BT-Drucksache 18/8328

Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens

Vom 27. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8328
18. Wahlperiode 27.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko,
Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Alexander Ulrich, Halina Wawzyniak,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens

Im Einklang mit dem im November 2015 aufgestellten EU-Türkei-Aktionsplan
schlossen die Mitglieder des Europäischen Rates am 17. und 18 März 2016 ein
Abkommen mit der Türkei, um die „irreguläre Migration aus der Türkei in die
EU“ zu begrenzen bzw. zu unterbinden (www.consilium.europa.eu/de/press/press-
releases/2016/03/18-eu-turkey-statement/). Maßgeblicher Inhalt dieses Abkom-
mens ist es, sämtliche Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschieben, die ab dem
20. März 2016 von der Türkei aus nach Griechenland gelangen oder noch in tür-
kischen Hoheitsgewässern aufgegriffen werden.
In Bezug auf syrische Flüchtlinge soll gelten, dass für jeden in die Türkei abge-
schobenen syrischen Schutzsuchenden ein anderer, bereits in der Türkei aufhälti-
ger syrischer Flüchtling in die EU einreisen darf – jedoch nur im Rahmen eines
begrenzten Kontingentes. Dieses umfasst zunächst 18 000 Plätze und kann ein-
malig um 54 000 auf insgesamt 72 000 Plätze erweitert werden, es handelt sich
dabei um eine Umwidmung von längst beschlossenen, aber noch nicht umgesetz-
ten Aufnahme- bzw. Verteilungsplänen der EU. Zudem gilt diese Regel nur für sol-
che Flüchtlinge, die zum Stichtag 29. November 2015 in der Türkei registriert wor-
den waren (www.statewatch.org/news/2016/apr/eu-council-EU-Turkey-Standard-
operating-procedures-resettlement-7462-16.pdf). Die anderen zurückgeschobe-
nen Flüchtlinge sollen entweder in der Türkei um Asyl nachsuchen oder in ihre
Herkunftsländer zurückkehren.
Im Gegenzug erklärte sich die EU dazu bereit, der Türkei bis zum Jahr 2018 ins-
gesamt 6 Mrd. Euro an finanzieller Unterstützung zu zahlen, die nach offiziellen
Angaben für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei und
für die Förderung weiterer „Projekte für Personen, die vorübergehenden Schutz
genießen“ (www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-
statement/) eingesetzt werden sollen. Im Anschluss an diese Zusage sollte eine
erste Liste konkreter Projekte für Flüchtlinge, insbesondere Projekte in den Be-
reichen Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, Lebensmittelversorgung und sonstige
Lebenshaltungskosten, gemeinsam bestimmt werden. Des Weiteren wurden der
Türkei bis Juni 2016 die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit ei-
ner Öffnung der Kapitel 17 und 33 sowie eine visumfreie Einreise in die EU für
türkische Staatsangehörige zugesagt, wenn die 72 Kriterien einer entsprechenden
Visa-Roadmap erfüllt sind.

