BT-Drucksache 18/8304

Militärische Lageentwicklung im Syrien-Konflikt und Stand des Genfer Prozesses

Vom 29. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8304
18. Wahlperiode 29.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Kunert, Jan van Aken, Christine Buchholz, Inge Höger,
Michael Leutert, Stefan Liebich, Niema Movassat und der Fraktion DIE LINKE.

Militärische Lageentwicklung im Syrien-Konflikt und Stand des Genfer Prozesses

Mehr als 250 000 Menschen wurden seit Beginn des Krieges in Syrien vor über
fünf Jahren getötet. Rund 4,7 Millionen Syrerinnen und Syrer sind in die Nach-
barländer und darüber hinaus nach Europa geflohen. Rund 8,7 Millionen Syrerin-
nen und Syrer gelten als Binnenflüchtlinge, die sich vor allem in Damaskus,
Aleppo, Homs und Hama aufhalten. Schätzungsweise ca. 13,5 Millionen Men-
schen in Syrien (81 Prozent der Bevölkerung) sind derzeit dringend auf humani-
täre Unterstützung angewiesen (vgl. www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/
publikation/did/fakten-zur-europaeischen-dimension-von-flucht-und-asyl-syrien/,
abgerufen am 19. April 2016).
Die im Herbst 2015 zusammengekommene Wiener Syrien-Konferenz hat einen
Rahmenplan zur Beendigung des Syrienkriegs entworfen. Demnach sollte zu-
nächst eine Feuerpause zwischen dem syrischen Regime und den dialogbereiten
Teilen der bewaffneten Opposition vereinbart werden, um in einem nächsten
Schritt politische Verhandlungen einzuleiten, die dann langfristig zur Bildung ei-
ner Übergangsregierung und zu Neuwahlen führen sollen. Eine Waffenruhe zwi-
schen den Regimekräften und Teilen der Opposition trat am 27. Februar 2016 in
Kraft und wurde bislang weitgehend eingehalten. Seitdem sind deutlich weniger
Menschen gestorben und mehr Menschen konnten mit dringend benötigten Me-
dikamenten und Lebensmitteln in zuvor belagerten Orten versorgt werden.
Seit Februar 2016 sind die Gespräche der syrischen Konfliktparteien im Rahmen
von „Geneva III“ (Genf 3) angelaufen. An den vom UN-Sondergesandten für
Syrien, Staffan de Mistura, geleiteten Friedensgesprächen nehmen Vertreter der
syrischen Regierung sowie Vertreter des im Jahr 2015 in Riad (Saudi-Arabien)
gegründeten „Hohen Verhandlungskomitees“ (High Negotiation Committee –
HNC) teil, das verschiedene (islamistische und säkulare) Oppositionsgruppen re-
präsentiert. Die dem internationalen Terrornetzwerk Al-Kaida angehörende Is-
lamistenmiliz „Jabhat al-Nusra“ (Al-Nusra-Front) ist von der Feuerpause und
dem Verhandlungsprozess ebenso ausgeschlossen wie die Terrormiliz des soge-
nannten „Islamischen Staats“ (IS/ISIS). Obwohl sie in den Bodenkämpfen der
effektivste Gegner des IS und militärischer Verbündeter der US-geführten west-
lichen Anti-IS-Allianz sind, werden auch die syrischen Kurden der „Partei der
Demokratischen Union“ (Partiya Yekitîya Demokra – PYD) bislang an den Frie-
densverhandlungen nicht beteiligt. Zwischenzeitlich haben die Kurden eine föde-
rale Region „Rojava-Nordsyrien“ innerhalb der territorialen Integrität Syriens
ausgerufen (vgl. www.nzz.ch/international/autonome-region-ausgerufen-in-genf-
unerwuenscht-schaffen-syriens-kurden-fakten-ld.8930, abgerufen am 18. April
2016).

Drucksache 18/8304 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

Aktuell sind heftige Gefechte in und um Aleppo entbrannt. Zehn syrische Oppo-
sitionsgruppen, darunter die im HNC vertretenen, besonders einflussreichen is-
lamistischen Gruppierungen Jaysh al-Islam und Ahrar al-Sham haben eine mili-
tärische Großoffensive gegen die Regierungstruppen angekündigt, nachdem diese
Wohnviertel der Zivilbevölkerung in den von der Opposition kontrollierten Ge-
bieten bombardiert haben sollen. Jaysh al-Islam wird von Mohammed Allusch
geführt, der bei den Genfer Friedensgesprächen der Chefunterhändler der Oppo-
sition ist (vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-rebellen-kuendigen-offensive-
gegen-armee-an-a-1087712.html, abgerufen am 20. April 2016).
Ein Scheitern des Genfer Prozesses wäre ein schwerer Rückschlag für die politische
Lösung des Syrienkonflikts. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie das Ver-
handlungsformat fortgeführt und der Friedensprozess stabilisiert werden kann.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche syrischen Konfliktparteien sind nach Kenntnis der Bundesregierung

gegenwärtig am Genf-3-Verhandlungsformat zur Regelung des Syrienkon-
flikts beteiligt, wie sieht der Gesprächsmodus (getrennte oder gemeinsame
Treffen mit dem UN-Sondergesandten etc.) aus, und wie viele Teilnehme-
rinnen und Teilnehmer nehmen daran üblicherweise teil (bitte nach einzelnen
Gruppierungen auflisten)?

