BT-Drucksache 18/865

Einsetzung einer Unabhängigen Kommission zur sprachlichen Bereinigung des Strafrechts von NS-Normen, insbesondere von Gesinnungsmerkmalen

Vom 19. März 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/865
18. Wahlperiode 19.03.2014

Antrag
der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau,
Martina Renner, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Einsetzung einer Unabhängigen Kommission zur sprachlichen
Bereinigung des Strafrechts von NS-Normen, insbesondere von
Gesinnungsmerkmalen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Strafgesetzbuch (StGB) enthält nach wie vor in der Normierung von Tatbe-
ständen Formulierungen, insbesondere Gesinnungsmerkmale, aus der NS-Zeit.
Die diesbezüglichen Formulierungen stellen das in Deutschland geltende Tat-
strafrecht mindestens in Bezug auf die betroffenen Delikte in Frage. Als Problem
stellen sich vor allem Tatbestandsformulierungen dar, die Gesinnungsmerkmale
enthalten und damit tätertypische Verhaltensweisen und eben nicht die Tatbege-
hung an sich unter Strafe stellen. Die Besonderheit bei den Gesinnungsmerkma-
len liegt darin, dass es sich bei ihnen um mit Wertungen versehene Tatbestands-
merkmale handelt.

Gesinnungsmerkmale in Straftatbeständen sind nicht nur auf Grund des sich da-
raus ergebenden Richterrechts ein Problem, mit dem die eigene moralisch-
sittliche Wertung der Richterinnen und Richter zur Grundlage einer Verurteilung
werden, sondern werfen auch prozessuale Fragen hinsichtlich der Beschul-
digtenrechte auf, wie zum Beispiel das Recht zu Schweigen nach § 136 Strafpro-
zessordnung.

In der öffentlichen Debatte hinsichtlich tatbestandlicher Formulierungen aus der
NS-Zeit wird insbesondere auf einige Mordmerkmale, wie „niedrige Beweggrün-
de“, „Mordlust“, „Habgier“ oder „Heimtücke“, verwiesen. Darüberhinaus finden
sich aber Gesinnungsmerkmale auch in anderen Straftatbeständen, so zum Bei-
spiel in der Verwerflichkeitsklausel der Nötigung (§ 240 Abs. 2 StGB), im Straf-
tatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB mit den Merk-
malen „böswillig“ und „roh“) sowie bei der schweren Körperverletzung des
§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB („hinterlistig“).

Es besteht erheblicher Bedarf, das Strafrecht von Tatbestandsformulierungen zu
befreien, insbesondere Gesinnungsmerkmalen, die aus der NS-Zeit stammen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

eine Unabhängige Kommission aus Historikerinnen und Historikern sowie Straf-
rechtlerinnen und Strafrechtlern unter Einbeziehung des Bundesministeriums der

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Justiz und für Verbraucherschutz einzusetzen, die das StGB auf die Normierung
von Tatbestandsformulierungen, insbesondere Gesinnungsmerkmalen, aus der
NS-Zeit untersucht und bis Ende 2015 konkrete Veränderungsvorschläge zur
Bereinigung des StGB unterbreitet. Den Landesjustizministerien ist die Möglich-
keit der Mitarbeit in der Unabhängigen Kommission zu ermöglichen.

Berlin, den 19. März 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Bis zum heutigen Tage enthält das StGB verschiedene Straftatbestände, deren Normierung, insbesondere
von Gesinnungsmerkmalen, aus der NS-Zeit stammt.

Das heutige Strafrecht ist nicht nationalsozialistisch (vgl. Prof. Wolf, HFR 1996, Beitrag 9, Rdn. 46). Aller-
dings wurde – worauf Prof. Wolf zu Recht hinweist - nach 1945 nicht auf die Gesetzeslage von vor 1933
zurückgegriffen und danach eine Prüfung vorgenommen, welche Änderungen im Strafgesetzbuch in der
Zeit von 1933-1945 unverdächtig waren, sondern „man hat sämtliche Änderungen akzeptiert, soweit sie
nicht im einzelnen als rassistisch, völkisch usw. aufgehoben wurden“ (Prof. Wolf, HFR 1996, Beitrag 9,
Rdn. 55).

Im Dritten Strafrechtsbereinigungsgesetz vom 29. September 1952 (http://dipbt.bundestag.de/doc/
btd/01/037/0103713.pdf, Seite 19) wurde formuliert: „Mit der Bereinigung des Strafgesetzbuches soll
gleichzeitig zum Ausdruck kommen, dass soweit der Entwurf nicht eingreift, Änderungen des Strafgesetz-
buchs durch die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit und der Besatzungsmächte, die von den
bisherigen Strafrechtsänderungsgesetzen nicht angetastet wurden, vorbehaltlich einer eigentlichen Reform
vom Gesetzgeber anerkannt werden.“

Weder das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 noch das Zweite Gesetz
zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969 haben dazu geführt, dass die aus der NS-Zeit stam-
menden Gesinnungsmerkmale aus zentralen Straftatbeständen gestrichen wurden. Gleiches gilt für die
nachfolgenden bis 1998 beschlossenen vier weiteren Gesetze zur Reform des Strafrechts.