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Diverse Nichtregierungsorganisationen und Stimmen aus der Politik haben Zwei-
fel hinsichtlich der Vereinbarkeit des Abkommens mit europäischem und inter-
nationalem Recht geäußert. Bereits Anfang März 2016 zeigte sich der Hohe
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, mit Blick auf das
anstehende Abkommen, „tief besorgt“ über jede Vereinbarung, die „das pau-
schale Zurückschicken von einem Land in ein anderes beinhaltet, ohne Anwen-
dung des Asylrechts und internationalen Rechts“ (www.tagesschau.de/ausland/
tuerkei-un-fluechtlinge-101.html). Auch der Hohe Kommissar der Vereinten Na-
tionen für Menschenrechte (UNHCR), Said Raad al-Hussein, forderte die EU auf,
das geplante Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu überdenken. Er äußerte ins-
besondere Bedenken wegen der möglichen „kollektiven und willkürlichen Ab-
schiebungen“ von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei. Solche Abschie-
bungen seien illegal und Einreisebeschränkungen ohne Feststellung der Um-
stände jedes Einzelnen stellten eine Verletzung internationalen und europäischen
Rechts dar (www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-un-fluechtlinge-101.html). Selbst
die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner stellte in diesem Zu-
sammenhang in Frage, „ob wir unsere Werte letztendlich über Bord werfen“. Pro
Asyl bezeichnete das Abkommen nach seinem Zustandekommen als „flüchtlings-
feindlichen Deal“ (www.proasyl.de/news/abschiebungen-und-haftlager-der-eu-
tuerkei-deal-und-seine-verheerenden-folgen/). Der Direktor des deutschen Büros
von Human Rights Watch, Wenzel Michalski, warf der EU Anfang April 2016 in
einem Interview vor, sie gehe „sehenden Auges illegal vor, was die Türkei be-
trifft“. Sowohl die EU als auch die Türkei würden Menschenrechte mit Füßen
treten (www.tagesschau.de/ausland/lesbos-michalski-101.html).
Bereits am 4. April 2016 begann die Umsetzung des Abkommens mit der Ab-
schiebung von 202 Flüchtlingen in die Türkei, die vorgeblich keinen Antrag auf
Asyl gestellt hatten oder sich zur freiwilligen Ausreise bereit erklärt hätten. Da-
nach gerieten die Rückschiebungen nach Medienberichten jedoch ins Stocken,
unter anderem weil die Schutzsuchenden vermehrt in Griechenland Asyl bean-
tragten, um ihrer Abschiebung in die Türkei zu entgehen. Am Freitag der ersten
Woche nach Inkrafttreten des Abkommens erfolgten schließlich noch weitere Ab-
schiebungen, sowohl im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens als auch im Rah-
men eines zwischen Griechenland und der Türkei bestehenden Rückführungsab-
kommens. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 325 Schutzsuchende in die Tür-
kei verbracht und im Gegenzug 74 syrische Flüchtlinge von der EU aufgenom-
men (www.zeit.de/politik/ausland/2016-04/eu-tuerkei-abkommen-fluechtlinge-
rueckfuehrung-asylpolitik).
Im Rahmen der NATO-Mission in der Ägäis zur Überwachung der Flüchtlings-
bewegungen werden nicht nur in Kooperation mit der europäischen Grenzschutz-
agentur Frontex Informationen über die örtlichen Schleusernetzwerke und Flucht-
bewegungen gesammelt, sondern auch die in griechischen oder türkischen Ho-
heitsgewässern aufgefundenen Boote mit Schutzsuchenden der zuständigen Küs-
tenwache gemeldet, damit diese aufgegriffen und entweder in die Türkei oder
nach Griechenland verbracht werden können.
Um die Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens auf nationaler Ebene rechtlich
zu ermöglichen, hat das griechische Parlament am 8. April 2016 asylrechtliche
Änderungen verabschiedet. Die ebenfalls zur Umsetzung erforderlichen Ände-
rungen der Gesetzeslage in der Türkei stehen noch aus. Eine erste Analyse der
griechischen Gesetzesänderungen (www.asylumineurope.org/news/04-04-2016/
greece-asylum-reform-wake-eu-turkey-deal) durch die Asylum Information
Database (AIDA) hat ergeben, dass diese neue Regelung unter anderem legali-
siert, dass neuankommende Flüchtlinge in den sogenannten hotspots von gravie-
renden Freiheitsbeschränkungen betroffen sind („subject to a restriction on the
freedom of movement“). Diese gelten während der Zeit ihrer Aufnahme und Re-
gistrierung („during the reception and registration procedure“) oder sogar wäh-
rend ihres gesamten Asylverfahren („their entire asylum procedure can be

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conducted within the Centre“). Zudem können laut der Analyse Asylgesuche un-
ter anderem dann als unzulässig zurückgewiesen werden, wenn der Schutzsu-
chende auf einen sogenannten ersten Asylstaat („first country of asylum“) oder
einen sicheren Drittstaat verwiesen werden kann („safe third country“). In diesem
Zusammenhang sind die Schutzstandards für Asylsuchende herabgesetzt worden
(„the guarantees applicable to the ‚first country of asylum‘ concept have been
lowered by the new law“). So können künftig Asylgesuche von Flüchtlingen als
unzulässig abgewiesen werden, wenn sie in der Türkei einen gewissen Schutzsta-
tus erhalten haben. Dies ist unbeschadet dessen möglich, ob die Türkei objektiv
die Kriterien eines sicheren Drittstaates erfüllt („asylum applications by persons
who benefit from temporary protection in Turkey can be dismissed as inadmissa-
ble even if the country does not satisfy the criteris of a ‚safe third countryʻ“).
Abgesehen von den rechtlichen Voraussetzungen bestehen auch praktische Prob-
leme und Hindernisse bei der Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens, insbeson-
dere was die Durchführung von Asylverfahren inklusive gerichtlicher Überprü-
fungen in Griechenland betrifft. Es herrscht vor allem ein Mangel an geschultem
Personal, um die Asylbegehren zu bearbeiten (www.zeit.de/politik/ausland/2016-
04/lesbos-fluechtlinge-tuerkei-griechenland-asyl), aber auch an Dolmetscherin-
nen und Dolmetschern. Am 12. April 2016 teilte die griechische Regierungsspre-
cherin Olga Gerovasili mit, dass die ersten Asyl-Sachbearbeiter auf den Ägäis-
Inseln ihre Arbeit aufgenommen hätten und in zwei Wochen mit ersten Ergebnis-
sen zu rechnen sei (www.europeonline-magazine.eu/athen-entscheidung-ueber-
erste-asylantraege-in-zwei-wochen_449532.html).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass jedem Flüchtling,

