampfeinsätzen führt bei vielen
Soldatinnen und Soldaten zu einem inneren Gesinnungswandel, diese Einsätze
aus Gewissensgründen zu verweigern. Denn das Risiko, töten zu müssen oder
selbst getötet zu werden, stellt sich in Gefechtssituationen sehr konkret dar und
wird häufig erst dann in seiner ganzen Tragweite begriffen.
Anders als Soldatinnen und Soldaten, die die Bundeswehr aus materiellen, famili-
ären oder sonstigen Motiven verlassen, stellen Kriegsdienstverweigerinnen und
Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr mit ihrer ablehnenden Haltung die sitt-
liche Rechtfertigung von militärischer Gewaltanwendung generell und nicht nur für
sich selbst in Frage. Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis zwischen der ethi-
schen Grundnorm des uneingeschränkten Schutzes der Menschenwürde und dem
Recht auf Leben (Artikel 1 Absatz 1, Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes – GG)
sowie der Gewissensfreiheit (Artikel 4 Absatz 3 GG) einerseits und dem Bestands-
interesse der Streitkräfte (Artikel 87a GG) andererseits. Zudem nimmt der Bedarf
in der Bundeswehr stetig zu, für die wachsende Zahl von Auslandseinsätzen geeig-
nete Freiwillige zu rekrutieren. Angesichts dessen besteht nach Ansicht der Frage-
steller ein Eigeninteresse der Bundeswehr, die Anerkennung von KDV nach Kräf-
ten zu verhindern oder mindestens zu verzögern, um Diskussionen über die ethische
Rechtfertigung von militärischer Gewalt innerhalb der Streitkräfte möglichst zu un-
terbinden und weitere KDV-Anträge zu vermeiden.
In verschärfter Form offenbart sich dieses Problem im Bereich des Sanitätsdiens-
tes, in dem der Kernauftrag des Soldaten, töten zu müssen, mit der ärztlichen
Aufgabe, Leben zu retten und zu erhalten, unmittelbar aufeinander trifft. Vor die-
sem Hintergrund besitzt der Sanitätsdienst eine Schlüsselstellung für die Auf-
rechterhaltung der Kampfmoral der Truppe und steht daher unter dem besonderen
Augenmerk der Bundeswehrführung, insbesondere dann, wenn Sanitätssoldatin-
nen und Sanitätssoldaten selbst den Kriegsdienst verweigern wollen.
Die Anträge auf KDV sind schriftlich oder zur Niederschrift bei den Karrierecen-
tern der Bundeswehr zu stellen, die die Aufgaben der am 30. November 2012
aufgelösten Kreiswehrersatzämter übernommen haben. Die Anträge müssen von
den Karrierecentern spätestens vier Wochen nach Eingang an das Bundesamt für

