BT-Drucksache 18/8711

Innovationspolitik neu ausrichten - Forschen für den Wandel befördern

Vom 8. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8711

18. Wahlperiode 08.06.2016

Antrag

der Abgeordneten Kai Gehring, Oliver Krischer, Katja Dörner, Kerstin
Andreae, Dr. Valerie Wilms, Harald Ebner, Sylvia Kotting-Uhl, Özcan Mutlu,
Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, Maria Klein-Schmeink,
Tabea Rößner, Ulle Schauws, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Dr. Harald Terpe, Doris Wagner, Ekin Deligöz, Dr. Thomas Gambke, Brigitte
Pothmer, Markus Tressel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Innovationspolitik neu ausrichten – Forschen für den Wandel befördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Innovationen wie die Solarzelle, Mikrokredite oder Elektroautos sind ohne For-
schung und Wissenschaft nicht denkbar. Wissenschaft und Forschung tragen immer
wieder dazu bei, die großen Herausforderungen unserer Zeit wie Klimakrise, Ver-
knappung der Ressourcen, fortschreitende Urbanisierung, Digitalisierung und demo-
grafischer Wandel zu bewältigen. Sie sind die wichtigsten Ressourcen für die öko-
logische und soziale Modernisierung unseres Landes. Sie werden gebraucht, um die
Lebensqualität hierzulande und weltweit zu verbessern, und zwar auf klima- und
sozialverträgliche Weise. Das bekräftigte auch die Enquetekommission des Bundes-
tages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ in ihrem Abschlussbericht von 2013.
Innovationspolitik in diesem Sinne ist Zukunftsvorsorge.

Mit der Hightech-Strategie setzt die Bundesregierung allerdings weiterhin vor allem
auf technische Innovationen und naturwissenschaftliche Herangehensweisen. Die
„Entwicklung sozialer Innovationen“, so die Expertenkommission Forschung und
Innovation der Bundesregierung (EFI), werde hingegen „gegenwärtig kaum geför-
dert“ (EFI-Bericht 2016: 20). Verbindliche Nachhaltigkeitskriterien fehlen. Das il-
lustriert auch der neue Bundesbericht Forschung und Innovation 2016 erneut. Die
Bundesregierung bemisst den Erfolg ihrer Innovationspolitik vor allem am Export
wissensintensiver Güter, an Patenten und Industriebeteiligungen.

So schaffen wir keine Zeitenwende für mehr Nachhaltigkeit in allen Dimensionen.
Wer unser Land sozial, ökologisch und digital erneuern will, muss anders forschen.
Das deutsche Innovationssystem muss entsprechend verbessert und neu ausgerichtet
werden. Denn die Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist weit fortge-
schritten. Ohne deutlich mehr Forschung für den Wandel, ohne mehr transformatives
Wissen, schnellen Transfer und neue Prioritätensetzungen können wir den Wettlauf
mit der Zeit nicht gewinnen. Das ist auch Tenor des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesregierung für globale Umweltfragen.

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Wenn wir aber jetzt die richtigen Weichen stellen, kann es gelingen, zum Pionierland
für grüne Innovationen zu werden. Um nachhaltige Entwicklungspfade zu beschrei-
ten, müssen Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Relevanz sehr viel stärker ins Zent-
rum der Forschungsförderpolitik rücken. Technische und soziale Innovationen sol-
len gleichberechtigt gefördert werden. Gefragt sind zudem neue Austausch- und Be-
teiligungsformate, die Wissenschaftsbereiche untereinander und mit der Gesell-
schaft vernetzen.

Wissenschaftsfreiheit ist basale Voraussetzung einer solchen Innovationskultur.
Kreativität entsteht dort, wo Talente sich entfalten können, wo es Freiräume für Viel-
falt, Spontaneität und Unkonventionelles gibt. Ausreichende finanzielle Freiräume
für Grundlagenforschung müssen auch künftig gewährleistet sein. Grundfinanzie-
rung und gezielte Programmforschungsförderung müssen in Balance kommen.

Die EFI-Kommission fordert von der Bundesregierung „mutige Schritte ein, um mit
neuen Formaten und mit neuen Förderinstrumenten zu experimentieren“ (Pressein-
formation vom 8.3.2016). In ihrem jüngsten Bericht verweist sie beispielhaft auf die
Reallabore nach dem Vorbild von Baden-Württemberg. In Reallaboren arbeiten
Wissenschaft, Wirtschaft, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger gemeinsam an
Veränderungsprozessen. Das können Klimaschutzstrategien, moderne Stadtent-
wicklung oder neue Mobilitäts- und Konsummuster sein, die gemeinsam erprobt,
durch Begleitforschung beobachtet und ausgewertet werden. Stadtteile oder Regio-
nen, Unternehmen oder Dienstleistungssysteme werden auf diese Weise zum Expe-
rimentierfeld für Innovationen für drängende gesellschaftliche Herausforderungen.
Die Bundesregierung fördert Reallabore bislang aber nicht systematisch. Das muss
sich ändern.