der in Griechenland ein Asylgesuch äußert, sowohl eine inhaltliche Asylprü-
fung als auch eine gerichtliche Überprüfung der Behördenentscheidung zu-
steht?
a) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung bezüglich des vorgesehenen

oder tatsächlichen zeitlichen Rahmens der Asylprüfungen inklusive einer
gerichtlichen Überprüfung der Asylbescheide (bitte Dauer angeben oder
nach Möglichkeit schätzen und dabei zwischen dem Behördenverfahren
und dem gerichtlichen Überprüfungsverfahren differenzieren)?

b) In welchem Maß und auf welche Art und Weise ist nach Kenntnis der
Bundesregierung für die Flüchtlinge in den sogenannten hotspots (wie
z. B. Moria) der Zugang zu einer rechtlichen Beratung und zur Gerichts-
barkeit gewährleistet?
Wie viele Rechtsberater bzw. Rechtsanwälte stehen den Flüchtlingen dort
zur Verfügung, um bei Widerspruchsverfahren zu helfen?
Inwiefern haben die Flüchtlinge einen Anspruch auf eine kostenlose
Rechtsberatung bei Klagen gegen Widerspruchsbescheide?

2. Inwiefern und durch welche konkreten Mechanismen bzw. welche konkrete
Unterstützung durch Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten ist nach
Kenntnis der Bundesregierung gewährleistet, dass Schutzsuchenden in Grie-
chenland sowohl ein behördliches Asylverfahren als auch dessen gerichtliche
Überprüfung möglich ist?
a) Welche maßgeblichen Strukturen und Inhalte hat das in Griechenland

durchgeführte Asylverfahren nach Kenntnis der Bundesregierung (falls
möglich im Vergleich zum deutschen Asylsystem umreißen)?

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b) Wie viele deutsche Fach- und Hilfskräfte sind nach Kenntnis der Bundes-
regierung vor Ort, in welchen Bereich sind sie für voraussichtlich welchen
Zeitraum für welche konkreten Tätigkeiten eingesetzt, welche Kosten ent-
stehen durch ihren Einsatz, und von wem werden diese Kosten in welcher
Höhe getragen?

c) Inwiefern werden die von Deutschland entsandten Hilfskräfte über die
Verfahren und ihre Aufgaben in Griechenland informiert, wie lange dau-
ert ihre Vorbereitungszeit, und was beinhaltet die entsprechende Vorbe-
reitung?

d) Wie viele sonstige europäischen Fach- und Hilfskräfte sind nach Kenntnis
der Bundesregierung vor Ort, in welchen Bereich sind sie für voraussicht-
lich welchen Zeitraum für welche konkrete Tätigkeiten eingesetzt, welche
Kosten entstehen durch ihren Einsatz, und von wem werden diese Kosten
in welcher Höhe getragen?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Aussagen des
Direktors des deutschen Büros von Human Rights Watch, Wenzel Michalski,
der beklagt, dass die hotspots „im Prinzip zu Gefangenenlagern geworden“
seien, zu denen es „keinen Zugang für Menschenrechtler und Journalisten“
gibt, und dass Asylsuchende dort Informationen zum griechischen Asylsys-
tem nur auf Griechisch bekämen – eine Sprache, die sie nicht verstehen, so
dass das „Recht hier mit Füßen getreten“ werde (www.tagesschau.de/ausland/
lesbos-michalski-101.html)?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung die Vereinbarkeit von EU-Recht mit der
massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge in den hot-
spots für unbestimmte Zeit während ihrer Asylverfahren, ohne dass es für
diese Beschränkung einen konkreten, der betroffenen Person anzulastenden
Grund (wie z. B. Fluchtgefahr) gibt (vgl. hierzu auch dpa-Meldung vom
19. April 2016, 13:35 Uhr)?
a) Inwiefern wären vergleichbare Regelungen in Deutschland rechtlich zu-

lässig?
b) Welche Umstände und internationalen bzw. europäischen Rechtsgrundla-

gen rechtfertigen es nach Auffassung der Bundesregierung, Flüchtlinge
während ihrer Registrierung und während ihres Asylverfahrens in ge-
schlossenen Lagern unterzubringen und sie am Verlassen derselben zu
hindern?

