BT-Drucksache 18/8882

Die Rolle der westdeutschen Politik und Diplomatie während der Zeit der Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983)

Vom 20. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8882
18. Wahlperiode 20.06.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Sevim Dağdelen,
Niema Movassat und der Fraktion DIE LINKE.

Die Rolle der westdeutschen Politik und Diplomatie während der Zeit der
Militärdiktatur in Argentinien (1976 bis 1983)

Während des Besuchs von Bundesminister des Auswärtigen Dr. Frank-Walter
Steinmeier in Argentinien im Juni 2016 spielten zum wiederholten Male auch die
Rolle der westdeutschen Politik und Diplomatie während der Zeit der Militärdik-
tatur in dem südamerikanischen Land (1976 bis 1983) eine Rolle. Vor allem das
Schicksal von schätzungsweise 100 Deutschen oder Deutschstämmigen, die wäh-
rend der Diktatur ermordet wurden, stand dabei im medialen Interesse.
Die Rolle des Auswärtigen Amts unter Hans-Dietrich Genscher sowie die Rolle
des damaligen Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Buenos Aires,
Hans Jörg Kastl, ist in den vergangenen Jahren regelmäßig Teil der Medienbe-
richterstattung gewesen und war auch Thema von parlamentarischen Anfragen.
Am 5. Juni 2014 strahlte die ARD den Dokumentarfilm „Das Mädchen – Was
geschah mit Elisabeth K.?“ aus (www.deutschlandradiokultur.de/militaerdiktatur-
argentinien-so-viele-verpasste-chancen.954.de.html?dram:article_id=288348),
der sich mit dem Schicksal der im Jahr 1977 im Folterzentrum „El Vesubio“ er-
mordeten Elisabeth Käsemann befasst. Die Dokumentation konstatierte erneut
ein mangelndes Engagement der westdeutschen Regierung für die Befreiung ihrer
Bürger, die in Argentinien inhaftiert waren oder sich sogar schon bekannterma-
ßen in Folterhaft befanden. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wird
in dem Film sogar eine Mitschuld an dem Tod der jungen Frau gegeben.
Trotz der intensiven Beschäftigung von Medien, Menschenrechtsorganisationen,
Forschern und Parlamentariern mit dem Thema bleiben Fragen offen. Das betrifft
sowohl die Frage der Aktenbestände zur westdeutschen Argentinien-Politik als
auch den Umgang der Bundesregierung mit diesem Kapitel der westdeutschen
Außenpolitik.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Sind in den Archiven des Bundeskanzleramtes Akten enthalten, die Bezüge

auf Geschehnisse während der argentinischen Militärdiktatur aufweisen und
zugleich noch von Sperrfristen betroffen sind?
a) Wie viele Akten betrifft das (ggf. Schätzwert angeben)?
b) Sind Bestände aus den Archiven des Bundeskanzleramtes mit den o. g.

Eigenschaften mit besonderen Sperrvermerken versehen und/oder von
Geheimhaltungsstufen betroffen, und wenn ja, mit welchen?

Drucksache 18/8882 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

2. Sind in den Archiven des Bundesamtes für Verfassungsschutz Akten enthal-
ten, die Bezüge auf Geschehnisse während der argentinischen Militärdiktatur
aufweisen und zugleich noch von Sperrfristen betroffen sind?
a) Wie viele Akten betrifft das (ggf. Schätzwert angeben)?
b) Sind Bestände aus den Archiven des Bundesamtes für Verfassungsschutz

mit den o. g. Eigenschaften mit besonderen Sperrvermerken versehen
und/oder von Geheimhaltungsstufen betroffen, und wenn ja, mit welchen?

3. Sind in den Archiven des Bundesnachrichtendienstes Akten enthalten, die
Bezüge auf Geschehnisse während der argentinischen Militärdiktatur auf-
weisen und zugleich noch von Sperrfristen betroffen sind?
a) Wie viele Akten betrifft das (ggf. Schätzwert angeben)?
b) Sind Bestände aus den Archiven des Bundesnachrichtendienstes mit den

o. g. Eigenschaften mit besonderen Sperrvermerken versehen und/oder
von Geheimhaltungsstufen betroffen, und wenn ja, mit welchen?

4. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass alle Akten aus den Archiven des
Auswärtigen Amts mit Bezug zu Geschehnissen während der argentinischen
Militärdiktatur der Öffentlichkeit zugänglich, also nicht mehr von Sperrfris-
ten, Sperrvermerken oder Geheimhaltungseinstufungen betroffen sind?
Wenn nein, wie viele Akten sind nicht zugänglich – ggf. Schätzwert ange-
ben –, und weshalb nicht?

5. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass Akten mit Bezug zu Gescheh-
nissen während der argentinischen Militärdiktatur in Privatarchive ehemali-
ger Bundespolitiker und/oder Mitarbeiter von Bundesbehörden verbracht
worden sind, darunter vor allem bei Bundeskanzler Helmut Schmidt, Außen-
minister Hans-Dietrich Genscher sowie Gerhard Wessel, Klaus Kinkel und
Eberhard Blum?

6. Existieren effektive Regelungen, die verhindern, dass Akten aus Bundesbe-
ständen von Bundespolitikern und/oder Mitarbeitern von Bundesbehörden
zum Ende ihrer Amtszeit dem öffentlichen Zugriff entzogen werden?
Wenn nein, wie gedenkt die Bundesregierung dies zu gewährleisten?