2. Welche Staaten bzw. ausländischen Regierungen sind nach Kenntnis der
Bundesregierung in welcher Weise (offiziell oder inoffiziell) in die Genf-3-
Verhandlungen involviert, und auf welcher Ebene bzw. durch wen ist die
Bundesregierung am Verhandlungsprozess beteiligt (bitte erläutern)?

3. Welche ethnischen und religiösen Minderheiten aus Syrien sind auf Seiten
der syrischen Regierung nach Kenntnis der Bundesregierung mit eigenen
Vertreterinnen und Vertretern am Genf-3-Verhandlungsformat beteiligt bzw.
werden dort offiziell von Mitgliedern der syrischen Regierungsdelegation
vertreten?

4. Welche ethnischen und religiösen Minderheiten aus Syrien sind auf Seiten
der im HNC repräsentierten syrischen Opposition nach Kenntnis der Bun-
desregierung mit eigenen Vertreterinnen und Vertretern am Genf-3-Ver-
handlungsformat beteiligt bzw. werden dort offiziell von Mitgliedern der
HNC-Delegation vertreten?

5. Welche der den Genf-3-Prozess unterstützenden Staaten haben seit Beginn
des syrischen Bürgerkriegs 2011 nach Erkenntnissen der Bundesregierung –
auch nachrichtendienstlicher Herkunft – in der Vergangenheit in welchem
Umfang Waffen, Waffensysteme bzw. andere Rüstungsgüter an einzelne
Konfliktparteien in Syrien (Regime oder Opposition) geliefert (bitte pro Jahr,
nach Herkunftsland, Stückzahl je Waffen, Waffensystem, Rüstungsgut und
Konfliktpartei auflisten)?

6. Welche Erkenntnisse – auch nachrichtendienstlicher Herkunft – hat die Bun-
desregierung, ob und in welchem Umfang die in den deutschen Medien im
Sommer 2015 publik gewordenen Waffenlieferungen der Türkei an die radi-
kal-islamistischen Milizen „Ahrar al-Sham“ und die Islamische Front in Syrien
dazu genutzt wurden, um Waffen an die Al-Nusra-Front weiter zu transferieren
bzw. weiter zu verkaufen (vgl. www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/
tuerkischer-bombenkrieg-100.html, abgerufen am 20. April 2016)?

7. Hat die Türkei nach Kenntnis der Bundesregierung ihre Waffenlieferungen
an die in Frage 6 genannten Gruppierungen nach Kenntnis der Bundesregie-
rung auch während der Aufnahme der Friedensgespräche und über die Ver-
abredung der Feuerpause hinaus aufrechterhalten?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8304
 

8. In welchem Umfang hat nach Kenntnis der Bundesregierung Russland den
angekündigten Teilabzug seiner zeitweilig zur militärischen Unterstützung
der syrischen Armee entsendeten Truppen bislang umgesetzt, und ggf. auch
schwere Waffensysteme aus Syrien zurückverlegt (bitte pro Stückzahl je
Waffensystem auflisten)?

9. Zwischen welchen syrischen Konfliktparteien ist nach Kenntnis der Bundes-
regierung am 27. Februar 2016 die Feuerpause wirksam geworden, und wie
stabil hat sich die Waffenruhe nach Kenntnis der Bundesregierung bislang
erwiesen?

10. In welchen zuvor von Regime- oder Oppositionskräften belagerten Orten
bzw. Regionen in Syrien konnte nach Kenntnis der Bundesregierung als Er-
gebnis der Feuerpause durch wen in welchem Umfang humanitäre Hilfe für
die eingeschlossene Zivilbevölkerung geleistet werden, und welche Orte
bzw. Regionen innerhalb der Waffenruhegebiete sind nach Kenntnis der
Bundesregierung ggf. immer noch vom Zugang zur humanitären Hilfe abge-
schnitten (bitte detailliert angeben)?

11. Welche der im HNC vertretenen syrischen Oppositionsgruppen haben nach
Kenntnis der Bundesregierung in der Vergangenheit mit der Al-Nusra-Front
oder dem IS kooperiert bzw. kooperieren immer noch mit einer dieser beiden
Gruppierungen, die vom Genf-3-Prozess ausdrücklich ausgeschlossen sind
(bitte detailliert angeben)?