5. Wie schätzt die Bundesregierung das Risiko ein, dass die Unterbringungska-
pazitäten der hotspots an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, wenn sich die
Asylprüfungen über mehrere Wochen hinziehen und stetig weitere Flücht-
linge in Griechenland ankommen?
Welche Maßnahmen werden zur Vermeidung einer solchen Kapazitätsüber-
schreitung nach Kenntnis der Bundesregierung in Betracht gezogen oder wä-
ren hierzu geeignet und erforderlich?

6. Inwiefern vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass bei jedem ein-
zelnen Asylbegehren individuell geprüft werden muss, ob für die betroffene
Person im konkreten Einzelfall die Türkei einen sicheren Herkunfts- bzw.
sicheren Drittstaat darstellt (bitte Position darstellen und begründen)?
Inwiefern sind nach Erkenntnissen der Bundesregierung derzeit in Griechen-
land solche Prüfungen gewährleistet?

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7. Wie sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Asylverfahren für Schutz-
suchende in der Türkei ausgestaltet, welche unterschiedlichen Verfahren gibt
es für unterschiedliche Flüchtlingsgruppen, welchen Status und welche da-
mit verbundenen Rechte können die jeweiligen Gruppen auf welcher Rechts-
grundlage jeweils erhalten, und welche Rechte haben die Schutzsuchenden
während des Verfahrens (in Bezug auf Unterbringung und Versorgung, aber
auch auf Abschiebungsschutz während des Verfahrens und effektiven Zu-
gang zum Verfahren; bitte zu allen Fragen so konkret wie möglich antworten
und dabei insbesondere auch zwischen syrischen und nichtsyrischen Flücht-
lingen differenzieren)?
a) Inwiefern besteht nach Kenntnis der Bundesregierung für syrische Flücht-

linge in der Türkei die Möglichkeit, effektiven Schutz zu erhalten, und
welche Rechte haben sie vor, während und nach ihrem Asylverfahren,
auch vor dem Hintergrund der zuletzt bekanntgewordenen Massenab-
schiebungen an der türkisch-syrischen Grenze (www.amnesty.de/2016/
4/1/tuerkei-schiebt-massenhaft-syrische-fluechtlinge-ab?destination=suche%
3Fwords%3DT%25C3%25BCrkei%26search_x%3D0%26search_y%3D0%
26search%3DSuchen%26form_id%3Dai_search_form_block, bitte aus-
führen und entsprechend differenzieren)?

b) Inwiefern besteht nach Kenntnis der Bundesregierung für nichtsyrische
Flüchtlinge in der Türkei die Möglichkeit, effektiven Schutz zu erhalten,
und welche Rechte haben sie während des Verfahrens (bitte ausführen
und ggf. zwischen den entsprechenden Flüchtlingsgruppen differenzie-
ren)?

c) Inwiefern ist dieser Schutz nach Auffassung der Bundesregierung nach
internationalen und europäischen Standards ausreichend, insbesondere
auch, um die Türkei im Einzelfall als einen „ersten“ oder „sicheren“ Dritt-
staat im Sinne der EU-Verfahrensrichtlinie anzusehen (bitte begründen)?

8. Inwieweit wird nach Kenntnis der Bundesregierung an den ursprünglichen
Plänen der türkischen Regierung festgehalten, nichtsyrische Flüchtlinge nach
Möglichkeit in ihre Herkunftsländer abzuschieben (vgl. AFP-Meldung vom
9. März 2016, 8:23), und inwieweit verstoßen diese Pläne nach Auffassung
der Bundesregierung gegen das in der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Zurückweisungsverbot
(bitte jeweils konkret mit Bezug auf die jeweilige internationale und EU-
Rechtslage beantworten)?

9. Inwieweit und aus welchen Quellen ist die Bundesregierung über das Asyl-
system in der Türkei und die dort vermeintlich geltenden Schutzstandards für
Flüchtlinge informiert?

