BT-Drucksache 18/8344

Verwendung von EU-Mitteln für Flüchtlingslager in der Türkei

Vom 28. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8344
18. Wahlperiode 28.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Wolfgang Gehrcke,
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Andrej Hunko, Jan Korte,
Kersten Steinke, Alexander Ulrich, Halina Wawzyniak und
der Fraktion DIE LINKE.

Verwendung von EU-Mitteln für Flüchtlingslager in der Türkei

Im Rahmen ihres Abkommens mit der Türkei zur Begrenzung der „irregulären
Migration aus der Türkei in die EU“ erklärte sich die Europäische Union (EU)
dazu bereit, der Türkei bis zum Jahr 2018 insgesamt 6 Mrd. Euro an finanzieller
Unterstützung zu zahlen, die für die Versorgung und Unterbringung der Flücht-
linge in der Türkei und für die Förderung weiterer „Projekte für Personen, die
vorübergehenden Schutz genießen“, eingesetzt werden sollen (www.consilium.
europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/).
In der Türkei leben derzeit nach Angaben des staatlichen Katastrophenhilfswer-
kes AFAD rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge. Die Aufnahme dieser Flücht-
linge stellt das Land vor große Herausforderungen, Spannungen mit der einhei-
mischen Bevölkerung sind nicht auszuschließen.
So kam es in Cesme und Dikili zu Protesten gegen die Ankunft und Unterbrin-
gung von Flüchtlingen, die im Zuge des EU-Türkei-Abkommens von den grie-
chischen Inseln zur türkischen Ägäisküste zurückgeführt wurden. Sorgen der An-
wohnerinnen und Anwohner um Einbußen beim Tourismusgeschäft und rapide
Lohneinbrüche durch billigere Arbeitskräfte aus Syrien mischen sich dabei mit
offen fremdenfeindlichen Ressentiments über angeblich steigende Kriminalität
(www.br.de/nachrichten/fluechtlinge-rueckfuehrung-protest-tuerkische-staedte-
100.html; www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-fluechtlinge-protest-rueckfuehrung-
101.html).
Politikerinnen und Politiker der sozialdemokratischen und prokurdischen Oppo-
sitionsparteien CHP und HDP in der Türkei sowie Vertreterinnen und Vertreter
der alevitischen und kurdischen Bevölkerungsgruppen zeigten sich indessen be-
sorgt, dass die türkische Regierung die gezielte Ansiedlung von syrischen sunni-
tischen Flüchtlingen in Siedlungsgebieten der ethnischen und religiösen Minder-
heiten zur demographischen – und politischen – Veränderung nutzen könnte
(http://rudaw.net/english/middleeast/turkey/30032016; www.heise.de/tp/artikel/47/
47935/1.html).
Dazu kommt die Befürchtung, dass die Flüchtlingslager der staatlichen Hilfsor-
ganisation AFAD als Stützpunkte für dschihadistische Kämpfer aus Syrien die-
nen könnten. „In Maraş, wo auch viele alevitische Dörfer beheimatet sind, werden
systematisch und ganz bewusst Flüchtlingscamps errichtet, in denen Dschihadis-
ten untergebracht werden“, heißt es in einem von der „Alevitischen Union in Eu-

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ropa“ verbreiteten Aufruf. In den Augen der Dschihadisten sind die Aleviten Un-
gläubige oder Abtrünnige vom Islam, die getötet werden dürfen (http://alevi.com/
de/?p=8302).
Seit Anfang April 2016 protestieren Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes
Sivricehöyük und weiterer alevitischer Dörfer in der Provinz Kahramanmaras ge-
gen den Bau eines Container-Flüchtlingslagers für 25 000 sunnitische Syrerinnen
und Syrer. Die Zahl der Flüchtlinge würde diejenige der wenigen Tausend Alevi-
ten in den umliegenden Dörfern bei weitem übertreffen. Sprecher der Aleviten
betonten dabei, dass sich ihr Protest nicht gegen die Flüchtlinge richte. Angesichts
der ethnisch-religiösen Verhältnisse in der von Kurden und Türken, Aleviten und
Sunniten gemischt besiedelten Provinz, in der es 1978 zu einem Pogrom an hun-
derten von Aleviten kam, befürchten sie allerdings erneute Spannungen zwischen
den verschiedenen Glaubensgemeinschaften (www.hurriyetdailynews.com/turkish-
villagers-rally-against-refugee-camp-plans-citing-fear-of-sunni-extremists.aspx?
pageID=238&nID=97458&NewsCatID=341; www.hurriyetdailynews.com/Default.
aspx?pageID=238&nid=97964&NewsCatID=341).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit und mit welchem Ergebnis hat sich die Bundesregierung oder