7. Sind Akten aus Bundesbeständen mit Bezug zu Geschehnissen während der
argentinischen Militärdiktatur vernichtet worden?

8. Welche Waffenexporte sind nach Argentinien zwischen 1976 und 1983 ge-
nehmigt und durchgeführt worden?
Wo sind die dazugehörigen Akten archiviert?

9. War der Bundesnachrichtendienst in der Zeit von 1976 bis 1983 in der west-
deutschen Botschaft in Argentinien vertreten?

10. Hat der Bundesnachrichtendienst in der Zeit von 1976 bis 1983 Kontakte zu
argentinischen Behörden unterhalten?
Sind diese Kontakte dokumentiert, und wenn ja, wo sind die entsprechenden
Aktenvorgänge archiviert?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8882
 

11. Ist der Bundesregierung bekannt, dass der US-Präsident Barack Obama bei
seinem letzten Staatsbesuch in Argentinien die Freigabe von US-Akten ange-
kündigt hat, die bisher nicht der Öffentlichkeit zugängig waren und dass auch
Papst Franziskus die Vatikan-Akten mit Bezug auf die Diktatur freigegeben
hat (https://amerika21.de/2016/03/148040/us-dokumente-diktatur-argentin
sowie www.elmundo.es/internacional/2016/03/24/56f44c65e2704e3c788b45a7.
html)?
Welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung aus dieser Informationspo-
litik des US-Präsidenten und des Papstes?

12. Ist der Bundesregierung bekannt, dass sich die argentinische Regierung – so-
wohl unter der ehemaligen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner sowie
unter dem aktuellen Präsidenten Mauricio Macri – wiederholt für die Offen-
legung von Akten im In- und Ausland mit Bezug auf die Militärdiktatur im
Land eingesetzt hat (u. a. www.hispantv.ir/noticias/argentina/218441/macri-
obama-desclasificar-dictadura-argentina und www.latercera.com/contenido/
678_215257_9.shtml)?
Waren diese Forderungen Gegenstand bilateraler Gespräche zwischen
Deutschland und Argentinien, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?

13. Weshalb hat die Bundesregierung von einer vollständigen Offenlegung aller
Akten mit inhaltlichem Bezug auf die argentinische Militärdiktatur bislang
abgesehen und stattdessen Zugang nur im Rahmen der gesetzlichen Bestim-
mungen gewährt?
Wie wollen die Bundesregierung und das Auswärtige Amt das Verhalten
deutscher Politiker und Diplomaten während der argentinischen Militärdik-
tatur in der Ausbildung von Diplomaten konkret thematisieren, und welche
Handlungen sollen dabei zur Sprache kommen (www.deutschlandfunk.de/
steinmeier-in-argentinien-gedenken-und-selbstkritik.1773.de.html?dram:article_
id=356143)?

14. Sieht die Bundesregierung ein Fehlverhalten von Hans Jörg Kastl, dem Bot-
schafter der Bundesrepublik Deutschland in Buenos Aires in der Zeit der Mi-
litärdiktatur, durch das Bundesbürger in Argentinien gefährdet bzw. nicht vor
Folter, Haft und Ermordung geschützt wurden?

15. Sieht die Bundesregierung ein Fehlverhalten von Bundesaußenminister
Hans-Dietrich Genscher und/oder anderen Vertretern des Auswärtigen Amts,
durch das Bundesbürger in Argentinien gefährdet bzw. nicht vor Folter, Haft
und Ermordung geschützt wurden?

16. Sieht die Bundesregierung ein Fehlverhalten von weiteren Bundesbehörden,
vor allem dem Bundesnachrichtendienst und Bundeskanzleramt, in der Zeit
der Militärdiktatur, durch das Bundesbürger in Argentinien gefährdet bzw.
nicht vor Folter, Haft und Ermordung geschützt wurden?

17. Erwägt die Bundesregierung – abgesehen von der Errichtung eines Gedenk-
steines vor der deutschen Botschaft in Buenos Aires – sich bei den Opfern
und/oder Familien deutscher Opfern der Militärdiktatur in Argentinien zu
entschuldigen, weil ihnen über die Botschaft der Bundesrepublik Deutsch-
land keine hinreichende Hilfe zugekommen ist?

18. Hat das Auswärtige Amt vor, die Argentinien-Politik der Bundesrepublik
Deutschland während der Zeit der Militärdiktatur von einer Historikerkom-
mission und/oder einer anderen unabhängigen Kommission untersuchen zu
lassen, oder für eine solche Untersuchung Mittel zur Verfügung zu stellen?

Drucksache 18/8882 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

19. Schließt sich das Auswärtige Amt der Meinung der ehemaligen Bundesmi-
nisterin der Justiz Herta Däubler-Gmelin an, die dem Auswärtigen Amt, vor
allem in Bezug auf den Foltermord an der Deutschen Elisabeth Käsemann,
eine zur damaligen Zeit „uninteressierte und kaltherzige Haltung“ beschei-
nigt und resümierend feststellt, dass „unsere Regierung (Käsemann) schmäh-
lich im Stich gelassen (hat), als die argentinischen Henker die unschuldige
junge Frau folterten und ermordeten“ (www.welt.de/politik/deutschland/
article128745445/Warum-rettete-Genscher-deutsche-Studentin-nicht.html)?

Berlin, den 20. Juni 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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