Gefragt sind darüber hinaus weitere Formate der Teilhabe an Forschung für die Ge-
sellschaft. „Um herauszufinden, welche Innovationen gesellschaftspolitisch wün-
schenswert sind“, so stellt die Expertenkommission Forschung und Innovation der
Bundesregierung in ihrem Gutachten von 2016 fest, „sollte verstärkt auf gesell-
schaftliche Partizipation“ gesetzt werden (EFI 2016: 19). Partizipation kann For-
schung und Entwicklung nachhaltiger machen, wenn Prioritäten gesellschaftlich
breit getragen und der Bedarf und die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern von
vornherein in Neuerungen integriert werden.

Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft entstanden in den letz-
ten Jahren vermehrt etwa unter dem Stichwort Bürgerwissenschaft. In Citizen-Sci-
ence-Projekten beteiligen sich Bürgerinnen und Bürger aktiv in verschiedenen Pha-
sen der Forschung. Das Grünbuch „Citizen-Science-Strategie Deutschland 2020“
von 2016 konstatiert, dass Bürgerwissenschaft bislang unzureichend gefördert wird.
Um das zu ändern, müssen bestehende Forschungsprogramme für Citizen-Science-
Ansätze geöffnet und auch eigenständige, niedrigschwellige Förderformate angebo-
ten werden.

Eine weitere wichtige Voraussetzung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sowie zi-
vilgesellschaftliche Akteure leichter und besser an forschungspolitischen Prozessen
teilhaben können, ist mehr Transparenz. Bürgerinnen und Bürger haben einen An-
spruch darauf, auf nachvollziehbare Weise zu erfahren, welche Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen welche Forschung mit welchen Ergebnissen und mit welchen
öffentlichen Fördermitteln durchführen und welche Kooperationspartner und -part-
nerinnen dabei einbezogen werden. Deshalb soll die Zuwendung öffentlicher Mittel
für Forschungsprojekte zukünftig generell an die verpflichtende Bedingung ge-
knüpft werden, dass die Mittelempfängerinnen und -empfänger entsprechende Aus-
künfte über das Forschungsprojekt in frei zugänglichen Datenbanken offenlegen.

Nachhaltige Lösungen erfordern interdisziplinäre Brückenschläge. Denn die großen
Forschungsherausforderungen unserer Zeit halten sich nicht an disziplinäre Grenzen.
Daher sind Transfer und gemeinsame Projekte zwischen MINT-Fächern (Mathema-

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tik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sowie Sozial- und Geisteswissen-
schaften so wichtig. Zu zentralen Zukunftsthemen sollen daher transdisziplinäre For-
schungsnetzwerke etabliert werden. Auch innerhalb der Disziplinen braucht es mehr
Vielfalt anstelle einer Einfalt an „Denkschulen“. Wissenschaft beruht auf Pluralität,
Methodenvielfalt und konkurrierendem Wissen. Der Schutz dieser Prinzipien ist ele-
mentar, um Durchbrüche bei Problemlösungen zu erzielen. Für den ökologisch-so-
zialen Wandel sind alternative Betrachtungsweisen und gewagte Forschungsideen
wichtig, die etabliertes Wissen grundlegend herausfordern. Beim Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung muss ein Experimentiertopf eingerichtet und
müssen Preisgelder ausgelobt werden, um gewagte Forschungsideen jenseits der
Mainstream-Forschung zu fördern. Um die Fächervielfalt zu erhalten, brauchen wir
ferner eine Roadmap zur kontinuierlichen Stärkung der kleinen Fächer.

Wissenschaftlicher Fortschritt lebt von den Sichtweisen und Kompetenzen von
Frauen und Männern, von Diversity und Weltoffenheit. Unser stärkstes Pfund sind
Forscherinnen und Forscher, die quer und neu denken. Der Wissenschaftsnachwuchs
braucht verlässlichere Karriereperspektiven und mehr unbefristete Beschäftigungs-
bedingungen, um gut forschen zu können. Hochschulen und Forschungseinrichtun-
gen müssen aber auch durchlässiger werden, insbesondere für bisher unterrepräsen-
tierte Gruppen wie Arbeiterkinder, beruflich Qualifizierte, Ältere, Studierende und
Forschende mit Flucht- oder Migrationsgeschichte. Vielfalt der Talente schafft viel-
fältige Forschungsperspektiven, auf die wir beim Forschen für den Wandel in einer
komplexer werdenden Welt mehr denn je angewiesen sind.