10. Was sind nach Kenntnis oder Einschätzung der Bundesregierung die maß-
geblichen Mechanismen und Rechtsgrundlagen zur Gewährleistung des
Flüchtlingsschutzes in der Türkei?

11. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus Berichten von
türkischen Menschenrechtsanwälten und -aktivisten über gravierende Män-
gel bei der Umsetzung dieser Rechtsgrundlagen und über erhebliche Mängel
im Asylsystem (vgl. zu allen nachfolgenden Unterfragen auch: www.law.ox.
ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/
blog/2016/03/turkey-safe-third), insbesondere im Hinblick auf

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a) die Zustände und Vorfälle im Rückführungslager Askale, insbesondere
auch im Dezember 2015 (unabhängige Organisationen berichteten von
zahlreichen Verstößen gegen Menschenrechte und asylrechtliche Garan-
tien, Folter und körperliche Misshandlung durch Polizeikräfte sowie ille-
gale Abschiebungen, der Fall liegt der zuständigen türkischen Behörde
vor);

b) die mangelnde Umsetzung des im Jahr 2013 neu eingeführten und 2014
in Kraft getretenen „Gesetzes über Ausländer und internationalen Schutz“
(http://madde14.org/english/index.php?title=Law_of_Foreigners_and_
International_Protection);

c) die mangelnden Kapazitäten und Erfahrungswerte bzw. der mangelnden
Expertise der seit dem Jahr 2013 neu eingerichteten Generaldirektion für
Migrationsfragen (Directorate General of Migration Management: www.
goc.gov.tr/main/Eng_3);

d) zu den Mängeln im juristischen Bereich bzw. im Hinblick auf die gericht-
liche Auseinandersetzung mit Asylbegehren, die daraus resultieren, dass
Richter, Anwälte und andere juristische Fachkräfte erst seit Einführung
des neuen Asylgesetzes („Gesetz über Ausländer und internationalen
Schutz“) 2013 entsprechend geschult und vorbereitet werden?

12. Falls die Bundesregierung zu den obigen Fragen zum türkischen Asylsystem
keine genauen Kenntnisse haben sollte, wie wäre das damit zu vereinbaren,
dass sie sich für das EU-Türkei-Abkommen eingesetzt hat, welches im Kern
vorsieht, dass alle Schutzsuchenden in die Türkei zurückverbracht werden
sollen, was nach internationalem Recht verlangt, dass die zurückgewiesenen
Schutzsuchenden in der Türkei eine reale Chance auf ein faires Prüfverfahren
haben und in dieser Zeit auch menschenwürdig untergebracht und versorgt
werden müssen (bitte ausführlich begründen)?

13. Welche Schritte muss die Türkei aus der Sicht der Bundesregierung bzw.
nach Kenntnis der Bundesregierung aus Sicht der Europäischen Kommission
(bitte differenzieren) noch in rechtlicher und in praktischer Hinsicht (bitte
differenzieren) vornehmen, um als „sicherer Drittstaat“ oder „erster
Asylstaat“ (bitte differenzieren) im Sinne des EU-Rechts angesehen werden
zu können (bitte ausführen)?

14. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus Berichten dar-
über, dass (vgl. zu allen nachfolgenden Unterfragen: www.proasyl.de/news/
prekaere-zustaende-inhaftierung-abschiebung-wie-unsicher-die-tuerkei-fuer-
fluechtlinge-ist/)
a) bei der ersten Abschiebung im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens auch

13 Asylsuchende gewesen sein sollen, deren Bitte um Asyl von den Be-
hörden „vergessen“ worden sein sollen (nach einer AFP-Meldung vom
5. April 2016 sollen nach Angaben des UNHCR 13 Afghanen ihre Asyl-
gesuche in dem „Durcheinander“ auf der Insel Chios nicht haben äußern
können),

b) UNHCR-Bedienstete keinen Zugang zu den Abgeschobenen erhalten
bzw. bekommen haben sollen,

c) weitere Mitglieder der türkischen Regierung (der Innen- und der Europa-
minister) Abschiebungen von nichtsyrischen Flüchtlingen angekündigt
haben sollen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/8328
 

15. Wenn, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Schriftliche
Frage 18 (Bundestagsdrucksache 18/8052, Seite 13) ausführt, gerade einmal
274 000 der rund drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei in regulären bzw.
staatlichen Flüchtlingscamps untergebracht sind und somit niemand – auch
die Bundesregierung nicht – belastbare Kenntnisse zur Situation von neun
Zehntel aller Flüchtlinge in der Türkei hat, wie lässt sich dann beurteilen, ob
und inwiefern sämtlichen Flüchtlingen in der Türkei ausreichend Schutz, Un-
terkunft und ein faires Asylverfahren zukommt?
Inwiefern kann auf dieser Grundlage die Beurteilung vorgenommen werden,
ob die Türkei für Flüchtlinge in der Theorie und in der Praxis ein sicherer
Drittstaat ist?