12. Aus welchen Teilgruppen setzen sich nach Kenntnis der Bundesregierung
aktuell die Islamische Front sowie die „Südfront“ zusammen, wie ist deren
jeweilige ideologische Ausrichtung (säkular/islamistisch/dschihadistisch) zu
charakterisieren, und über wie viele bewaffnete Kämpfer verfügen diese
Gruppierungen nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit (bitte detailliert
angeben)?

13. Über wie viele bewaffnete Kämpfer verfügen nach Kenntnis der Bundesre-
gierung derzeit die von der Feuerpause sowie vom Genf-3-Prozess ausdrück-
lich ausgenommenen Terrormilizen der Al-Nusra-Front und des IS?

14. In welchem Umfang sind nach Kenntnis der Bundesregierung die syrischen
Regierungstruppen bzw. mit ihnen verbündete Kräfte nach Aufnahme der
Friedensgespräche mit der im HNC repräsentierten Opposition gegen die
Al-Nusra-Front und den IS militärisch mit welchem Ergebnis vorgegangen,
und wo lagen nach Kenntnis der Bundesregierung die räumlichen Schwer-
punkte der bewaffneten Auseinandersetzungen?

15. In welchem Umfang fanden bzw. finden nach Kenntnis der Bundesregierung
militärische Auseinandersetzungen zwischen der Al-Nusra-Front und dem IS
statt, und wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung insbesondere die aktu-
elle militärische Lagesituation zwischen beiden Konfliktparteien im südli-
chen Teil der früheren UN-Pufferzone an den Golanhöhen, wo sich die ver-
feindeten radikal-islamistischen Terrormilizen unmittelbar gegenüber ste-
hen?

16. Wie hat nach Kenntnis der Bundesregierung die türkische Regierung bislang
auf das militärische Vorrücken der von der kurdischen PYD geführten und
von den USA sowie Russland unterstützten „Syrian Democratic Forces“
(SDF) über das westliche Euphrat-Ufer (Tischrin-Staudamm) hinaus bzw.
auf die militärischen Geländegewinne der SDF des kurdischen Selbstverwal-
tungskantons Afrin reagiert, und in wie vielen Fällen wurde nach Kenntnis
der Bundesregierung von kurdischen Kräften militärisch kontrolliertes Ter-
ritorium in Syrien vom türkischen Militär unter Einsatz welcher Waffensys-
teme angegriffen bzw. beschossen?

Drucksache 18/8304 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
 

17. In welchen Orten bzw. Regionen haben nach Kenntnis der Bundesregierung
die USA und Russland gegenwärtig militärische Stützpunkte in den von den
SDF militärisch kontrollierten Gebieten in Syrien eingerichtet, und wie viel
militärisches Personal ist dort jeweils zu welchen Zwecken stationiert (bitte
einzeln auflisten)?

18. Welche Position vertritt die Bundesregierung zu einer möglichen Beteiligung
von politischen Vertreterinnen und Vertretern der syrischen Kurden am
Genf-3-Verhandlungsformat (bitte mit Begründung erläutern)?

19. Wie hat nach Kenntnis der Bundesregierung die syrische Regierung auf die
Proklamation der föderalen kurdischen Region „Rojava-Nordsyrien“ inner-
halb der territorialen Integrität Syriens bislang reagiert, und welche diesbe-
züglichen Reaktionen hat es nach Kenntnis der Bundesregierung ggf. auch
auf Seiten der türkischen Regierung dazu gegeben (bitte erläutern)?

20. Welche syrischen Konfliktparteien sind nach Kenntnis der Bundesregierung
in die aktuellen Kämpfe in und um Aleppo verwickelt, und in welchem Um-
fang sind die dortige Zivilbevölkerung bzw. die in den Flüchtlingslagern der
Region lebenden Menschen durch diese Kämpfe gefährdet?

21. Welche zehn syrischen Oppositionsgruppen haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung die aktuelle Erklärung unterzeichnet, in der sie eine neue mili-
tärische Offensive gegen die syrischen Regierungstruppen ankündigen, und
wie hat es sich bislang ausgewirkt, dass die vom Chefunterhändler der im
HNC repräsentierten Opposition, Mohammed Allusch, geführte Gruppie-
rung Jaysh al-Islam offenbar zu den Mitunterzeichnern gehört und damit
möglicherweise dauerhaft aus den Genf-3-Verhandlungen aussteigen könnte
(vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-rebellen-kuendigen-offensive-gegen-
armee-an-a-1087712.html, abgerufen am 20. April 2016; bitte erläutern)?

22. Welche Schritte hat die Bundesregierung bislang unternommen bzw.
gedenkt sie zu unternehmen, um ein mögliches Auseinanderbrechen des
Genf-3-Verhandlungsformats sowie ein vorläufiges Scheitern der Friedens-
verhandlungen abzuwenden, und mit welchen Partnern stimmt sie sich in
dieser Frage ab (bitte erläutern)?

Berlin, den 29. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.