Dies führt dazu, dass das Tatstrafrecht - also die Bestrafung der Begehung einer Tat - partiell in Frage ge-
stellt und bei einigen Delikten ein Täterstrafrecht – also die Bestrafung auf Grund der in der Person eines
Täters liegenden Merkmale - angewandt wird. Die Notwendigkeit einer Befreiung des StGB von tatbestand-
lichen Formulierungen aus der NS-Zeit, insbesondere von Gesinnungsmerkmalen, liegt auf der Hand. Es ist
mit dem in Deutschland geltenden Tatstrafrecht nicht vereinbar, wenn bei einzelnen Delikten auf die Täter-
persönlichkeit und nicht auf die Straftat abgestellt wird, zumal dies eine Verurteilung auf Grund der eigenen
sittlich-moralischen Wertung von Richterinnen und Richter bedeutet.

In der öffentlichen Debatte ist vor allem die Formulierung des Mordparagrafen. Die bis heute gültige For-
mulierung des § 211 StGB (Mord) stammt aus dem Jahr 1941.

In der Kommentarliteratur ist anerkannt, das zum Beispiel das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe
„eine Generalklausel für nicht näher spezifizierte höchststrafwürdige Tötungsantriebe“ (Schneider, Mün-
chener Kommentar zum StGB, § 211, Rdn. 70) darstellt. Der BGH hat in seinem Beschluss vom
21. Februar 2013 festgestellt, dass „Die Beurteilung, ob ein Beweggrund ,niedrig‘ ist, (...) aber regelmäßig
zunächst die Feststellung der Tatmotive voraus(setzt)“ (BGH 3 StR 469/12). Dies macht insbesondere deut-
lich, dass soweit ein Beschuldigter vom Recht auf Schweigen (§ 136 StPO) Gebrauch macht, sich hinsicht-
lich der Verurteilung auf Grund dieses Mordmerkmals erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Im Hinblick auf
den existierenden § 211 StGB formulierte der Deutsche Anwaltverein: „Die Tätertypenbezeichnungen

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,Mörder ist, wer ...‘ (§ 211) und ,Totschläger‘ (§ 212) stellen systemfremde Elemente einer Tätertypenlehre
im StGB dar, ... “ (http://anwaltverein.de/downloads/DAV-SN1-14.pdf, S. 28).

Die Justizministerin Schleswig-Holsteins, Spoorendonk, hat am 13. November 2013 angekündigt, eine
Bundesratsinitiative zur sprachlichen Bereinigung der §§ 211 und 212 StGB zu starten. (vgl. http://www.
schleswig-holstein.de/MJKE/DE/Service/Presse/PI/2013/Justiz/131113mjke_Bundesratsinitiative.html). Sie
hat zum Ansinnen ausgeführt: „Das Ungewöhnliche an diesen Formulierungen ist ihr Hinweis auf einen
vermeintlichen Tätertyp des Mörders. Unsere Straftatbestände beschreiben ansonsten nicht bestimmte Tä-
terpersönlichkeiten, sondern vorwerfbare Handlungen. Nach nationalsozialistischer Lesart hingegen war ein
Mörder schon als solcher geboren und er offenbarte sich sozusagen durch die Tat. Insofern spiegeln die
Formulierungen der Paragrafen 211 und 212 des Strafgesetzbuchs bis heute die NS-Ideologie wider." Die
Konferenz der Landesjustizministerinnen und -minister und -senatorinnen und -senatoren am 14. November
2013 hat die Initiative aus Schleswig-Holstein zur Kenntnis genommen, sich wohl aber nicht zu einer Un-
terstützung derselben entschieden (vgl. http://www.schleswig-holstein.de/MJKE/DE/Service/Presse/
PI/2013/Justiz/131114mjke_Bundesratsinitiative.html). In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 18/425) am 4. Februar 2014 teilte die Bundesre-
gierung mit, dass sie die Notwendigkeit der Überarbeitung der §§ 211, 212 StGB prüfe und das Ergebnis
zeitnah mitteilen werde. Am 8. Februar 2014 berichtete die „Süddeutsche Zeitung“, dass der Bundesjustiz-
minister eine Expertenkommission einsetzen wolle, um die Überarbeitung der §§ 211, 212 StGB vorzube-
reiten, damit in dieser Legislaturperiode noch eine Überarbeitung stattfinden könne. In der Sitzung des
Rechtsausschusses am 19. Februar 2014 teilte der Bundesjustizminister mit, dass die Expertenkommission
im Jahr 2014 eingesetzt werde und aus dem Ministerium sowie Praktikerinnen und Praktiker bestehen soll.
Sie soll sich ausdrücklich nur mit der Reform der Paragrafen zu Mord- und Totschlag beschäftigen.