– nach ihrer Kenntnis – die EU bislang um Auskünfte von Seiten der türki-
schen Behörden über die Verwendung bereits gezahlter oder zugesagter EU-
Gelder bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in der Tür-
kei bemüht?

2. Welche Möglichkeiten der Mitsprache und Mitentscheidung über die regio-
nale Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei hat die EU als Geldgebe-
rin nach Kenntnis der Bundesregierung, und inwieweit hat sie gegebenenfalls
bislang von dieser Mitsprachemöglichkeit Gebrauch gemacht?

3. In welchen Regionen oder Provinzen der Türkei befinden sich nach Kenntnis
der Bundesregierung derzeit wie viele Flüchtlingslager für nichtsyrische
Flüchtlinge?
a) Wie viele Personen leben jeweils nach Kenntnis der Bundesregierung seit

wie langer Zeit in diesen Camps (bitte soweit wie möglich nach Ge-
schlecht und Alter der dort lebenden Personen differenzieren)?

b) Wer betreibt nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils diese Camps
(AFAD, Stadtverwaltungen, NGOs etc.)?

c) Inwieweit sind diese Camps von ihrer Infrastruktur und Bauweise her für
eine langfristige oder dauerhafte Bewohnung vorgesehen (falls möglich,
bitte Bewohnungszeiträume angeben oder schätzen)?

d) Inwieweit, in welcher Höhe und für welche Aufgaben genau werden nach
Kenntnis der Bundesregierung EU-Mittel für den Aufbau, Ausbau oder
Betrieb dieser Camps verwendet?

4. In welchen Regionen oder Provinzen der Türkei befinden sich nach Kenntnis
der Bundesregierung derzeit wie viele Flüchtlingslager für syrische Flücht-
linge?
a) Wie viele Personen leben jeweils nach Kenntnis der Bundesregierung seit

wie langer Zeit in diesen Camps (bitte soweit wie möglich nach Ge-
schlecht und Alter der dort lebenden Personen differenzieren)?

b) Wer betreibt nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils diese Camps
(AFAD, Stadtverwaltungen, NGOs etc.)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8344
 

c) Inwieweit sind diese Camps von ihrer Infrastruktur und Bauweise her für
eine langfristige oder dauerhafte Bewohnung vorgesehen (falls möglich,
bitte Bewohnungszeiträume angeben oder schätzen)?

d) Inwieweit, in welcher Höhe und für welche Aufgaben genau werden nach
Kenntnis der Bundesregierung EU-Mittel für den Betrieb dieser Camps
verwendet?

5. In welchen Regionen oder Provinzen der Türkei sollen nach Kenntnis der
Bundesregierung weitere Lager für nichtsyrische Flüchtlinge erbaut werden?
a) Wie viele Personen sollen nach Kenntnis der Bundesregierung in den ge-

planten oder derzeit erbauten Camps unterkommen, und für welchen vo-
raussichtlichen Zeitraum?

b) Wer betreibt nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils diese Camps
(AFAD, Stadtverwaltungen, NGOs etc.)?

c) Inwieweit, in welcher Höhe und für welche Aufgaben genau werden nach
Kenntnis der Bundesregierung EU-Mittel für den Bau und Betrieb dieser
Camps verwendet?