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Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) übermittelt werden, das über
die Berechtigung, den Kriegsdienst an der Waffe zu verweigern, entscheidet. Mit den
Bestimmungen des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes (KDVG) wurden die vorma-
ligen Regelungen des Wehrpflichtgesetzes (§§ 25, 26) zur umfassenden Gesinnungs-
prüfung abgeschafft, gerade um den Nachweis der Gewissensentscheidung zu ver-
einfachen. Das KDV-Verfahren beschränkt sich seitdem auf drei formalisierte Prüf-
schritte: 1. die Vollständigkeits- und Schlüssigkeitsprüfung der vorgebrachten Be-
weggründe im schriftlichen Verfahren (§ 5 KDVG), 2. die ergänzende schriftliche
Anhörung nur bei aus dem tatsächlichen Vorbringen sich ergebenden Zweifeln an der
Wahrhaftigkeit der Angaben (§ 6 Absatz 1 Satz 1 KDVG), 3. die sog. Vollprüfung in
Form einer mündlichen Anhörung bei fortbestehenden Zweifeln, deren Durchfüh-
rung im Ermessen der Behörde liegt (§ 6 Absatz 1 Satz 2 KDVG).
Mit dieser abgestuften Regelung ist die frühere, intensive persönliche Gewissens-
ausforschung auf ein notwendiges Maß beschränkt, indem die weitere Anhörung
von Zweifeln abhängig gemacht wird. Die Stellung der Antragstellerinnen und
Antragsteller im KDV-Verfahren wird dadurch gestärkt, da verbliebene Zweifel
ggf. noch in einer mündlichen Anhörung ausgeräumt werden können, bevor eine
endgültige Entscheidung zu ihrem Nachteil erfolgt.
Demgegenüber ist das BAFzA in seiner Verfahrenspraxis jedoch spätestens seit
dem 1. Juli 2011 davon abgerückt, mit den Antragstellerinnen und Antragstellern
mündliche Anhörungen durchzuführen (vgl. Antwort der Bundesregierung zu
Frage 4 auf Bundestagsdrucksache 18/2356).
Mit dem ausnahmslosen Wegfall der mündlichen Anhörung ist den Betroffenen
die Möglichkeit genommen, zur Abwendung einer endgültigen Ablehnung des
KDV-Antrags die Plausibilität und innere Überzeugung ihrer Gewissensentschei-
dung nochmals persönlich vorzutragen und im Dialog mit der Behörde glaubhaft
zu machen. Damit wird die Pflicht der Behörde, die Möglichkeiten der Sachauf-
klärung im Interesse eines möglichst effektiven Gewissensschutzes nach Arti-
kel 4 Absatz 3 GG und im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 20
Absatz 3 GG bereits im behördlichen Prüfungsverfahren auszuschöpfen, in unzu-
lässiger Weise eingeschränkt. Die Anerkennung einer KDV wird faktisch in das
Belieben der Behörde gestellt, das von den Antragstellerinnen und Antragstellern
kaum mehr durch persönliche Einwirkung auf das Verfahren beeinflusst werden
kann, wenn die Behörde erst einmal Zweifel gefunden hat, die sich nach ihrer
Auffassung aus der schriftlichen Darlegung nicht klären lassen.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat bereits in seiner Rechtspre-
chung für die Vorgängerregelung des KDVG in der vom 7. Juli 1989 bis zum
31. Oktober 2003 geltenden Fassung entschieden, dass die Ablehnung eines
KDV-Antrags, alleine auf der Grundlage der schriftlich eingereichten Begrün-
dung ohne vorherige Vollprüfung, d. h. ohne persönliche Anhörung, unzulässig
und prozessual fehlerhaft im Sinne von § 132 Absatz 2 Nummer 3 der Verwal-
tungsgerichtsordnung – VwGO – ist (vgl. Urteil vom 19. August 1992, BVerwG
6 C 25.90 – Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nummer 5; Beschluss vom 18. Februar
1994, BVerwG 6 B 41.93 – Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nummer 6 sowie Be-
schluss vom 7. September 1995, BVerwG 6 B 32/95).
Zudem kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
den KDV-Antragstellerinnen und Antragstellern der weitere Dienstverbleib und
das Abwarten auf den Abschluss des KDV-Verfahrens – anstelle der sofortigen
Dienstbeendigung aus Gründen des Gewissensschutzes von Verfassungswegen –
nur zugemutet werden, wenn die Behörde das Verfahren mit maximalem Beschleu-
nigungsinteresse durchführt (vgl. Beschluss vom 12. Oktober 1971, BVerfG 2BvR
65/71). Die gegenwärtige, oft sehr langwierige Verfahrenspraxis des BAFzA
führt hingegen dazu, den Antragstellerinnen und Antragstellern einen geringeren
Gewissensschutz zu gewähren, als dies im gerichtlichen Verfahren zwingend ge-
boten ist. In Anbetracht der gerichtlichen Verfahrensdauer von in der Regel neun

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bis 16 Monaten wird nach Ansicht der Fragesteller die mögliche Anerkennung
als Kriegsdienstverweigerin bzw. Kriegsdienstverweigerer unter Verletzung von
Artikel 4 Absatz 3 GG folglich unnötig und unzulässig verzögert.
Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Bundesregierung
aus dem Auseinanderklaffen der Rechtsprechung des BVerwG bzw. des BVerfG
einerseits sowie der konkreten Verfahrenspraxis des BAFzA andererseits und dem
hieraus resultierenden Vollzugsdefizit beim Gewissensschutz nach Artikel 4 Ab-
satz 3 GG zu ziehen gedenkt, um das grundgesetzlich geschützte Recht auf Kriegs-
dienstverweigerung in dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Umfang bereits in dem
ihr unterstehenden behördlichen Verfahren effektiv zu gewährleisten.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerin bzw. Kriegs-

dienstverweigerer (KDV-Anträge) wurden seit dem 30. Juni 2014 gestellt
(bitte nach Monat/Jahr, Geschlecht und Dienstgrad aufschlüsseln)?

2. Wie viele dieser KDV-Anträge wurden seit dem 30. Juni 2014 von Sanitäts-
soldatinnen und Sanitätssoldaten gestellt (bitte nach Monat/Jahr und Ge-
schlecht aufschlüsseln)?

3. Wie viele der seit dem 30. Juni 2014 beim BAFzA eingegangenen KDV-
Anträge wurden bis zum heutigen Zeitpunkt
a) anerkannt,
b) abgelehnt, oder
c) sind noch in Bearbeitung
(bitte nach Monat/Jahr, absoluten Zahlen und Prozentangaben aufschlüsseln)?

4. Wie viele Beschäftigte stehen aktuell im BAFzA für die Bearbeitung von
KDV-Anträgen mit welchem Zeitbudget pro Monat zur Verfügung?