Das Aufgreifen der Initiative der Justizministerin Schleswig-Holsteins durch den Bundesminister der Justiz
und für Verbraucherschutz ist ausdrücklich zu begrüßen. Die vom Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz geplante Kommission greift aber hinsichtlich des Auftrages und der Besetzung zu kurz.

Nach Ansicht von Wagner ist das „geltende Strafrecht […] durchsetzt von Bestimmungen [ist], die in der
Zeit zwischen 1933 und 1945 in ihrer heutigen Form eingeführt worden sind.“ (Kay Wagner, NS-Ideologie
im heutigen Strafrecht, S. 2).

Die vorgeschlagene Kommission könnte das StGB daraufhin untersuchen, welche Normen, die in der Zeit
von 1933-1945 in das StGB eingeführt worden sind, als Überreste nationalsozialistischer Rechtsanschauung
aus dem StGB entfernt werden sollten. Im Regelfall wird dies Normen betreffen, die unbestimmte und mit
Wertung versehene Tatbestandsmerkmale enthalten. Denn diese sind mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nur
schwerlich vereinbar.

Linka formulierte diesbezüglich „Die weitgehende Aufhebung der richterlichen Bindung an das Gesetz
durch entsprechende Tatbestandsfassungen und Verwendung von Wertbegriffen sollte mithin der Instru-
mentalisierung und Politisierung der Justiz dienen.“ (Katharina Linka, Mord und Totschlag, S.194). Und
Kelker ist der Ansicht: „Die vermehrte Verwendung von ,Gesinnungsmerkmalen‘ stand im Zusammenhang
mit gravierenden Einschnitte die in ihrer Gesamtheit als nationalsozialistische ,Rechtserneuerung‘ von An-
fang an auf die Zerschlagung des alten Strafrechtes gerichtet war. (…) Durch die Umgestaltung sollte das
,alte‘ Tatstrafrecht erheblich subjektiviert werden. Die Einführung von Gesinnungsmerkmalen war daher
ein wesentliches Element der nationalsozialistischen Gesetzgebung und stand in unmittelbarem Zusammen-
hang mit der Einführung bestimmter Tätertypen.“ (Brigitte Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerk-
malen, S. 78). An anderer Stelle wird vom „Willensstrafrecht nationalsozialistischer Prägung“ gesprochen
(Benedikt Hartl, Das nationalsozialistische Willensstrafrecht, S. 59).

Gesinnungsmerkmale in Straftatbeständen verstoßen gegen den Grundsatz der Normenklarheit (Be-
stimmtheitsgebot des Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz), einem wesentlichen Prinzip des demokratischen
Rechtsstaates. Das Strafrecht muss nach klar abgrenzbaren Verbotsnormen dann zur Anwendung kommen,
wenn gegen diese Normen verstoßen wurde. Unabhängig von der Motivation der Täterinnen und Täter. Die
Frage der Motivation soll im Rahmen der Strafzumessung Beachtung finden.

Zum Teil wurden die Gesinnungsmerkmale bereits aus dem Strafrecht getilgt, zum Teil sind sie noch vor-
handen (vgl. Wagner, a. a. O,. S. 111). Das Strafgesetzbuch auf das Vorhandensein von Gesinnungsmerk-
malen als Überbleibsel der NS-Zeit zu untersuchen und konkrete Novellierungsvorschläge für das StGB zu
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unterbreiten, soll Aufgabe der Unabhängigen Kommission sein. Sie soll den konkreten Veränderungsbedarf
im StGB untersuchen und bis Ende des Jahres 2015 konkrete Änderungsvorschläge unterbreiten. Sie soll
aus Historikerinnen und Historiker und Strafrechtlerinnen und Strafrechtler unter Einbeziehung des Bun-
desministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz bestehen sowie den Landesjustizministerien die
Möglichkeit der Mitarbeit in der Kommission ermöglichen. Eine Unabhängige Kommission bietet die Mög-
lichkeit jenseits tagesaktueller Politik unter Einbeziehung externen Sachverstandes eine gründliche Über-
prüfung der Normen des StGB auf Tatbestandsmerkmale aus der NS-Zeit, insbesondere Gesinnungsmerk-
male vorzunehmen. Gleichzeitig bietet sie die Chance, einen breit getragenen Konsens hinsichtlich der
notwendigen Änderungen zu entwickeln, der wissenschaftlich abgesichert ist.

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