6. In welchen Regionen oder Provinzen der Türkei sollen nach Kenntnis der
Bundesregierung weitere Lager für syrische Flüchtlinge erbaut werden?
a) Wie viele Personen sollen nach Kenntnis der Bundesregierung in den ge-

planten oder derzeit erbauten Camps unterkommen, und für welchen vo-
raussichtlichen Zeitraum?

b) Wer betreibt nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils diese Camps
(AFAD, Stadtverwaltungen, NGOs etc.)?

c) Inwieweit, in welcher Höhe und für welche Aufgaben genau werden nach
Kenntnis der Bundesregierung EU-Mittel für den Bau und Betrieb dieser
Camps verwendet?

7. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine gezielte oder mutmaß-
liche Ansiedlungspolitik von syrischen sunnitisch-arabischen Flüchtlingen in
mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden oder der alevitischen Glaubensge-
meinschaft besiedelten Gebieten?
a) Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis von Protesten der Oppositi-

onsparteien sowie Angehöriger der kurdischen und alevitischen Bevölke-
rungsgruppe gegen den Neubau von Flüchtlingscamps?

b) Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr von Spannungen oder
Konflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungs- und Religionsgruppen
in der Türkei, aufgrund der Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen in Re-
gionen, die von ethnischen oder religiösen Minderheiten bewohnt wer-
den?

c) Welche Möglichkeit hat die Bundesregierung – und nach ihrer Kenntnis
die EU –, im Rahmen des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei auf den
Bau und die regionale Verteilung von Flüchtlingslagern in der Türkei Ein-
fluss zu nehmen?

8. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis über eine nach der ethnischen
oder Religionszugehörigkeit (Araber, Kurden, Turkmenen etc./Sunniten,
Alawiten, Christen) der syrischen Flüchtlinge differenzierten Aufnahme-
und Betreuungspolitik durch die türkische Regierung bzw. eine Ungleichbe-
handlung der verschiedenen Flüchtlingsgruppen?

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9. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die Pläne der türkischen Re-
gierung, syrischen Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft anzubieten?
a) Wie viele in der Türkei lebende syrische Flüchtlinge wurden nach Kennt-

nis der Bundesregierung bereits eingebürgert?
b) Wie viele und welche syrischen Flüchtlinge sollen nach Kenntnis der

Bundesregierung nach welcher Aufenthaltsdauer und welchen sonstigen
Kriterien in der Türkei eingebürgert werden oder ihnen die Einbürgerung
in Aussicht gestellt werden?

10. Von welchen Protesten der örtlichen Bevölkerung gegen die Aufnahme und
Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei während der letzten fünf Jahre
hat die Bundesregierung Kenntnis (bitte Datum, Ort, Teilnehmerzahl, Anlass
angeben)?
a) Was war nach Kenntnis der Bundesregierung jeweils die Motivation sol-

cher Proteste?
b) Wie reagierten nach Kenntnis der Bundesregierung die örtlichen Behör-

den bzw. die türkische Regierung auf solche Proteste?
c) Inwieweit kann die Bundesregierung eine Zunahme von Protesten gegen

die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei seit Ab-
schluss des EU-Türkei-Abkommens erkennen?

11. Welche Haltung zum EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen und generell zur
Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei nehmen nach
Kenntnis der Bundesregierung die Oppositionsparteien CHP, HDP und MHP
ein?

12. Von welchen gewalttätigen Übergriffen auf Flüchtlinge in der Türkei wäh-
rend der letzten fünf Jahre hat die Bundesregierung Kenntnis (bitte Datum,
Ort, Anlass und mögliche Opfer und deren ethnische und religiöse Identität
angeben)?
a) Von wem – Bevölkerung, rechtsextreme Gruppierungen etc. – gingen

diese Übergriffe nach Kenntnis der Bundesregierung aus?
b) Wie reagierten nach Kenntnis der Bundesregierung die örtlichen Behör-

den bzw. die türkische Regierung auf solche Übergriffe?
c) Inwieweit kann die Bundesregierung einen Anstieg von Gewalttaten ge-

gen Flüchtlinge seit Abschluss des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens er-
kennen?

Berlin, den 27. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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