5. Aus welchen Gründen wird seit dem 1. Juli 2011 generell auf die ergänzende
mündliche Anhörung nach § 6 Absatz 1 Satz 2 KDVG als mögliches Mittel
der Sachverhaltsaufklärung bei in Einzelfällen noch bestehenden Zweifeln
vor Entscheidung eines KDV-Antrags zum Nachteil der Antragstellerinnen
und Antragsteller verzichtet (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 4
auf Bundestagsdrucksache 18/2356; bitte detailliert begründen)?

6. In wie vielen Fällen wurden im Zeitraum vom 1. November 2003 – dem In-
krafttreten der geänderten Fassung des KDVG – bis zum 1. Juli 2011 nach
Kenntnis der Bundesregierung in Verfahren auf Anerkennung als Kriegs-
dienstverweigerin bzw. Kriegsdienstverweigerer vor dem BAFzA mündliche
Anhörungen gemäß § 6 Absatz 1 Satz 2 KDVG mit den Antragstellerinnen
und Antragstellern durchgeführt (bitte pro Jahr auflisten)?

7. Welche Position vertritt die Bundesregierung zu der in der Vorbemerkung der
Fragesteller aufgeführten Rechtsprechung des BVerwG zur Notwendigkeit der
persönlichen mündlichen Anhörung, und welche Konsequenzen hat sie im Hin-
blick auf die davon abweichende Verfahrenspraxis des BAFzA bei KDV-Anträ-
gen daraus bislang gezogen bzw. gedenkt sie ggf. noch zu ziehen, um den An-
tragstellerinnen und Antragstellern vor einer endgültigen Entscheidung ihres
KDV-Antrags die gesetzlich zur Sicherstellung eines effektiven Gewissens-
schutzes im Sinne von Artikel 4 Absatz 3 GG vorgesehene, persönliche Darle-
gung ihrer Kriegsdienstverweigerungsgründe zu ermöglichen und die durch das
Unterlassen der Vollprüfung mittels nichtöffentlicher Anhörungen verursachte
Pflichtverletzung der Behörde zu beseitigen (bitte detailliert ausführen bzw. be-
gründen)?

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8. Welcher Rechtsweg steht den Betroffenen im Fall einer endgültigen Ableh-
nung ihres KDV-Antrags durch das BAFzA offen, in wie vielen Fällen kam
es nach Kenntnis der Bundesregierung ggf. zur Anfechtung von ablehnenden
Bescheiden des BAFzA unter Berufung auf die in der Vorbemerkung der
Fragesteller aufgeführte Rechtsprechung des BVerwG, und in wie vielen Fäl-
len konnten dabei die Antragstellerinnen und Antragsteller vor Gericht eine
Anerkennung ihrer KDV erwirken (bitte pro Jahr auflisten)?

9. In wie vielen Fällen ist das BAFzA in seiner Verfahrenspraxis vorgelegten
psychologischen Gutachten oder Stellungnahmen von Wehrmedizinerinnen
und Wehrmedizinern, Militärgeistlichen oder Seelsorgern, die den zunächst
freiwillig verpflichteten Antragstellerinnen und Antragstellern ihre Bewusst-
seinsumkehr bescheinigen und die Anerkennung der KDV empfehlen, bis-
lang gefolgt, und in wie vielen Fällen war dies nicht der Fall (bitte erläutern)?

10. Wie viele Offiziere und Unteroffiziere wurden seit dem 30. Juni 2014 im
Zusammenhang mit einer Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus
dem Dienst entlassen (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 8 auf Bun-
destagsdrucksache 18/2356; bitte pro Monat je Jahr auflisten)?

11. In wie vielen Fällen wurden seit dem 30. Juni 2014 bei Offizieren bzw. Offi-
ziersanwärtern, die als anerkannte Kriegsdienstverweigerer entlassen wurden,
von der Bundeswehr in welcher Gesamthöhe Ausbildungskosten zurückver-
langt, und in welchen Spannweiten bewegten sich die Rückforderungen?

12. In wie vielen Fällen wurden seit dem 30. Juni 2014 bei Unteroffizieren bzw.
Unteroffiziersanwärtern, die als anerkannte Kriegsdienstverweigerer entlas-
sen wurden, von der Bundeswehr in welcher Gesamthöhe Ausbildungskos-
ten zurückverlangt, und in welchen Spannweiten bewegten sich die Rückfor-
derungen?

13. In wie vielen Fällen wurden seit dem 30. Juni 2014 bei Mannschaften des
Sanitätsdienstes des Heeres und der Marine, die als anerkannte Kriegsdienst-
verweigerer entlassen wurden, von der Bundeswehr in welcher Gesamthöhe
Ausbildungskosten zurückverlangt, und in welchen Spannweiten bewegten
sich die Rückforderungen?

Berlin, den 23. Juni 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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