BT-Drucksache 18/8701

Sanktionsregelungen für Beförderungsunternehmen, insbesondere Flug- und Schiffsunternehmen, abschaffen

Vom 7. Juni 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8701
18. Wahlperiode 07.06.2016
Antrag
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej
Hunko, Azize Tank und der Fraktion DIE LINKE.

Sanktionsregelungen für Beförderungsunternehmen, insbesondere Flug- und
Schiffsunternehmen, abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag ist bestürzt und beschämt darüber, dass das Mittelmeer in-
folge der Abschottungspolitik der EU vor Flüchtlingen zu einem Massengrab gewor-
den ist. Weit mehr als 30.000 Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten im
Mittelmeer ertrunken oder auf andere Weise zu Tode gekommen. 2016 droht ein
besonders tödliches Jahr für Geflüchtete zu werden: Nach Angaben des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) starben 2016 bereits über
2.500 Menschen im Mittelmeer, vermutlich über 900 allein in der letzten Woche des
Mai.
Ein wesentlicher Baustein der europäischen Abschottungspolitik sind Sanktionsre-
gelungen für Beförderungsunternehmen, vor allem Flug- und Schiffsgesellschaften,
die Menschen ohne gültige Papiere oder eine Einreiseerlaubnis in die Europäische
Union bzw. nach Deutschland transportieren (so genannte carrier sanctions). Die Be-
förderungsunternehmen werden dadurch nicht nur zum Rücktransport der unerlaubt
eingereisten Personen verpflichtet, sondern auch mit zum Teil drastischen Bußgel-
dern belegt. Der Deutsche Bundestag beklagt, dass dadurch das Grundrecht auf Asyl
in der Praxis ausgehebelt wird und Schutzsuchende hierdurch in die Hände von zum
Teil kriminell agierenden Schleusernetzwerken getrieben werden und dabei ihr Le-
ben nicht nur riskieren müssen, sondern sehr häufig auch verlieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Sanktionsregelungen für Beförde-
rungsunternehmen im Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die den Transport von
Schutzsuchenden mit Zwangsgeldern sanktionieren (§§ 63 ff. AufenthG), aufge-
hoben werden;

Drucksache 18/8701 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
2. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass in der Richtlinie

2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 eindeutig klargestellt wird, dass der
Transport von Schutzsuchenden nicht mit Sanktionen für Beförderungsunter-
nehmen belegt werden darf.

Berlin, den 7. Juni 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Begründung

Nach Artikel 14 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jeder Mensch das Recht, in anderen
Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention sieht insbe-
sondere in den Artikeln 31 und 33 ein Recht auf Asylsuche bzw. eine Pflicht zum Schutz von Flüchtlingen vor
(Zurückweisungsverbot).
Das Menschenrecht auf Asyl wird in der Praxis vielfach unterlaufen. Die Bestimmungen zur Sanktionierung
von Beförderungsunternehmen richten sich formell zwar gegen die so genannte „illegale Einwanderung“. Doch
betroffenen sind vor allem auch Asylsuchende, deren Einreise illegalisiert und verhindert wird – denn ein Visum
erhalten Schutzsuchende im Regelfall nicht. Mit diesen administrativen Regelungen werden im Ergebnis das
Grundrecht auf Asyl und der Schutzgedanke der Genfer Flüchtlingskonvention faktisch außer Kraft gesetzt. Die
Schutzbedürftigen erreichen viele Länder, die ihnen effektiv Schutz gewähren könnten, erst gar nicht, jedenfalls
nicht auf legalem Weg. Zugleich werden durch die „carrier sanctions“ hoheitliche Aufgaben der Grenzkontrolle
bzw. des Flüchtlingsschutzes Privaten übertragen und ins Ausland verlagert: Beschäftigte eines ausländischen
Flugunternehmens sind bei der ihnen auferlegten Überprüfung der Einreisevoraussetzungen weder an das
Grundgesetz noch an das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention gebunden.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärte bereits in einem Positionspapier
vom September 1995 („visa requirements and carrier sanctions“), dass Transportunternehmen nicht sanktioniert
werden sollten, wenn sie Flüchtlinge ohne gültige Papiere befördern. Das Bundesverwaltungsgericht erachtete
ein Beförderungsverbot gegenüber Fluggesellschaften im Jahr 1992 als verfassungswidrig (Beschlussvor-
lage 1 C 48/89 vom 14.4.1992), da gezielte staatliche Beförderungsbeschränkungen gegenüber Asylsuchenden
mit dem Grundecht auf Asyl unvereinbar seien. Das Bundesverfassungsgericht entschied diese Vorlage nicht
inhaltlich, sondern erklärte, dass nur Asylsuchende, nicht aber befördernde Fluggesellschaften sich auf das
Grundrecht auf Asyl berufen könnten (BVerfG 2 BvL 55 und 56/92, Beschluss vom 2.12.1997).
Für Transportunternehmen wird es angesichts der staatlichen Sanktionsdrohungen zur Frage der wirtschaftli-
chen Rentabilität, Asylsuchenden ohne die erforderlichen Dokumente den Zugang konsequent zu verweigern.
Nach einer Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17.12.2013 (5 A 1865/12) müssen Be-
förderungsunternehmen (neben dem Bußgeld) für sämtliche Verwaltungskosten der Vorbereitung bzw. des
Vollzugs einer Zurückweisung haften, wenn sie Personen ohne gültige Identitäts- bzw. Reisepapiere transpor-
tiert haben, inklusive der Kosten der Zurückschiebungshaft. Im konkreten Fall bedeutete dies, dass einer ägyp-
tischen Fluggesellschaft für einen Passagier ohne Identitätspapiere 18.398,70 Euro in Rechnung gestellt wur-
den, davon über 16.000 Euro Haftkosten (die Person konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht abgeschoben
und musste nach mehr als einem halben Jahr aus der Haft entlassen werden).
Die Summe der in Deutschland gegen Beförderungsunternehmen verhängten Zwangsgelder in 1.287 Fällen be-
trug im Jahr 2015 2,1 Mio. Euro (vgl. Bundestagsdrucksache 18/7347, Frage 10).
Die Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001, die wirksame Sanktionen für Beförderungsunterneh-
men verlangt, sieht zwar vor, dass ihre Anwendung nicht die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskon-
vention beeinträchtigen darf (dritter Erwägungsgrund). Auch heißt es in Artikel 4 Abs. 2 der Richtlinie, dass
„die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Fällen, in denen ein Drittstaatsangehöriger um internationalen
Schutz ersucht“, „unberührt“ bleiben. Dass Beförderungsunternehmen für den Transport von Schutzsuchenden
in die Schengen-Staaten nicht sanktioniert werden dürfen, ist in der Richtlinie aber gerade nicht klar geregelt.

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