Außeruniversitäre, unabhängige und ökologische Forschungsinstitute haben sich als
erfolgreiche Pioniere des Wandels bewährt. Mit ihrer interdisziplinären Nachhaltig-
keitsforschung sind sie wichtige Vorreiter, ökologische Modernisierung zu gestal-
ten. Ihre Expertise liegt vor allem in der Transformationsforschung, der Erforschung
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwandlungsprozesse. Doch freien Institu-
ten fehlt die öffentliche Grundfinanzierung. Hier könnte ein neues Förderinstrument
institutionalisierte Netzwerke zwischen Hochschulen und freien Forschungsinstitu-
ten ermöglichen und so die sozialökologische Forschung stärken.

Eine neue Innovationskultur braucht außerdem den Ideenreichtum von Start-ups so-
wie kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU). Gerade KMU bieten mit
ihrem technologischen Wissen und ihrer Kreativität enorme Chancen für die ökolo-
gische und soziale Erneuerung unserer Wirtschaft. Sie sind es, die alternative Ange-
bote auf den Markt bringen, Zukunftsfelder erschließen und die lokale Wertschöp-
fung unterstützen. Ihr Potenzial wird von der Bundesregierung aber vernachlässigt.
Das EFI-Expertengremium plädiert seit Jahren für eine steuerliche Forschungsför-
derung von KMU. Schließlich ist die Innovationsleistung von hiesigen KMU im
Vergleich zum Ausland zu schwach. Der Gesetzentwurf zur Einführung einer steu-
erlichen Forschungsförderung von der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN (Bundestagsdrucksache 18/7872) zeigt, wie KMU der Zugang zu Forschungs-
förderung erleichtert werden kann. Der dort skizzierte Forschungsbonus für alle
nachgewiesenen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen in Höhe von 15 Pro-
zent muss umgehend umgesetzt werden.

Es ist an der Zeit für deutlich mehr Forschen für den Wandel. Nur mit Kreativität
und Erfindergeist wird es gelingen, grüner zu wirtschaften und nachhaltiger zu leben.
Dafür müssen jetzt bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
ihre Hightech-Strategie dahingehend zu überarbeiten, dass

1. sie zu einer neuen Innovationsstrategie für mehr Nachhaltigkeit ausgerichtet
wird. Dazu muss in sämtlichen Programmlinien anhand von transparenten Er-
folgskriterien dargelegt werden, wie die Förderformate Nachhaltigkeit in For-
schung und Wissenschaft befördern;

2. alle inhaltlichen Fördergebiete für soziale Innovationen, geisteswissenschaftliche
Perspektiven und vielfältige Akteure wie KMU, Organisationen aus dem öffent-
lichen Sektor und der Zivilgesellschaft strukturell geöffnet werden;

3. folgende neue Fördermaßnahmen verankert werden:

a) ein Forschungsbonus in Form einer Steuerermäßigung von 15 Prozent aller
Forschungs- und Entwicklungsausgaben für alle Unternehmen bis zu 249
Mitarbeitern;

b) eine eigene Förderlinie für Reallabore. Dadurch werden Experimentierräume
in einem gesellschaftlichen Umfeld geschaffen, um von Nachhaltigkeitswis-
sen zu gesellschaftlichem Handeln kommen zu können;

c) Einrichtung von interdisziplinären Kooperationsplattformen, die sich thema-
tisch an den großen gesellschaftlichen Herausforderungen orientieren;

d) Förderung von Netzwerken zwischen Hochschulen und freien Forschungsin-
stituten;

e) Entwicklung einer Roadmap zur kontinuierlichen Stärkung der kleinen Fä-
cher;

f) verbesserte strukturelle und finanzielle Fördermöglichkeiten für Citizen-Sci-
ence-Projekte;

g) Schaffung eines themenoffenen Experimentier-Fördertopfes für Kleinfor-
schungsprojekte, um besonders innovative, originelle und pionierhafte Pro-
jekte aus der Gesellschaft zu fördern;

h) Förderung gewagter Forschungsideen jenseits des Mainstreams durch Auslo-
bung von Preisgeldern;

i) Knüpfung der Zuwendung öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte an die
verpflichtende Bedingung, dass Mittelempfängerinnen und -empfänger in frei
zugänglichen, möglichst zentralen sowie untereinander vernetzten Datenban-
ken das Forschungsprojekt, die Ziele und die wesentlichen Resultate in allge-
meinverständlicher Form darlegen und über den Umfang und die Dauer der
öffentlichen Förderung sowie die beteiligten Kooperationspartnerinnen und
-partner Auskunft geben.

Berlin, den 7. Juni 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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