16. Nach welchem Verteilungsschlüssel bzw. Verteilungssystem wird im Rah-
men des „Eins-für-eins“-Programmes vorgegangen?
Wie gestaltet sich die konkrete Identifikation jener Personen, denen die Auf-
nahme in die EU gewährt wird?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung den Umstand, dass die Zahl der im Rah-
men des „Eins-für-eins“-Programms aus der Türkei aufzunehmenden syri-
schen Flüchtlinge auf ein Gesamtkontingent von zunächst 72 000 Personen
beschränkt ist und dass Aufnahmen im Rahmen von zwei von der EU längst
beschlossenen Aufnahme- bzw. Umverteilungsprogrammen auf das mit der
Türkei vereinbarte Aufnahmekontingent angerechnet werden können, so
dass für die EU-Mitgliedstaaten durch das EU-Türkei-Abkommen keinerlei
neue Aufnahmepflichten entstanden sind, wie in den Schlussfolgerungen des
Europäischen Rates vom 17./18. März 2016 ausdrücklich festgehalten
wurde?

18. Inwiefern ist es zutreffend, dass sich die Bundesregierung für die mittler-
weile vereinbarte Regelung eingesetzt hat, dass enge Familienangehörige
von anerkannten Flüchtlingen beim „Eins-für-Eins“-Programm angerechnet
werden können?
Inwieweit wäre eine solche Einbeziehung in das Kontingent damit vereinbar,
dass in diesen Fällen ohnehin ein durchsetzbarer Anspruch auf Familien-
nachzug unabhängig von humanitären Aufnahmeprogrammen besteht und
die Türkei damit im Ergebnis in diesen Fällen überhaupt nicht zusätzlich ent-
lastet wird?

19. Wie soll mit Schutzsuchenden verfahren werden, die von den im Rahmen der
NATO-Mission in der Ägäis eingesetzten deutschen Schiffen aus Seenot ge-
borgen werden, und inwiefern wird dabei deren Recht auf ein faires indivi-
duelles Asylverfahren inklusive einer gerichtlichen Überprüfung gewährleis-
tet und durchgesetzt (vgl. hierzu auch: www.tagesschau.de/inland/marine-
einsatz-bundestag-101.html)?
a) Haben Schiffe der Deutschen Marine im Rahmen dieses Einsatzes bereits

Menschen aus Seenot gerettet, und wenn ja, in welchen Hoheitsgewäs-
sern, und wohin wurden sie gebracht?

b) Welche Anweisungen haben die Kapitäne der Schiffe der Deutschen Ma-
rine, wie sie mit aus Seenot Geretteten umgehen sollen, sofern diese in
griechischen Hoheitsgewässern aufgegriffen wurden und den Wunsch äu-
ßern, in der Europäischen Union Schutz zu beantragen?

Drucksache 18/8328 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

20. Ist die Bundesregierung immer noch der Auffassung (vgl. Plenarprotokoll
18/154, S. 15194, Anlage 18), dass es zur Wahrung des Zurückweisungsver-
bots nach Aufgriff von Schutzsuchenden auf einem deutschen NATO-Schiff
genügen soll darauf hinzuweisen, dass die Türkei ebenfalls völkerrechtlich
an das Zurückweisungsverbot gebunden ist, um unmittelbare Zurückschie-
bungen in die Türkei ohne Einzelfallprüfung zu rechtfertigen, oder gibt es
nicht zuletzt eine EU-rechtliche Verpflichtung, die Sicherheit von Schutzsu-
chenden in der Türkei in einem einzelfallbezogenen, rechtsstaatlichen Ver-
fahren inklusive einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung zu klären (vgl.
hierzu auch www.tagesschau.de/inland/marine-einsatz-bundestag-101.html)?

21. Wurde mittlerweile, wie angekündigt, eine Liste von forderungswürdigen
Programmen für Schutzsuchende in der Türkei ausgearbeitet, und wenn ja,
welche Projekte finden sich auf dieser Liste, und welche Gelder sind in wel-
chem Zeitraum für welche Projekte eingeplant?

Berlin, den 26. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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